Liebe HiFo-Freunde,
entgegen meiner bisherigen Gepflogenheit ist der Gegenstand meines heutigen Berichts etwas ziemlich Modernes. Ich musste selbst ein paarmal nachsehen, ob der zeitliche Abstand stimmt: ja, das Roll-out des ersten „Talent“-Triebwagens war am 4.3.1996, und das ist genau 20 Jahre her! Ich war als „rasender Lokalreporter“ für die vom Fahrgastverband PRO BAHN Rhein-Sieg und ein paar anderen Initiativen herausgegebenen Zeitschrift „nachrichtenblatt – Informationen zur Verkehrspolitik im Rheinland“ vor Ort in Aachen. Da Non-Profit-Zeitschriften zu solchen „Events“ normalerweise keine Einladungen erhalten, hatte ich meine beruflichen Kontakte zu Bombardier-Talbot genutzt und mich mehr oder weniger selbst eingeladen. Es ist das einzige „Roll-out“ geblieben, bei dem ich zugegen war.
Zunächst wurden in der Werkshalle Reden geschwungen; ich meine, der damalige Werkdirektor Stiefel berichtete über die Perspektiven von Talbot im Bombardier-Konzern, danach ein Mitarbeiter über Technik und Design des „Talent“. Schließlich gab es eine Laser-Show – und dazu fuhr der neue Triebwagen durch die im Tor aufgespannte Plane
in die Halle. Dies war also eher ein „Roll-in“ als ein „Roll-out“; das hatte ich übrigens längst vergessen und erst für die Vorbereitung zu diesem Beitrag in meinem damaligen „nachrichtenblatt“-Artikel wieder nachgelesen.
Erst danach gab es dann das „Roll-out“: der Triebwagen fuhr durch die bereits zerrissene Plane wieder ins Freie, was ich mit meinem ersten Bild des Tages festgehalten habe, s. Bild 1.
Bild 1
Die Halle, aus der das Fahrzeug rollte, hieß gemäß Aufschrift „Kreta-Halle“. Ob die in Erinnerung an einen Urlaub eines früheren Werkdirektors so hieß? Jedenfalls hieß eine andere Halle „Tannhäuser-Halle“ und war gemäß [
www.rheinische-industriekultur.de] von einem Werkdirektor in Erinnerung an einen Opernabend so getauft worden.
Bild 2
Bild 2 zeigt den Zug, nachdem er ein Stück weiter aus der Halle gefahren war, so dass er bis kurz hinters Gelenk zu sehen ist. Er fuhr noch ein Stück weiter und wurde dann geparkt, damit die Fotografen erstmal zuschlagen konnten. Ich habe zu dem „Talent“ den Doppelstock-Triebwagen für die Niederländischen Staatsbahnen mit ins Bild genommen, s. Bild 3, rechts.
Bild 3
Im Jahr 1996 waren die Zeiten vorbei, in denen Talbot „Hoflieferant“ der Niederländischen Staatsbahnen war. Aber immerhin gab es noch Aufträge von da, wie man sieht.
Im weiteren Verlauf der Veranstaltung ist der „Talent“-Prototyp weiter durch das Werksgelände gefahren, und in anderer Umgebung gab es erneut Gelegenheit für ein Foto, s. Bild 4.
Bild 4
Auf dem Bild ist die Aufteilung des Fahrzeugs ganz gut zu erkennen: vorne und hinten die hochflurigen Bereiche über den Dieselmotoren bzw. „Powerpacks“; die Einstiegsräume sowie der Bereich dazwischen (einschließlich Gelenk) sind niederflurig ausgeführt, eine Aufteilung, die auch das Innere des Fahrzeugs recht „aufgeräumt“ aussehen lässt – im Gegensatz zu manchem Konkurrenzfahrzeug.
Zu Innenaufnahmen bin ich aber erst nach der Vorführfahrt gekommen, nachdem das Fahrzeug – vorübergehend – wieder die Parkposition in der „Kreta-Halle“ eingenommen hatte, s. Bild 5.
Bild 5
Was auf dem Foto nicht zweifelsfrei zu erkennen ist, mich damals aber sehr beeindruckt hatte, war die Tatsache, dass die Sitze im Interesse einer einfachen Fußbodenreinigung ausschließlich in einer Schiene an den Seitenwänden aufgehängt waren. Beim Prototyp war damit die Möglichkeit gegeben, mit wenigen Handgriffen die Sitze auf engen Raum zusammenzuschieben, so dass nach Bedarf temporär ein größerer Mehrzweckraum geschaffen werden konnte. Vielleicht wäre das die Lösung gewesen für die Kapazitätsprobleme, die DB Regio aktuell an vielleicht 10 Wochenendtagen im Sommer mit dem Fahrradmitnahme von Köln in die Eifel hat. Nach meiner Erinnerung waren die Sitze bequemer als bei den späteren Serienzügen BR 644 – da gehört bekanntlich auch nicht viel dazu!
Ich bin mir nicht ganz sicher, glaube aber, dass der Prototyp keine Toilette besaß. Ich weiß aber, dass ich mir während der ersten Ausschreibung des Kölner Dieselnetzes als PRO BAHN-Aktiver die Finger wund geschrieben habe, um die Mitglieder der Verbandsversammlung des Verkehrsverbunds Rhein-Sieg dahingehend zu beeinflussen, dass die Fahrzeuge für das Dieselnetz Toiletten bekommen. Es braucht schließlich nicht ein paar Glas Kölsch in der Altstadt – ein Kännchen Kaffee reicht, um die knapp 1 ¼ Stunden Fahrzeit nach Gummersbach oder gar 1 ¾ Stunden nach Gerolstein ohne Toilette zur Qual werden zu lassen! Es wurde mit harten Bandagen gekämpft: uns wurde der Vorwurf gemacht, mit unserer Forderung 1 – 2 Zugfahrten in Tagesrandlagen zu gefährden! Was letztlich den Ausschlag gegeben hat, weiß ich nicht; Tatsache ist, dass die „Talent“-Triebwagen der BR 644 (wie die 643) trotz teilweise S-Bahn-ähnlichem Einsatz Toiletten erhalten haben.
Nach Beendigung der Probefahrt bestand auch für mich endlich Gelegenheit, den Führerstand zu inspizieren. Bei geschlossenem Hallentor war der Standort so unattraktiv geworden, dass ich in Ruhe meine Aufnahme machen konnte, s. Bild 6.
Bild 6
Ich meine, damit war der offizielle Teil der Präsentation beendet; offenbar hat man aber für die Fotografen das Fahrzeug nochmal ins Freie gefahren, wo ich dann auch noch zweimal zum Zuge gekommen bin, zunächst mit einer Aufnahme während der Fahrt, Bild 7.
Bild 7
Bei Bild 8 habe ich die Gelegenheit genutzt, den charakteristischen Fahrzeugkopf vor einer dunklen Halle aufzunehmen. Der windschnittige Kopf, der seine Verwandtschaft zum ICE3/ICE-T-Kopf nicht leugnen kann, mag für 120 km/h Höchstgeschwindigkeit nicht unbedingt nötig gewesen sein; vielleicht ist damit sogar ein Meter von der Nutzlänge verschenkt worden – aber schön finde ich ihn schon! Außerdem zeigt die Aufnahme das charakteristische „Talent“-Fahrwerk mit der Wankstütze.
Bild 8
Damit wäre der Foto-Bericht vom „Roll-out“ abgeschlossen. Natürlich ist bei der Veranstaltung reichlich – mehr oder weniger informatives – Werbematerial verteilt worden, 2 Teile davon zeige ich hier ergänzend noch: einen Aufkleber und eine (übrigens immer noch unbenutzte) Telefonkarte – falls noch jemand weiß, was das ist.
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Beide zeigen den stilisierten Kopf des Fahrzeugs, in meinen Augen eine gelungene Darstellung eines gelungenen Fahrzeugdesigns. Wenn ich mich richtig erinnere, war dem auf dem Aufkleber zu sehenden, zweite Firmennamen „Eurorail“ keine längere Existenz vergönnt.
Ich hatte oben meinen Beitrag in der Zeitschrift „nachrichtenblatt“ erwähnt. Da es sich um eine Non-Profit-Zeitschrift handelt, darf ich ja hier wohl den Titel der damaligen Ausgabe zeigen, zumal er eine schöne Vision unseres Zeichners und Redaktions-Kollegen Dirk Stein zeigt: einen „Talent“ beim Passieren der bekannten, straßenbahnähnlichen Ortsdurchfahrt Olef auf der Strecke Kall – Hellenthal. Die Zeichnung verbindet die oberen beiden auf dem Titel rechts zu sehenden Beitragsthemen. Der „Talent“-Prototyp ist zwar tatsächlich einmal auf diese Strecke gekommen, zu einer Wiederaufnahme des 1981 eingestellten, täglichen Schienennahverkehrs im Oleftal hat es bisher nicht gereicht [
www.oleftalbahn.de]. Allerdings ist es dem unermüdlichen Einsatz der „Bahn- und Bus-Initiative im Schleidener Tal“ (BuBI) zu verdanken, dass die Strecke entgegen allen politischen Widernissen noch existiert und auf ganzer Länge befahrbar ist.
Bekanntermaßen war der Fahrzeugtyp mit 780 produzierten Triebwagen kommerziell sehr erfolgreich; bezüglich der diversen Varianten und deren Einsatzbereiche verweise ich auf [
de.wikipedia.org]. Dieser Erfolg konnte aber auf Dauer die Existenz des Bombardier-Standorts Aachen nicht sichern: im Juni 2013 war Schluss – soviel zur Perspektive von Talbot im Bombardier-Konzern, s.o. (2. Absatz). Seither versucht die Neugründung Talbot Services auf Nischenmärkten Fuß zu fassen, s. [
de.wikipedia.org].
Ob die Konstruktion des „Talent“ insgesamt so ganz makellos war, möchte ich bezweifeln. Soviel ich weiß, ist es bis heute nicht gelungen, die GFK-Außenbeplankung so nachhaltig zu verkleben, dass sie im Dachbereich dauerhaft dicht ist. Außerdem hat es mehrfach Brände gegeben, z.T. mit Totalverlust des Fahrzeugs – auch dies möglicherweise die Folge von Konstruktionsfehlern im Detail. Und auch die Fenster der 644 hatten es zeitweise in sich –
Wasser nämlich, das – wie auch immer – zwischen beide Scheiben drang und zunächst zu einer Trübung führte. Wenn nichts unternommen wurde, sammelte sich das Wasser und schwappte beim Beschleunigen/Bremsen hin und her. Auch, wenn das Ganze an Aquarien erinnerte, Fische wurden da noch nicht gesichtet!
Noch ein Wort zum Verbleib des Prototyps: nach Jahren als Vorführfahrzeug ist er 2001 an die Prignitzer Eisenbahn verkauft worden, wo er die Nr. 643 07 erhalten hat. Dann verliert sich aber die Spur irgendwie, s. [
www.drehscheibe-online.de]; er soll noch Ersatzteilspender für die Aufarbeitung des PEG 643 01 gewesen sein und danach als Ruine in Neustrelitz herumgestanden haben.
Damit ich hier nicht in Verdacht gerate, Hof-Fotograf von Bombardier zu sein, zeige ich zum Abschluss noch ein Foto von einem Konkurrenzprodukt, aufgenommen wenige Tage vor dem oben beschriebenen Ereignis (zwischen 21.2. und 3.3., genaues Datum nicht mehr bekannt). Es zeigt ein Doppelpack Regio-Sprinter der Rurtalbahn auf der Fahrt von Düren nach Heimbach kurz vor dem Haltepunkt Obermaubach, übrigens in einem wunderschönen Wandergebiet.
Bild 9
Die „Regio-Sprinter“ von Siemens-DUEWAG waren rund 1 Jahr vor dem „Talent“ fertig geworden und bereits im Planeinsatz, als der „Talent“ sein Roll-out hatte. Dieser Vorsprung hat aber nicht viel geholfen: das Fahrzeug war bei weitem nicht ein solch kommerzieller Erfolg wie der „Talent“ – zu Recht, wie ich als Fahrgast meine: angesichts fast nicht existierender Schallisolierung hätte die Rurtalbahn Ohrschützer als Dreingabe zu den Tickets verteilen müssen! Nun, von der eigentlichen Rurtalbahn-Strecke Düren – Heimbach sind die „Regio-Sprinter“ verschwunden; da verkehren jetzt „Regio-Shuttle“, die im Fahrverhalten weitaus Fahrgast-freundlicher sind.
Ich hoffe, ich habe mit diesem Ausflug ins Moderne niemanden abgeschreckt – und auch nicht mit meinen Meinungsäußerungen als PRO BAHNer! Wir sollten nicht vergessen, dass die Bahn primär für Fahrgäste (und für Güter) da ist!
Gruß
Klaus