Die etwas andere Nikolausfahrt
Mit der Bahnmeisterdraisine nach Schönow, 6. Dezember 1988
Die Vorgeschichte
Mit zu den interessantesten Werkbahnen in Berlin dürfte wohl die SIEMENS-Güterbahn gehört haben, deren Geschichte bereits anderenorts gewürdigt wurde. Besonders löblich an diesen „kleinen“ Eisenbahnbetrieben war und ist, daß sie - bei entsprechender Handlungsfreiheit ihrer Verantwortlichen - Platz für liebenswerte Schrullen bieten können. Eine derartige Narretei leistete sich die SIEMENS-Güterbahn in Gestalt ihrer Motordraisine. Für die betrieblichen Zwecke nicht unbedingt notwendig - schließlich waren akkubetriebener Turmwagen, fahrbare Leiter und weitere Nebenfahrzeuge vorhanden - befand sich das Vehikel in einem technisch hervorragenden Zustand auf dem Betriebgelände am Rohrdamm in Siemensstadt.
Keine Schrulligkeit, sondern betriebswirtschftliches Kalkül führte im Jahre 1988 zur Beendigung der eigenen Betriebsführung. Die RHENUS-Gruppe, die bekanntlich bereits im Raum Eiswerder / Gartenfeld tätig war, übernahm den Betrieb, und der Weltkonzern SIEMENS trennte sich von seiner exotischen Eisenbahn.
Zu unserem großen Glück bestand eine gute persönliche Verbindung zwischen der MKB und den maßgebenden Bereichen bei SIEMENS, und so konnte einiges aus dem Bestand der Güterbahn seinen Weg nach Schönow antreten, unter anderem ein Güterwagen und der vor einigen Jahren bei uns aufgestellte Brückenkran. Vor allem aber: Die Motordraisine sollte auch verkauft werden! Bei einer Besichtigung der zum Verkauf stehenden Stücke ging bei mir dann die vor Jahren gelegte Saat auf: Versteckt in einer finsteren Ecke der weitläufigen Anlagen, neben einer hohen Laderampe kaum auszumachen, in Froschgrün lackiert und mit gelber Rundumleuchte gekrönt, stand ER!
Fridolin!
Wir wissen gar nicht mehr, wer von uns das Wort zuerst aussprach, aber viele hatten die gleiche Assoziation. Das Ding sah aus wie ein Fridolin. Wahre Kenner klassischer Automobile wissen, wer gemeint ist. Volkswagen-Typ 147, Käfer-Fahrgestell, Kastenaufbau, kantiger Kofferraum vorne, Schiebetüren an den Seiten, eine VW-Sonderkonstruktion für den Paketdienst der Bundespost, im „zweiten Leben“ bei Freaks sehr beliebt. Angeblich sei die Bezeichnung „Fridolin“ bereits in Wolfsburg geboren, nach anderer Überlieferung erst bei der Post entstanden - wie auch immer, seitdem hieß er Fridolin.
Zwar sind unter Puristen der Eisenbahn-Szene Kosenamen verpönt, allenfalls sei „Bubikopf“ für die Dampflokomotiven der Baureihe 64 zulässig, und auch die BR 24 „Steppenpferd“ zu nennen, gehe noch an, aber alles weitere (von den aus emotional bewegenden Momenten geborenen „Dreckskarren“, „Ölschleudern“ und „Gurkenhobeln“ einmal abgesehen) sei Kinderkram. Aber seien wir doch einmal ehrlich: Wer vermag denn eine persönliche Beziehung zu einer „Bahnmeisterdraisine D 3“ oder einem „Kleinwagen mit Verbrennungsantrieb Klv 12“ einzugehen? Sicher - offiziell heißt das gute Stück ja bei uns „MKB 52“, aber seit diesem Moment an der verkrauteten Laderampe bei der SIEMENS-Güterbahn wußte ich, daß Fridolin „mein“ Patenkind bei der MKB sein würde.
Der Vorbereitungsdienst
Ein größeres Problem war nun der Transport nach Schönow. Der Güterwagen konnte - da er als lauffähig erkannt wurde - auf eigenen Rädern zu uns rollen. Der Brückenkran und die umfangreiche Werkstatt-Ausstattung ging per LKW zu uns. Warum eigentlich sollte ein Nebenfahrzeug nicht fahren? Der technische Zustand stellte kein Problem dar, denn - wie bereits oben erwähnt - war die Draisine bestens betreut worden. Gleise lagen nach unserer Kenntnis zwischen Siemensstadt und Schönow ebenfalls. Allerdings hatten wir noch kein geprüftes Personal für die Aktion, aber nach einigen kurzen Probefahrten trauten wir uns das auch noch zu.
Dank guter Verbindungen zur Deutschen Reichsbahn wurde das kaum für möglich Gehaltene tatsächlich wahr:
Wir erhielten die Zustimmung für die Überführung der Draisine nach Schönow!
Die Fahrt
Die Lauffähigkeit des Fahrzeuges wurde festgestellt:
Und dann kam dieses Fernschreiben:
Die am 28.11.1988 erlassene Fahrplananordnung 18433 lautet allgemeinverständlich übersetzt:
Am 06.12.1988 jeweils in geeigneten Zugpausen von 07.30 - 10.00 Uhr verkehrt für die Märkische Kleinbahn AG Motordraisine als Gleiskraftwagen zum Übergabebahnhof von Berlin-Ruhleben nach Lichterfelde-West wie folgt: Gleiskraftwagen verkehrt von Ruhleben auf Gütergleisen über Charlottenburg-Güterbahnhof nach Grunewald und weiter auf Ferngleisen Berlin - Potsdam bis Wannsee und weiter bis Lichterfelde-West als Rangierfahrt mit Begleitung durch Rangierleiter des Bahnhofs Wannsee zur Goerzallee.
Lapidar erscheint der Satz
„Triebfahrzeugführer stellt o.g. Firma“.
Das sind wir!
Die erste Fahrt mit MKB-eigenen Fahrzeugen!
Als Nikolausfahrt!
Auf Ferngleisen!
Echte Eisenbahn!
Es hat doch einige Zeit gedauert, bis wir das richtig verdaut hatten, und schon bald nagten auch einige Zweifel in uns. Was ist, wenn die Kiste mitten auf freier Strecke verreckt? Eine Zeitungsschlagzeile tauchte vor unserem geistigen Auge auf: „Stundenlange Verzögerungen im Eisenbahn-Transitverkehr!“ Dürfen wir überhaupt fahren? Gerne hätten wir noch einige Fahrstunden auf der SIEMENS-Güterbahn genommen. Aber jetzt galt es!
(01) Im Lokschuppen der SIEMENS-Güterbahn: Vor Fahrtantritt waren noch neue "Hoheitszeichen" anzubringen.
Von den Eisenbahnern bei Siemens wußten wir, daß die Traktion bei Glätte, auch dank fehlender Sandungseinrichtung, nicht die beste war. Da wir aber genügend Ballast in Form von Passagieren dabei hatten, sollte das nicht das Problem sein. Aber kalt war’s. Verdammt kalt, und die eine Stunde Wartezeit auf dem Güterbahnhof Ruhleben, bis sich eine „geeignete Zugpause“ öffnete, verging dank der Abwechslung zwischen Frieren, Klappern und Zittern doch recht schnell. Schließlich ist ja der Käfer-Motor auch für seine frappierende Heizleistung legendär. Aber sobald es dann rollte, war diese Begleiterscheinung vergessen. Wir fahren mit der Eisenbahn!
Kleinwagenfahren heißt vor allem: Anhalten und telefonieren!
(02) Charlottenburg Güterbahnhof, Stellwerk Chag
(03)
Unser Lotse war ganz schön beschäftigt, und wo immer unser Fridolin auftauchte, fand er Beachtung, wie hier in Berlin-Grunewald:
(04) Im Stellwerksbezirk Nob
(05)
(06)
(07) Am Stellwerk Gdr
(08)
Der Kollege vom Stellwerk Gds in Grunewald wurde, aus seinem Stellwerk hängend, von einem weiteren Rangierer mit der Bemerkung bedacht: „Du läßt wohl auf Deinem Bahnhof auch alles fahren!“.
(09)
Die schnurgerade Strecke durch den Grunewald zog sich mit 30 km/h recht lange hin, hätte - wenn es nach uns gegangen wäre - aber auch noch viel länger sein können. Im Bahnhof Wannsee mußte dann die Fahrtrichtung gewechselt werden – dank der eingebauten Hub- und Wendevorrichtung kein großes Problem!
(10) Berlin-Wannsee, am Stellwerk Wot
Nach der Weiterfahrt auf dem Gütergleis der Wannsebahn will uns die Aufsicht vom Bahnhof Lichterfelde-West foppen: Er könne uns nicht weiterfahren lassen, schließlich seien wir entgleist gewesen! Zwinkernd definiert er (wortgetreu) das Entgleisen als „Abheben der Räder über Spurkranzhöhe“ Da können wir allerdings kontern, denn diese Definition bezieht sich lediglich auf Regel- und schwere Nebenfahrzeuge, wir sind allerdings ein leichtes!
(11) Lichterfelde West
Auf der Goerzbahn stellt sich dann für uns die bange Frage, ob die Blinklichtanlage am Überweg Finckensteinallee mit ihrem Gleiskontakt überhaupt auf uns reagieren wird. Notfalls müssen wir eben den Überweg mit der Fahne absperren. Der Einschaltkontakt nimmt uns aber wahr, und mit triumphierendem Hupen queren wir die Straße. Allerdings zeigt sich der Ausschaltkontakt hinter dem Überweg als Ignorant, und so dürfte die munter weiter blinkende Anlage dazu beigetragen haben, daß einige Autofahrer am Dahlemer Weg dieses merkwürdige Fahrzeug noch lange in Erinnerung behielten...
Bekanntlich fliegt die Zeit, wenn man Spaß hat, und nach der Ankunft in unserem Heimatbahnhof (es war inzwischen schon 11.10 Uhr) wären wir mit der Kiste am liebsten umgedreht und die ganze Tour erneut gefahren, aber es änderte nichts: Wir waren angekommen.
(12) Schönow MKB
Das Betriebsbuch weist als Dienstbeginn 6.00 Uhr aus, gefahren wurden 37 unvergeßliche Kilometer.
Und hier ging's lang:
(Kartengrundlage: [
blocksignal.de] )
Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft...
Danke fürs Mitfahren!
Gruß,
Markus.
1-mal bearbeitet. Zuletzt am 2012:12:07:17:39:34.