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(UA) Die Schilf-Straßenbahn von Odessa (Bilder, Video)

geschrieben von: worldtradesurfer

Datum: 09.02.19 10:23

Hallo an alle Straßenbahnfreunde und Osteuropa-Interessierten hier im Forum,

heute stelle ich Euch eine ganz besondere Straßenbahnlinie vor. Obwohl der große Straßenbahnbetrieb in Odessa sehr alt und bekannt ist, wird über seine schönste und abenteuerlichste Strecke hier im Forum fast gar nichts berichtet. Grund genug für mich mal wieder einen Bildbeitrag zu verfassen. Die meisten Bilder sind aus Filmszenen entnommen und entsprechen daher nicht den Erwartungen von „Straßenbahn im richtigen Sonnenstand“ Freunden.
Eher ist dieser Beitrag als Streckenportrait gedacht und soll zu einem Besuch anregen.


Straßenbahnen fahren in der Regel auf Straßen durch die Städte, sie können aber auch neben den Straßen, durch Wälder, durch Berge oder durch Tunnel fahren. So wie man es in Europa überall finden kann. Das sie aber auch durch ein dicht mit Schilf bewachsenes Moor fahren kann, ist in unseren Kreisen ziemlich unbekannt. Und genau das ist der Fall bei der Straßenbahnlinie 20 in Odessa.

Vor vielen Jahren fand ich mal einen Film auf youtube, auf denen ein Tatrawagen sich mitten durch eine Schilf-bewachsene und halb überflutete Strecke kämpfte. Seitdem stand diese Linie, so sie denn noch fährt, auf meiner Wunsch-Reiseliste.

Im September 2018 war es dann soweit. Auf einer großen Rundreise durch Polen, Rumänien, Moldawien und der Ukraine machte ich drei Tage Station in der berühmten Hafenstadt Odessa.
Und dann war ich plötzlich mittenderin im Schilfmoor-Abenteuer.

Die Schilfstraßenbahn von Odessa. Linie 20.

Zunächst erst einmal zur genauen Lage dieser Linie. Die Linie 20 ist eine Radiallinie die am nördlichen Rand des Zentrums beginnt und nach nordwesten in typische kleine Vorortsiedlungen fährt.Viel grün, einzeln stehende Häuser und staubige Plattenpisten für den Individualverkehr.

Auf folgender Karte seht ihr die genaue Lage der Strecke (Gelb):
https://s16.directupload.net/images/190209/e6jtxq43.jpg

Die Linie 20 ist sieben Kilometer lang und komplett zweigleisig. Man erkennt auf dem Satellitenbild das große schilfige Moor sehr gut. An dessen Rand kämpfen sich die Bahnen über ihre Strecke.
https://s16.directupload.net/images/190209/5nubtcx3.jpg

Ein Blick in die Geschichte der Linie ist ziemlich interessant. Die im Internet zur Verfügung stehenden Quellen dieser Linie sind allerdings sehr rar. Aber ein paar Daten und Fakten lassen sich finden.
Die Erste Straßenbahn in der Innenstadt von Odessa verkehrte als Pferdebahn ab dem Jahr 1880.
Unsere Schilflinie wurde bereits drei Jahre später im Jahr 1883 eröffnet. Als Dampfbetriebene Straßenbahn! Die Strecke war im Norden damals noch 2,5 Kilometer länger als die heutige Linie.
Im Jahr 1889 gesellte sich am landwärtigen Ende eine privat betriebene vier Kilometer lange elektrische Straßenbahn (oder Pferdebahn? Oder Dampfbetrieben?) hinzu, die bis in den Ort Velyka Balka verkehrte.
Alle Linien wurden in Meterspur von einer belgischen Gesellschaft errichtet.
Irgendwann um 1910-1912 wurde die Linie dann elektrifiziert.

In der Zeit ab der Revolution war die Bahn von 1917 bis 1924 außer Betrieb.

Irgendwo im Zeitraum zwischen 1920-1950 wurde die Aussenstrecke nach Velyka Balka stillgelegt und die heutige Linie 20 auf ihren heutigen Endpunkt an der Mündung des Khadzhibey-Sees verkürzt. Grund dafür war der Bau eines Dammes, der den Spiegel des Sees ansteigen lies. Die ehemaligen Strecken wurden damit überflutet.
Im Jahr 1961 wurde die Strecke der Linie 20 von Meterspur auf die übliche russische Breistspur verbreitert. (Die Umspurungsfase in Odessa dauerte sehr lange von 1934-1971)
Seit dem Jahr 1986 bis heute wird die Linie ausschließlich mit Tatra T3 Straßenbahnen befahren.

Auf der folgenden Karte seht ihr die ursprünglichen Streckenverläufe der Linie.
(Gelb) heutige bestehende Strecke.
(helles Orange) ursprüngliche Strecke
(dunkles Orange) privater Inselbetrieb als Anschlußlinie (Dampf, elektrisch oder Pferd?)
https://s16.directupload.net/images/190209/jwgm8yb7.jpg

Beginnen wir nun am stadtseitigen Endpunkt der Linie 20, am Khersonskyy skver.
In einer großen Schleifenanlage kann man aus den Innenstadtlinien zur Radialline 20 umsteigen.

https://s16.directupload.net/images/190209/uzmc287z.jpg
Khersonskyy skver. Im Vordergrund Linie 12 in Richtung Innenstadt, Im Hintergrund auf dem Innengleis wartet der „Schilf-Express“ zur Abendlichen Abfahrt.

https://s16.directupload.net/images/190209/8p9qjuut.jpg
Khersonskyy skver. Kurz nach Abfahrt bzw wie hier im Bild bei der Ankunft durchfahren die Bahnen einen kurzen Tunnel mit einer Gleisverschlingung unter den Eisenbahngleisen, die hinunter zum Hafen führen.
Von diesem Platz vor dem Tunnel existieren mehrere historische Aufnahmen. Auch die Dampfstraßenbahn passierte den Tunnel. Der Tunnel im Hintergrund wird hier durch die Bahn selbst verdeckt.

Die ersten zwei Kilometer der Linie führen kurvenreich durch ein Industrieviertel, das zwar in Betrieb ist, aber sehr zerfallen ist. Ich habe diesen ersten Streckenabschnitt nicht dokumentiert, da ich die Zeit lieber für den Schilfabschnitt verwenden wollte. Strecken duch verfallene Industrieviertel gibt es sowieso genug im gesamten Gebiet der ehemaligen Sowjetunion und wurden genügend bebildert.
Nur eins wäre noch wichtig. Bis ca. 1993 existierte nach den ersten zwei Kilometern der Strecke eine Wendeschleife, die befahren werden konnte wenn der Schilfabschnitt überschwemmt oder vereist war. Dann konnte zumindest das Industrieviertel noch angebunden werden. Die Wendeschleife wurde aber demontiert und somit fällt die gesamte Linie aus wenn es Überschwemmungen gibt.

Und nun geht es los. Mit dem Schilf-Express der Linie 20 von Odessa!. Die Linie wird im 27-28 Minutentakt von zwei Solo T3 Tatrawagen bedient. Als Überaschung an meinem Besuchstag verkehrten sogar noch zwei Beschleunigerwagen! Denn normalerweise bekamen alle anderen Tatrawagen in Odessa eine elektrische Modernisierung mit neuer Steuerung verpasst.

https://s16.directupload.net/images/190209/bpfsrfsp.jpg
Gut besetzt schwankt der Schilf-Express durch das Moor und befördert Pendler, Schüler und alles was raus aus der Stadt will,

https://s16.directupload.net/images/190209/zov6pyte.jpg
Und schon peitscht der Namensgeber der Linie unaufhörlich am Fenster vorbei. Hinauslehnen ist nicht empfehlenswert!

https://s16.directupload.net/images/190209/6b2x5szk.jpg
Aber auch wenn man brav auf den Tatra Plasteschalen sitzt, dann rieselt unaufhörlich Biomasse auf den Fahrgast ein. Hier am Beispiel meines Vordermanns.

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Das Fahpersonal schaut buchstäblich in die „grüne Hölle“.

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Es gibt zwar offizielle Haltestellen auf der Linie, aber immer wieder wird nach Wunsch dazwischen gehalten. Zum Teil an den unmöglichsten Stellen.

https://s16.directupload.net/images/190209/chl8r22u.jpg
Fünf Kilomer lang geht es durch diese „Schilfgassen“

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Es war äußerst beschwehrlich die Strecke abzuwandern. Unter dem Grasteppich gab es überall versteckt Wasserlöcher. Immer wieder versanken nicht nur die Gleise darin sondern auch meine Füsse.

https://s16.directupload.net/images/190209/ojn6rqog.jpg
Auch die Bahnen müssen so manche Löcher „überspringen.

An meinem Besuchstag verkehrten zwei Tatra T3SU mit ihrer originalen Beschleunigersteuerung.
Einer in Vollwerbung und der andere in den neuen Hausfarben des Betriebes die nichts anderes sind als die Stadtfarben von Odessas Stadtwappen Rot-Weis-Gelb.
Leider habe ich die Ära der Tatratypischen Rot-Elfenbein Lackierung in Odessa knapp verpasst. Alle Wagen wurden mittlerweile umlackiert oder tragen Vollwerbung.

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https://s16.directupload.net/images/190209/48p4q9kn.jpg

Zu den Haltestellen: Es gibt auf dem Schilfabschnitt acht Haltestellen, die mehr oder weniger gut zu erkennen sind. Meist sind sie total eingewachsen.

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Diese Haltestelle trägt den klangvollen Namen: "5. Station der Hadjibei Straße". Die Hadjibei Straße ist nichts weiter als ein parallel zu den Gleisen liegender Plattenweg.

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Die einheimische Straßenbahnliteratur weist immer wieder auf die letzten historischen Wartehäuschen Odessas hin. Diese stammen noch von der belgischen Gesellschaft, die einst die Dampfstraßenbahn aufgebaut hat!

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Diese Haltestelle am Bahnübergang der Hadzhibey Straße ist eine weitere mit den noch vier existierenden alten Wartehallen. Diese belgischen Wartehallen stehen nur noch an der Linie 20. Sie standen ursprüngllich im Gesamten Stadtgebiet von Odessa. Die letzten Exemplare haben dort noch bis in die 90iger Jahre überlebt, bevor sie jedoch abgerissen wurden.

https://s16.directupload.net/images/190209/nh59h3uw.jpg
Es dürfte schon längst zu spät sein für die Rettung der letzten Exemplare dieser Bauart.

https://s16.directupload.net/images/190209/k8cjvo9e.jpg
Der einstige Glanz aus der Blütezeit der Straßenbahnen ist bei diesem Anblick nur noch zu erahnen.

https://s16.directupload.net/images/190209/nybkwtxl.jpg
Indessen kämpft sich die nächste Fahrt durch die grüne Hölle...

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...und entschwindet wieder im Schilf.

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In 28 Minuten rollt hier die nächste Bahn darüber.

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Diese Haltestelle (Hladkova Straße) kommt ganz ohne Mobiliar aus. Man kann sich ja zur Not an den Mast anlehnen.

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Das Fahrgastaufkommen ist hier sehr übersichtlich

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So mancher Schilfhalm steht besser in Reihe als diese Oberleitungsmasten. Aber wenn man sieht in welchem Morast sie stecken, dann ist das nachvollziehbar.

https://s16.directupload.net/images/190209/q47om8xa.jpg
Noch einmal Haltestelle Hladkova Straße. Vermutlich sorgt die Oberleitung dafür, das der Mast nicht umfällt ;-)

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Den Streckenfreischnitt übernehmen die Bahnen selbst alle 28 Minuten.

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Nach getaner Heckenschneidarbeit kehrt wieder Ruhe ein.

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Als zusätzlichen Streckenservice sorgt immer mal wieder ein Bauer mit seiner Herde für den nötigen Streckenfreischnitt von Vegetation.

https://s16.directupload.net/images/190209/6fyhtjtp.jpg
Ob der Hirte für diesen Service vom Verkehrsbetrieb entlohnt wird? ;-)

https://s16.directupload.net/images/190209/frrdw36b.jpg
Nein, das ist kein stillgelegtes Gleis, sondern wird alle 28 Minuten stadteinwärts von einem „Schilfexpress“ befahren.

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Der nächste Schilfexpress schaukelt vorbei.

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Das Fahrerpult eines der beiden Kurse. Die Kollegin dieses Kurses war sehr nett und fand es sehr lustig das jemand aus Deutschland angereist ist um diese Strecke zu Besuchen.

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Da auf der Linie 20 keine Bilettverkäufer im Wagen mitfahren, kassiert der Fahrer beim Aussteigen das Fahrgeld. Dieses wird dann einfach wo es gerade passt gelagert.

https://s16.directupload.net/images/190209/yy6flkti.jpg
Bei der ganzen Schaukelei durchs Schilf schaukelt auch so mancher Farbrest an der Decke des Wagens über dem Fahrer mit.

https://s16.directupload.net/images/190209/by9z598o.jpg
Warum sollte es den Fahrgästen besser gehen als dem Fahrpersonal?

https://s16.directupload.net/images/190209/txbdleml.jpg
Tatra T3SU Komfort vom feinsten.

https://s15.directupload.net/images/190217/68r2bmwd.jpg
Der nächste Kurs wühlt sich durchs Schilf.

https://s16.directupload.net/images/190209/i4dfsogm.jpg
Die Fahrtzeiten und Takte der Linie 20. Die Intervalle wurden recht gut eingehalten. Jedoch ist es für den Fahrgast nicht ersichtlich, wann die nächste Bahn denn nun wirklich kommt. So wie übrigens fast überall im ehemaligen Sowjetgebiet.

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Aus der Fahrerperspektive ist die Strecke mit ihren vielen kleinen wilden Übergängen sehr unübersichtlich. Doch in der Regel hört man die Bahnen schon von weitem daherrattern.

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An manchen Haltestellen muss man sich als Fahrgast zum warten mitten aufs Gleis stellen, damit man vom Fahrpersonal auch wirklich gesehen und mitgenommen wird.

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Auch an solchen Übergängen wird oft und gerne nach Bedarf gehalten um den Anwohnern einen kurzen Weg zu ihren Häusern zu ermöglichen.

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Haltestellen-Stillleben.

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Stolz wächst der Namensgeber dieser Strecke und bildet eine dichte Wand die den Blick auf das Schilfmoor versperren.

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Die nächste landwärtige Fahrt passiert das Dickicht.

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Stadteinwärts kurz nach Sonnenuntergang.

https://s16.directupload.net/images/190209/2cvf68r9.jpg
Zum Beitragabschluss noch ein paar Bilder von der landwärtigen Endschleife der Strecke mit dem Namen Khadzhybeiskyi lyman. (Khadzhybey-Mündung).
Im Hintergrund führt die Straße über den erichteten Damm, der den Seespiegel steigen lies und die ursprünglichen längeren Strecken überflutete.

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Auch an der Endstation Khadzhybey-Mündung steht ein altes Wartehäuschen der belgischen Straßenbahngesellschaft.

https://s16.directupload.net/images/190209/fcviz626.jpg

Ein schöner Spätsommernachmittag neigt sich dem Ende.
Mit dem Besuch der Schilflinie habe ich mir einen lang gehegten Wunsch erfüllt. Es hat sich gelohnt und ein Besuch kann sehr empfohlen werden! Man weiß nie wie lange es diese Strecke noch geben wird.


Natürlich habe ich auch wieder einen Film zusammengeschnitten den ich hier einfüge.

Quelle: YouTube


Ich hoffe das dieser Beitrag für Euch interessant war. Mal sehen wann es ein DSO-Mitglied hier her verschlägt. Osessa-Trambilder gab es immer wmal wieder hier. Aber bis zu dieser Strecke ist offenbar noch keiner vorgedrungen. ;-)

Ein schönes Wochenende wünscht Euch
worldtradesurfer

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