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Ein Wolkenkratzer auf Rädern – Die Turmtriebwagen der BR 704 (Teil 1)
Als Nachfolger für die fast 20 Jahre lang gebauten Turmtriebwagen der Baureihen 701/702 entwickelte die Deutsche Bundesbahn (DB) Mitte der siebziger Jahre deren Nachfolger, die Baureihe 704. Für die in Planung befindlichen Neubaustrecken waren die zweiachsigen, auf Basis der Schienenbusse der Baureihe 798 entstandenen Regelturmtriebwagen mit 90 km/h Höchstgeschwindigkeit zu langsam. Als Vorgabe seitens der DB galt eine Höchstgeschwindigkeit von 140 km/h, auf 5 ‰ Steigungen sollten mit Anhängelast noch 100 km/h erreicht werden können.
1974 hatte die Schienenfahrzeugindustrie gerade die ersten Triebwagen der Baureihe 627.0 abgeliefert, die eine gute Basis für die neu zu entwickelnden Turmtriebwagen darstellten. Als Wagenkasten kam eine geschweißte Stahlgerippekonstruktion zum Zuge, auf die die mittragenden Verkelidungsbleche aufgeschweißt wurden. Die Turmtriebwagen waren, im Gegensatz zur Baureihe 627.0, von Anfang an mit konventionellen Zug- und Stoßvorrichtungen ausgerüstet, ließen sich jedoch auch auf die UIC-Mittelpufferkupplung umrüsten. Zwecks einer guten Schallisolierung erhielten die Wände eine besondere Beschichtung und wurden die Aggregate unter dem Fahrzeugboden elastisch aufgehängt.
Bild 01: Am 23. März 1983 verlassen 627 001 und 627 002 Kempten Hbf. Die 627.0 waren anfangs mit einer Scharfenbergkupplung ausgerüstet:
Die Führerräume sind weitgehend mit denen der 627.0 identisch, wurden aber um einige Armaturen ergänzt, wie z.B. einer Anzeigeeinrichtung für die Fahrdrahtspannung. Es schließt auf der Stromabnehmerseite der 10 qm große, mit einer Küche ausgestattete Aufenthaltsraum für die Mannschaften an. Von dort erfolgt der Zugang zu einem Waschraum, der zwar mit einem Waschbecken ausgerüstet ist, nicht jedoch mit einem WC. Unter dem Dach ist ein 140 Liter fassender, von außen zu füllender Wasserbehälter untergebracht. Es folgt der 36 qm große Werkstattraum. Hier befindet sich an der Wand zum Aufenthaltsraum der Ausguck für die Fahrleitungsbeobachtung. Unter dessen Podest ist der schallisolierte 1-Zylinder KHD-Dieselmotor für den Antrieb des Generators des Wechselstrom-Bordnetzes untergebracht. Der Werkstattraum ist mit allen nötigen Ausrüstungsgegenständen, wie z.B. Werkbank, Bohrständer, Stauraum für Fahrleitungsinstandsetzungsutensilien, Kabeltrommeln, Flaschenzügen etc., ausgerüstet. Zwischen den gegenüberliegenden vierflügeligen Ladetüren ist ein nach beiden Seiten verschiebbarer Ladekran eingebaut, mit dem schweres Gerät bewegt werden kann. Dieser quer zur Fahrzeuglängsachse angebrachte Kran besitzt eine Tragfähigkeit von 300 kg und steht in ausgeschobenen Zustand 80 cm über die Fahrzeugumgrenzung hinaus. An den Werkstattraum schließt sich der zweite Führerstand an.
Das Dach ist über eine Luke aus dem Werkstattraum zugänglich. Es ist auf seiner gesammten Länge mit Gitterrosten versehen. Die Arbeitsbühne mißt 5.700 mm x 1.600 mm und kann um 2.000 mm nach oben ausgefahren werden. Sie ist hydraulisch um 90º und manuell um 100º seitlich ausschwenkbar. Die Hub- und Senkbewegungen sowie das Schwenken der Bühne, das Aufrichten und Absenken sowie das Aus- und Einfahren der motorisch betätigten Steigleiter sind von der Arbeitsbühne aus steuerbar.
Bild 02: Am 02. Juni 1983 sind in Osnabrück Hbf Po Fahrleitungsarbeiten durchzuführen. Hier sehen wir den Osnabrücker 704 003 (MBB 9040/1978, Achsfolge
B'B', Leitung 2 x 287 kW, LüP 23.400 mm. Gewicht 46,4 to, HG 140 km/h) mit ausgefahrener und seitlich verschwenkter Arbeitsbühne in Osnabrück Hbf Po:
Bild 03: Am 23. April 1978 fand in Osnabrück auf dem Freigelände zwischen der Güterabfertigung und der Bahnmeisterei eine Leistungsschau statt.
Auf ihr präsentierte die DB u.a. den nagelneuen 704 003 (Abn.: 09. März 1978) auf dem Ausstellungsgelände der interessierten Öffentlichkeit:
Bild 04: Die Steigleiter ließ sich zwölf Meter hoch ausfahren, so dass
sich eine nutzbare Arbeitshöhe von knapp achtzehn Metern ergab:
An den Wagenlängsseiten sorgten je vier Leuchtstoffröhren für eine ausreichende Beleuchtung. Hinzu kamen zwei Scheinwerfer auf dem Dach über den Führerständen, mittels derer jeweils der Nah- und Fernbereich manuell ausgeleuchtet werden konnte. Ein weiterer Scheinwerfer befand sich an der Beobachtungskanzel und konnte aus dem Inneren des Fahrzeuges gesteuert werden.
Bild 5: Auf diesem Foto des 704 003 vom 22. Oktober 1982 in Osnabrück Hbf Po ist der Scheinwerfer vor der Kanzel deutlich auszumachen:
Komplettiert wurde die Dachausrüstung durch die Antennen für den Zugbahnfunk, dem Kraftfahrzeugfunk und einem Oberspannungswandler. Die Stromversorgung erfolgt durch zwei 110 Volt (V) Lichtanlaßmaschinen mit einer Leistung von 12 kW. Bei Stillstand des Motors wird das Bordnetz von neun 12 V Batterien, 110 V, 204 Amperestunden (Ah) gespeist. Die Elektronik wurde mittels einem 15 V Gleichstrom-Hilfsnetz versorgt. Ein Elektroaggregat mit 8 kVA und 220/380 V Wechselstrom diente der Versorgung der elektrischen Werkzeuge und sonstiger Geräte. Ein Ortsnetzanschluss für 220 V mit Batterieladegerät ist vorhanden. Die Fahrzeuge waren mit Indusi, Sifa, Zugbahnfunk und Wechselsprechanlage ausgerüstet.
Als Antrieb dienten zunächst zwei Zwölfzylindermotoren von Klöckner-Humboldt-Deutz (KHD), Typ BF 12 L 413, mit je 287 kW. Als Getriebe kamen hydraulische Getriebe vom Typ Voith T 320r mit zwei Wandlergängen zum Einbau. Die Kraftübertragung zu dem jeweils nächstliegendem Drehgestell erfolgte mittels Gelenkwelle. Die Getriebe sind mit einer Wandlerteilfüllungseinrichtung versehen, die ein stufenloses Einregeln der gewünschten Geschwindigkeit im unteren Geschwindigkeitsbereich von 5 bis 10 km/h ermöglicht. Die Fahrzeuge 704 002 und 005 wurden versuchsweise mit einer hydrodynamischen Bremse ausgerüstet, um auch auf Steilstrecken eingesetzt werden zu können. Zudem befindet sich in jedem Führerstand auf der linken Seite ein Handbremsrad. Als Zugbremse wird eine indirekt wirkende lastabhängige Druckluft-Scheibenbremse verwendet. Ein elektronischer Gleitschutzregler wirkt getrennt auf jedes Drehgestell.
Die luftgefederten Drehgestelle entsprechen jenen der Baureihe 627.0, sind aufgrund der höheren Last des Fahrzeuges jedoch verstärkt ausgeführt. Diese sind mit einer modifizierten 3-Punktabstützung ausgerüstet, bei Arbeiten auf der Arbeitsbühne liegt der Wagenkasten auf den Notfedern auf. Der Achsstand im Drehgestell beträgt 1.900 mm.
Das erste der fünf Fahrzeuge, der 704 001 wurde am 30. Dezember 1977 an die DB abgliefert, als letztes der 704 005 am 26. Juni 1978:
704 001 (MBB 9038/1977) 30.12.1977 Erstbeheimatung: Bw Nürnberg Hbf
704 002 (MBB 9039/1978) 06.02.1978 Erstbeheimatung: Bw Karlsruhe
704 003 (MBB 9040/1978) 09.03.1978 Erstbeheimatung: Bw Osnabrück Hbf
704 004 (MBB 9041/1978) 11.04.1978 Erstbeheimatung: Bw Osnabrück Hbf
704 005 (MBB 9042/1978) 26.06.1978 Erstbeheimatung: Bw Karlsruhe
Bild 06: Helmut Philipp traf den 704 001 am 25. Mai 1979 bei den Feierlichkeiten zu „100 Jahre elektrische Eisenbahnen“ im AW München-Freimann an:
Bild 07:
Bild 08: Ebenfalls auf einer Ausstellung fotografierte Stefan Motz am 10. September 1983 den 704 002 mit angelegtem Meßstromabnehmer in Stuttgart Hbf:
Bild 09: Am 21. April 1982 fotografierte ich den 704 003 vor der Bahnpolizeiwache in Osnabrück Hbf Po:
Bild 10:
Bild 11: Obwohl auch der 704 004 bis 1986 in meiner Heimatstadt beheimatet gewesen war, habe ich von ihm nur eine einzige Aufnahme vorzuweisen. Am
27. September 1983 traf ich den Turmtriebwagen im Bww Osnabrück an. Hier befand sich die Triebwagenunterhaltung des Bw Osnabrück 1 (vorm. Bw Osn. Hbf):
Im Herbst 1986 wurde zur Verringerung von Schadstoffemissionen bei allen fünf Fahrzeugen der Baureihe 704 ein Motor gegen den schadstoffärmeren KHD Wirbelkammer-Saugmotor F 12 L 413 FW ausgetauscht, wodurch sich die Leistung der Maschinenanlage 1 auf 204 kW verringerte. Da es verstärkt zu Klagen der Bediensteten bei Arbeiten auf der Arbeitsbühne gekommen war, verlegte man neue Abgasleitungen entlang des Daches, durch die die Abgase mittels von der Arbeitsbühne aus verstellbarer elektro-pneumatischer Klappen je nach Wind- und Belüftungsverhältnissen abgelenkt werden konnten.
Bild 12: Diesen Zustand präsentiert der 704 005, den Stefan Motz am 06. Juni 2006 bei Hünfeld im Bild festhielt:
Bild 13:
Jetzt noch einige Bilder aus den ersten Jahren des 704 003 in Osnabrück, bevor es dann im zweiten Teil mit der Spezialausrüstung dieser Baureihe und ihren Einsätzen u.a. beim Bau und Betrieb der Schnellfahrstrecken weiter geht.
Bild 14: Diese Schwarzweißaufnahme vom September 1980 zeigt den 704 003 neben einer Stopfmaschine
WSM 2 vor der Bahnpolizeiwache in Osnabrück Hbf Po. Im Hintergrund das Fahrdienstleiterstellwerk Of:
Bild 15: Noch zwei Bilder des 704 003 vom 02. Juni 1983 in Osnabrück Hbf Po. Oberhalb des Turmtriebwagens sehen wir den
Eingang der damaligen DB-Kantine. Links vom Triebwagen das äußere Gleis ist der Anfang der Kluskurve, mittels der der Osna-
brücker Hauptbahnhof aus Richtung Hamburg/Bremen nach Rheine/Niederlande - oder umgekehrt - umfahren werden kann:
Bild 16: Die Güterwagen im Hintergrund befinden sich bereits im Vorbf Klus:
Bild 17: Der 704 003 kehrt am späten Nachmittag des 14. Oktober 1983 nach getaner Arbeit zurück und trifft dabei auf
die 140 619 vom Bw Osnabrück 1, die soeben Osnabrück Hbf Po durchfahren hat und nun in den Vorbf Klus einfährt:
Bild 18: Nach Änderung der Fahrtrichtung kann der Triebwagen nun auf das Gelände der Fahrleitungsmeisterei gelangen:
Bild 19: Hier trifft er am 17. November 1987 auf den 701 009. Anscheinend
wird gerade etwas umgeladen, wie das Brett zwischen den Ladetüren vermuten läßt:
Mehr dann im 2. Teil dieses Baureihenportraits.
Bis neulich – natürlich im HiFo
Rolf Köstner
Quellen:
Boldt, Arend: Bahndienstfahrzeuge (2. Auflage 2009), Lokrundschau Verlag Hamburg
DB Fahrzeuglexikon (EK-Special 30, 1993), EK Verlag, Freiburg
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www.eisenbahndienstfahrzeuge.de]: Turmtriebwagen Baureihe 704
Man hat nicht richtig gelebt, wenn man nie in einem ICE gesessen hat, der in Hamm geteilt worden ist.
Ich bin ein Boomer!
6-mal bearbeitet. Zuletzt am 2020:11:12:21:37:46.