Angeregt durch eine Diskussion im Allgemeinen Forum
zur Nutzung des "Kleinen Grenzverkehrs" BRD-DDR sowie durch die Rundreiseberichte von ABomz (
hier und
hier) möchte ich hier mal an eine heute kaum noch bekannte Episode des "Kleinen Grenzverkehrs" zwischen der DDR und der CSSR in den 1960er Jahren erinnern. Bedauerlicherweise musste ich für diesen Beitrag die Háceks entfernen, da die Forensoftware ihre Darstellung nicht zulässt.
Mitte der 1960er Jahre wurden die tschechischen Grenzbefestigungen an der Grenze zur DDR beseitigt, nachdem sie nach dem Mauerbau nicht mehr erforderlich waren, um tschechoslowakische Staatsbürger an der Flucht nach Westberlin zu hindern. (
http://cs.wikipedia.org/wiki/Varnsdorf:
"V sedesátých letech dochází k uvolnení rezimu na hranicích. Po stavbe berlínské zdi ztratil útek na území NDR smysl a tak se od dubna 1965 zacaly odstranovat drátené zátarasy na hranicích.") Die Möglichkeiten, die Grenze legal zu überschreiten, blieben aber zunächst sehr beschränkt. So war es bei alten Warnsdorfern sehr beliebt, mal mit dem Zug im privilegierten Durchgangsverkehr durch Varnsdorf zu fahren, um ihre Heimatstadt wiederzusehen. Das konnte inzwischen vergleichsweise ungestört erfolgen, es fuhren keine tschechischen Grenzer mehr mit und es wurde auch nicht mehr konsequent auf geschlossene Fenster geachtet.
Zum Passieren der Staatsgrenze benötigten Deutsche aus der DDR und Ostberlin (die DDR-Staatsbürgerschaft wurde gesetzlich erst 1967 proklamiert) zwar weder Pass noch Visum, aber eine Reiseanlage zum Personalausweis, die für selbstorganisierte Privatreisen nur unter Vorlage einer Einladung beantragt werden konnte. Ganz eigenartige Regelungen gab es zum Geldumtausch. So konnten "Angehörige der Intelligenz" höhere Beträge umtauschen, da man davon ausging, dass sie auf ihren Reisen höhere Ausgaben durch Bildungsbedürfnisse hatten. Aus heutiger Sicht mutet das ziemlich seltsam an, andererseits, Vorzugsbedingungen für "Multiplikatoren" gibt es auch heutzutage an manchen Stellen.
Für den unmittelbaren Reisebedarf gab es für alle Reisenden eine Berechtigung zum Umtausch von 32 MDN, das entsprach 10 Rubel, im Ausland. In der abgebildeten Bescheinigung ist die Übersetzung von "MDN 32,- in Noten oder Münzen" in "GM 32,- v banknotach ili monetach", die ich hier für Leser, die die kyrillischen Buchstaben nicht kennen, mal transkribiert habe. Das "GM" steht dabei für "Germanskaja Marka".
An der 454 km langen Grenze zwischen der DDR und der CSSR gab es in dieser Zeit nur die drei Straßen-Grenzübergänge Schmilka, Zinnwald und Schönberg und die beiden Eisenbahn-Grenzübergänge Bad Schandau und Bad Brambach, die Eisenbahn-Grenzübergänge Zittau und Ebersbach wurden nur für den Güterverkehr genutzt.
Für so eine Reise von Zittau (Zitava) in das 27 km entfernte Liberec (Reichenberg) wurde im Sommer 1966 im Reisebüro eine Verbindung Zittau ab 5.35 Uhr, Liberec an 13.33 Uhr mit der Bemerkung empfohlen: "Wenn Sie wieder in Zittau sind, haben Sie es bald geschafft."
Eine Fahrkarte für die Verbindung kann ich leider nicht zeigen, aber immerhin eine von Zittau nach Rumburk über Dresden - Decín. Diese wurde übrigens für eine Fahrt von Zittau nach Varnsdorf mit der Bemerkung verkauft, dass sie auch nach Varnsdorf gelten würde. Ob diese Auskunft korrekt war, weiß ich nicht. Die Fahrkarte wurde jedenfalls nicht beanstandet, eine Diskussion mit einem tschechischen Schaffner zwischen Rybniste und Varnsdorf über die Auskunft aus Zittau wäre jedenfalls schwierig geworden. Immerhin muss die Nachfrage nach dieser Verbindung so groß gewesen sein, dass es sich gelohnt hat, eine solche Serie zu drucken.
Zurück zur Fahrt von Zittau nach Liberec. Sie begann mit dem E 392. Leider habe ich kein Reichsbahn-Kursbuch aus diesem Jahr, deshalb will ich hier die entsprechende Fahrplantabelle aus dem Kursbuch der Deutschen Reichsbahn - Winterfahrplan 1967/68 zeigen, das ich aufgehoben habe, da es das letzte mit dem alten Nummernschema war.
1966 fuhr der E 392 nur bis Dresden-Neustadt, so dass ein zusätzlicher Umstieg erforderlich war. Ab Dresden Hbf war dann der Ext 154 "Hungaria", Abfahrt 8.54 Uhr, zu benutzen. Da der Hungaria-Express platzkartenpflichtig war, wurden vom Reisebüro Platzkarten bestellt und ausgestellt:
Ein Blick in die tschechischen Binnenverkehrstabellen der Fahrpläne des internationalen Verkehrs zeigt, warum vom Reisebüro die Fahrt über Zittau empfohlen wurde: Auf der direkten Strecke bestand in Decín hl.n. kein Anschluss vom Hungaria-Express nach Liberec, so dass die günstigste Verbindung nach Liberec mit dem Motor-Rychlík 163 Decín hl.n. ab 10.28 Uhr bestand, der ab Varnsdorf als MOs 2626 nach Liberec durchlief, wie aus dem tschechischen Fahrplan zu ersehen war. So gab es ca. 7 Stunden nach der Abfahrt in Zittau einen kurzen Betriebshalt in Zittau, vielleicht erteilte sogar noch dieselbe Bahnsteigaufsicht wie früh den Abfahrauftrag. Schließlich war man dann 13.33 Uhr in Liberec.
Am 28. April 1967 wurde der Weg von Zittau nach Reichenberg durch die Eröffnung des Straßen-Grenzübergangs Seifhennersdorf wesentlich verkürzt, zugleich wurden die Reiseformalitäten durch Einführung eines "Kleinen Grenzverkehrs" drastisch erleichtert. Dazu gab es in der Sächsischen Zeitung am 28. und 29. April 1967 jeweils einen kurzen Bericht auf der Seite 2:
Ergänzend berichtete die Sächsische Zeitung am 29. April 1967 auf der Kreisseite Zittau unter der Überschrift
"Wenige Stunden vor dem 1. Mai - Grenzübergang eröffnet - Großartiges Ergebnis des Freundschaftsvertrages DDR-CSSR" u.a.:
"Für die Bürger unseres Kreises wird gegen Vorlage des Personalausweises ein Tages- oder Zweitagespassierschein im Rathaus Seifhennersdorf (täglich 6 bis 20 Uhr) ausgestellt. Die Deutsche Notenbank wechselt an gleicher Stelle Mark der Deutschen Notenbank in Kronen. Darüber hinaus stellt das VPKA Zittau zu den bekannten Sprechzeiten Passierscheine aus."
Im Artikel
Varnsdorf der tschechischen Wikipedia wird behauptet, dass der damalige tschechoslowakische Partei- und Staatschef Novotný an der Eröffnung des Grenzüberganges teilgenommen hat:
"V roce 1967 byl otevren hranicní prechod do Nemecka, Otevrení hranicního prechodu se zúcastnil prezident Antonín Novotný." Das wäre in den Berichten der DDR-Presse von der Grenzöffnung mit Sicherheit erwähnt worden. Nach dem Artikel
Sluknovský výbezek soll das am 3. März 1967 gewesen sein:
"V padesátých letech nebyl ve výbezku zádný hranicní prechod, první byl otevren az v roce 1967, hranicní prechod Varnsdorf - Seifhennersdorf. Pri prílezitosti jeho otevrení navstívil a oslav 20. výrocí Varnsdorfské stávky se zúcastnil ve Varnsdorfu 3. brezna 1967 tehdejsí prezident Antonín Novotný."
Am 3. März 1967 waren zwar die Grenzübergangsanlagen auf tschechischer Seite schon seit ca. einem Jahr fertig, auf DDR-Seite aber überhaupt noch nicht. Eine Grenzübergangseröffnung war da nicht möglich. Ich nehme an, dass Novotný am 3. März zu einer Veranstaltung zum 20.Jahrestag des
Varnsdorfská stávka, eines kommunistischen Streiks am 5.März 1947 (s. z.B:
C. Brenner: Zwischen Ost und West: tschechische politische Diskurse 1945-1948. München 2009, S. 216) in Warnsdorf war, dies aber nichts mit der Grenzöffnung zu tun hatte.
Für die nun mögliche Fahrt von Zittau nach Liberec kann ich Fahrkarten vom 16. Mai 1967 zeigen, nur für den letzten Abschnitt der Rückfahrt habe ich keine Fahrkarte von diesem Tag gefunden, ich zeige deshalb zwei Fahrkarten von Seifhennersdorf nach Zittau aus anderen Jahren. Die in Liberec ausgegebene Fahrkarte ist beidseitig bedruckt, das ist für Edmonsonsche Fahrkarten ziemlich ungewöhnlich.
Die Fahrt von Zittau nach Liberec begann nun um 6.43 Uhr mit dem P 2548 nach Löbau (Sachs), das war ein lokbespannter Zug und nicht wie im oben abgebildeten Fahrplan 1967/68 ein Doppeltriebwagen nach Löbau und Wilthen. Im Bahnhof Varnsdorf kam der Zug nicht zum Halt, da die Aufsicht am Bahnsteig mit gehobener Kelle bereitstand.
Varnsdorf staré nádrazí wurde wie auch heute noch ohne Halt durchfahren und Seifhennersdorf um 7.24 Uhr erreicht. Nun war ausreichend Zeit, im Seifhennersdorfer Rathaus die Reiseanlage zu erwerben und Geld zu tauschen und die gut 5 km zum Bahnhof Varnsdorf, der sich ja an der Grenze zu Großschönau befindet, zu laufen. Die deutsche und die tschechische Grenzkontrolle erfolgten damals getrennt auf dem jeweiligen Territorium. Im Bahnhof Varnsdorf wurde die Fahrkarte nach Liberec "pres Zitavu" erworben. Diese Beschriftung war für einen DDR-Bürger, der aus einem Land kam, in dem es schon fast gefährlich war, deutsche Namen für ausländische Orte zu verwenden, erstaunlich. Der oben abgebildete Fahrplan der Strecke 8p aus dem Jahresfahrplan 1966/67 galt noch, so fuhr der MOs 2624 9.05 Uhr in Varnsdorf ab. Beim Betriebshalt in Zittau, diesmal nur noch knapp 3 Stunden nach dem Start in Zittau, standen die Aufsicht und ein Grenzer am Bahnsteig. Diesmal war man nun schon 10.13 Uhr in Liberec.
Ob anfangs auf der Reiseanlage die Einschränkung für den "Kleinen Grenzverkehr" vermerkt war, ist für mich nicht rekonstruierbar. Die Papiere wurden ja bei der Wiedereinreise einbehalten. Daran, dass man so eine Reiseanlage für Sammelzwecke zusätzlich erwerben könnte, hat man damals nicht gedacht. Die eine MDN dafür wäre zu verschmerzen gewesen, auch wenn sie seinerzeit sicher eine höhere Wertigkeit hatte als die 50 DM-Pfennige bzw. 26 Cent, die inzwischen durch die beiden Währungsumstellungen aus ihr geworden wären.
Jedenfalls konnte man mit der Reiseanlage schon im Sommer 1967 in die gesamte Tschechoslowakei reisen. Am 18. August 1967 wurden in der Sächsischen Zeitung die Fragen eines Herrn May aus Strehla
"Bitte teilen Sie mir durch Post oder in der 'SZ' mit: Brauche ich für die Einreise in die CSSR noch ein Visum? Kann ich mit dem Personalausweis fahren? Wieviel Geld kann ich je Tag umtauschen und wo? Wie ist es bei Reisen in die UdSSR und nach Volkspolen? Ich war bisher noch nicht im sozialistischen Ausland, aber sicher werden auch andere ähnliche Fragen haben."
gestellt. Die Antwort gab der schon von der Rede zur Grenzübergangseröffnung bekannte
"Genosse Heinz Peter, Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes". Er verwies zunächst auf die Bedeutung der wenige Monate zuvor abgeschlossenen Verträge über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand u.a. mit der CSSR und der Volksrepublik Polen. Die dadurch eingetretene Vertiefung der Beziehungen sei
"ein wichtiger Beitrag im: gemeinsamen Kampf gegen den westdeutschen Imperialismus, gegen seine Alleinvertretungsanmaßung und revanchistischen Forderungen nach Grenzrevisionen. ...
Ein Ausdruck nun der immer engeren Freundschaft unserer Völker und des zunehmenden Wohlstandes ist der ständig wachsende Reiseverkehr zwischen unseren Staaten. Es ist deshalb nur natürlich, daß in den genannten bedeutungsvollen Verträgen auch die weitere Vertiefung der kulturellen und sportlichen Beziehungen einschließlich der Touristik aufgenommen wurde. In ihrer Verwirklichung wurde bereits am 28. April in Seifhennersdorf eine neue Grenzübergangsstelle eröffnet. ...
Nach dem neuen Abkommen zwischen der DDR und der CSSR sind Reisen über zwei Tage von den Bürgern bei der für ihren Wohnsitz zuständigen Meldestelle der Volkspolizei oder dem Volkspolizeikreisamt zu beantragen: Eine Einladung, wie das bisher üblich war, muß nicht mehr vorgelegt werden.
Eine weitere Möglichkeit sind Kurzreisen bis zu zwei Tagen in die CSSR. Sie können bei allen VP-Kreisämtern, unabhängig vom Wohnsitz des Bürgers, bei Vorlage des Personalausweises beantragt werden. Die Reiseanlage wird bei diesen Reisen sofort ausgestellt und gegen die Gebühr von 1 MDN ausgehändigt. Diese Anlage hat sechs Monate Gültigkeit; sie gilt für das gesamte Staatsgebiet der CSSR.
Zur weiteren Erleichterung für diese Kurzreisen wurden in Seifhennersdorf und Bad Schandau VP-Dienststellen eingerichtet, bei denen vor allem die Urlauber, die sich in diesen Gebieten aufhalten, Reiseanlagen erhalten können. Um jedoch längere Wartezeiten angesichts des großen Interesses für diese Reisen zu vermeiden, empfiehlt es sich, die Anlagen bei den VP-Kreisämtern ausstellen zu lassen.
Reisen in die Sowjetunion, in die VR Polen und andere sozialistische Staaten sind - unter Vorlage einer Einladung - bei der für den Wohnsitz zuständigen Meldestelle bzw. im VP-Kreisamt zu beantragen, unabhängig von der Reisedauer. ..."
Wenn man bedenkt, dass es auf der langen Strecke von Zinnwald bis Schönberg keinen einzigen Grenzübergang gab, waren die Erleichterungen nun doch nicht so großzügig, immerhin waren aber die erforderlichen Formalien in für die damaligen Verhältnisse zuvor kaum vorstellbarer Weise vereinfacht worden.
Durch das abrupte Ende des Grenzverkehrs im August 1968 hat sich eine auf Vorrat erworbene Reiseanlage aus dem Jahre 1968 erhalten:
Die Währung hieß inzwischen übrigens Mark der DDR, hier wurden nur alte Gebührenmarken aufgebraucht.
In den späten Abendstunden des 20. August 1968 marschierten sowjetische Truppen in die Tschechoslowakei ein. Die Grenzübergänge wurden zunächst ganz geschlossen, später waren dann zunächst nur Rückreisen über sie möglich. Für noch in der Tschechoslowakei befindliche DDR-Bürger war es ratsam, das Land so schnell wie möglich zu verlassen, da ja die DDR - wie wir heute wissen, unzutreffenderweise - behauptete, mit in die CSSR einmarschiert zu sein. So wurde z.B. erzählt, dass DDR-Bürgern im Restaurant Steine serviert worden sind.
Gleichzeitig mit dem Einmarsch wurde auch der Zutritt ins Grenzgebiet erschwert. Zunächst wurde nur an den Straßen zurückgewiesen, wer keinen von den Posten akzeptierten Grund für den Aufenthalt im Grenzgebiet hatte. Es war aber noch möglich, auf Nebenwegen ins Grenzgebiet zu gelangen und dieses dann legal mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu verlassen. Anstelle des privilegierten Durchgangsverkehrs wurde zwischen Großschönau und Seifhennersdorf von bewaffneten Grenzern begleiteter Schienenersatzverkehr eingerichtet.
Vom 24. August bis 23. September 1968 bestand dann ein Sperrgebiet (ca. 5-km-Zone) an der Grenze. In diesem lagen die Grenzgemeinden, aber auch z.B. der Ortsteil Eichgraben der Stadt Zittau und die Gemeinde Hainewalde. Die Regelungen waren sicherlich weit weniger einschneidend als an der Westgrenze. Als Bewohner bzw. Beschäftigte in Betrieben der Grenzgemeinden wegen irgendwelcher Zulagen, die es wohl im Sperrgebiet an der Westgrenze gab, vorstellig wurden, wurde dieses abgelehnt.
Nachdem sich die Verhältnisse stabilisiert hatten, wurde hinsichtlich der Reiseregelungen zum Stand von vor 1967 zurückgekehrt, nur dass es jetzt auch den Grenzübergang Seifhennersdorf gab. Eine dann allerdings sehr starke Erleichterung gab es am 15. Januar 1972. Von da an konnten DDR-Bürger nur mit dem Personalausweis ohne zusätzliche Papiere in die Tschechoslowakei einreisen, CSSR-Bürger durften aber umgekehrt nicht ganz so einfach aus ihrem Land ausreisen.
Für Bahnreisen nach Liberec wurde der Umweg von Zittau nach Zittau erst mit der Öffnung des Eisenbahn-Grenzübergangs Zittau für den Personenverkehr am 6. April 1977 überflüssig, zunächst allerdings nur mit zwei Verbindungen pro Tag.
Edit: Tippfehlerkorrektur
1-mal bearbeitet. Zuletzt am 2012:02:15:18:41:14.