Teil 2: Lokomotiven aus belgischer Entwicklung – die modernen Bauarten
Zunächst der Link zum
- Teil 1:
Lokomotiven aus belgischer Entwicklung - die ganz alten
Nachdem im ersten Teil unserer Beitragsserie die älteren Bauarten im Mittelpunkt standen, wollen wir heute die neueren, "modernen" Bauarten belgischer Dampfloktechnik vorstellen.
Es beginnt mit der
Reihe 7, einer 2'C Schnellzuglok von 1921, die nicht ganz zufällig ein wenig an die preußische S10.1, Bauart 1911 erinnert. Ursprünglich als Type 8 bezeichnet (bis 1925), besitzt auch die belgische Reihe 7 ein Vierzylinder- Verbundtriebwerk mit Zweiachsantrieb nach de Glehn; das heißt, die beiden außenliegenden Hochdruckzylinder arbeiten auf die zweite Treibachse, die innen liegenden Niederdruckzylinder dagegen auf die erste Treibachse. Mit 1800 mm Treibraddurchmesser waren 110 km/h möglich. Weitere Bauartmerkmale: Belpaire Stehkessel, getrennte Steuerung für ND und HD Triebwerk, A.C.F.I. Mischvorwärmer.
Eine spätere Nachrüstung (nicht bei allen Loks) ist die Kylchap Saugzuganlage, erkennbar an dem Doppelschornstein. Die
Kylchap Saugzuganlage basiert auf den Erkenntnissen des Finnen
Kylälä und des Franzosen
Chapelon über eine optimierte Strömungsmechanik im Dampf(lok)kessel. Das Funktionsprinzip besteht darin, den Abdampf aus den Zylindern in der Rauchkammer in zwei parallele Ströme aufzuteilen und durch je vier spezielle Düsen zu leiten. Dieses führt zu einer wesentlich vergrößerten Dampfstrahloberfläche, wodurch die Saugleistung, folglich auch die Feueranfachung und letztlich die Dampferzeugung enorm gesteigert werden. Mit diesem System waren viele europäischen Schnellzuglokomotiven, z.B. in Frankreich, England, Tschechien, ausgerüstet, mit einer zusätzlichen Kaminabdeckung aber bestimmt nur in Belgien.
Bild 16
Im Bahnhof Dendermonde konnte HS am 04.09.59 die
7.071 porträtieren. Die Frontbeleuchtung besteht dieses Mal aus zwei Lampen auf der Pufferbohle.
Bild 17
Die für deutsche Augen ungewohnte Technik veranlasste HS zu einer Nahansicht auf den vorderen Teil der Lok, bei der die oben erwähnten Bauartmerkmale noch einmal im Detail studiert werden können. Hier gut zu erkennen ist auch das auf dem Dampfeinströmrohr angeordnete Luftsaugeventil und unter dem Umlauf das Verbindungsrohr zwischen Hoch- und Niederdruckzylinder. Ferner bemerkenswert: Die getrennte Steuerung für Hoch- und Niederdrucktriebwerk mit zwei übereinander liegenden Steuerstangen.
Bild 18
7.067, aufgenommen am 07.09.59 im Bahnhof Bruxelles Midi, besitzt eine herkömmliche Saugzuganlage mit einem runden Kranz-Schornstein, der allerdings Belgien-typisch mit einer Kaminabdeckung versehen ist. Ein Blick auf die Frontbeleuchtung zeigt uns eine weitere Variante in der Anordnung der Lampen - da waren die Belgier wirklich sehr kreativ.
Bild 19
Auf diesem Bild ist zur Abwechslung einmal die rechte Seite der Lok zu sehen:
7.003 am 07.09.59 im Bf. Schaerbeek.
Auch diese Maschine besitzt eine Kylchap Saugzuganlage. Und auf die Beleuchtung brauche ich wohl nicht mehr extra hinzuweisen...
Bild 20
Ein knappes Jahr später fährt
7.003 HS im Bw Antwerpen Berchem erneut vor die Linse. Auch wenn das Wetter ziemlich schlecht ist, wird eine Farbaufnahme riskiert, die mit den heutigen Mitteln der elektronischen Bildbearbeitung sogar noch einigermaßen ansprechend hergerichtet werden kann. Die Art der Spitzenbeleuchtung scheint jetzt endlich ihre endgültige Ausführung erreicht zu haben. 25.06.60.
Zeitgleich mit der Reihe 7 wurden zwischen 1921 und 23 insgesamt 200 Maschinen der
Reihe 31 (bis 1931 Type 37) beschafft. Obwohl es damals in Belgien nicht weniger als 18 Lokfabriken gab, musste der Auftrag an die englische Firma Armstrong-Whitworth in Newcastle-upon-Tyne vergeben werden, da die einheimischen Fabriken nicht so schnell zu liefern in der Lage waren. Die Reihe 31 war eine technisch unspektakuläre 1'D h2 Mehrzwecklok für die auch in Belgien reichlich vorhandenen Mittelgebirgsstrecken. Auch wenn die Konstruktionsvorgaben aus Belgien kamen, ist der englische Einfluss nicht zu übersehen.
Bild 21
31.184 vor Güterzug in Aarschot, 04.09.59.
Die Schnellzugloks der
Reihe 1 zählen zweifellos zu den Höhepunkten des belgischen Lokbaus. Mit 22 t Achslast, einer Leistung von 3400 PSi und einer Höchstgeschwindigkeit von 140 km/h waren sie in der Lage, in der Ebene einen 600 t Zug mit 120 km/h oder einen 350 t Zug mit 140 km/h zu befördern. Damit nehmen sie auch im internationalen Vergleich einen Spitzenplatz ein. Die wohl gelungene äußere Gestaltung der Lok versinnbildlicht sehr schön, welch bullige Kraft in dieser Maschine steckt.
Das imposanteste Bauteil ist zweifellos der gewaltige Kessel mit einer Rostfläche von 5 m² (01.10 = 4 m²), die durch zwei Feuertüren beschickt wird. Der Kesseldruck beträgt 18 bar. Der längliche Kamin ist das sichtbare Merkmal dafür, dass der Kessel mit einer Doppel-Kylchap-Saugzuganlage ausgerüstet ist. Die großzügig bemessene Rostfläche und die moderne Saugzuanlage garantieren eine hohe Kesselleistung, die notwendig ist, um das Vierlingstriebwerk mit der notwendigen Dampfmenge zu versorgen. Denn diese Triebwerksbauart ermöglicht zwar eine gute Beschleunigung, gilt aber nicht als gerade sparsam.
Die vier Zylinder sind in einer Ebene angeordnet. Dadurch werden die Treibstangen des Innentriebwerks recht kurz und kommen nur auf eine Länge von 2000 mm (01.10 = 2050 mm). Aus Platzgründen haben die inneren Kolben keine durchgehende Stange. Wegen des breiten Stehkessel ist die Nachlaufachse in einem Außenrahmen gelagert, die Treibräder haben einen Durchmesser von 1980 mm.
Bild 22
Porträt-Aufnahme der Reihe 1 mit
1.008 im Bf Mons, 07.09.59. Die Vorbereitungen für ein Dreilicht-Spitzensignal sind bereits getroffen.
Die beiden folgenden Bilder zeigen zwar keinen belgischen Dampfer, aber mit der französischen
231E eine Super-Pacific (wenn auch nicht DIE Super-Pacific), die einen Vergleich mit der belgischen Reihe 1 geradezu herausfordert. Die 231E kam mit internationalen Zügen regelmäßig bis nach Brüssel, da die belgische Reihe mit ihren 22t Achslast in Frankreich nicht verkehren durfte (warum kommt mir dieses Thema bloß so bekannt vor – ICE vs. TGV?).
Die französische 231 E wird von einigen "Experten" als die am besten gelungene (Pacific-) Schnellzuglok der Welt bezeichnet. Ob das berechtigt ist, vermag ich mangels technischer/wirtschaftlicher Detailkenntnisse nicht beurteilen. Ich sehe zunächst nur ein ziemlich verkorkstes Äußeres - aber das ist natürlich persönliche Geschmackssache. Lassen wir die Fakten sprechen:
Die 231 E war streng nach den Vorgaben von André Chapelon ausgeführt. Das bedeutete ein Vierzylinder-Verbundtriebwerk Bauart de Glehn, Ventilsteuerung, und eine großzügige, strömungsoptimierte Ausbildung der dampfführenden Querschnitte zur Minderung der Druckverluste; Letzteres gut nachzuvollziehen an den außen liegenden Einströmrohren zu den Hochdruckzylindern. Selbstverständlich ist der Kessel mit einer Doppel-Kylchap Saugzuganlage und
zwei einem A.C.F.I. Mischvorwärmer ausgerüstet. Weitere Daten: Kesseldruck 17 bar, Treibraddurchmesser 1960 mm, Achslast 19 t, Leistung ca. 2400 PS.
Bei der hochgezüchteten Technik der Maschine stellt sich natürlich die Frage nach der wirtschaftlichen Effizienz dieses Aufwands. Verglichen mit den oft geschmähten deutschen Einheitsloks würden mich Zahlen interessieren, wie hoch die über die gesamte Betriebszeit angefallenen Kosten pro km und Tonne Zuggewicht (incl. Abschreibung und laufende Unterhaltung) waren. Aber ich schätze, solche Angaben gibt es nicht und so bleibt mir nur das "Bauchgefühl", dass unsere Einheitsloks in diesem Vergleich gar nicht schlecht abschneiden würden.
Bild 23
SNCF
231E 24 vom Depot Paris La Chapelle hat sich am 07.09.59 im Bahnhof Bruxelles Midi vor ein paar Kurswagen gesetzt und wartet nun darauf, dass der Hauptteil des internationalen Zuges (aus Deutschland?) eintrifft und sie auf das eigentliche Abfahrgleis umsetzen kann.
In dieser Ansicht erwähnenswert: Die Doppelverbund-Luftpumpe auf der rechten (=Heizer-) Seite und die Ziffer "2" rechts an der Pufferbohle, die die Lok als zur Region Nord zugehörig ausweist.
Bild 24
SNCF
231E 24 hat jetzt umgesetzt und wartet nun im Bf. Bruxelles Midi darauf, die Heimreise nach Paris anzutreten. 07.09.59.
Kommen wir zurück zu den belgischen Dampfern und zur Reihe 1.
Bild 25
Die Lokfüherseite der Reihe 1 sehen wir bei dieser Aufnahme der
1.017 im Bf von Tournai am 05.09.59.
Bild 26
Schon mal mächtig Dampf macht
1.017, als sie wenig später im Bf Tournai mit ihrer nächsten Leistung auf Abfahrt wartet. 05.09.59.
Ein Jahr später hat sich auch bei der Reihe 1 die endgültige Ausführung der Spitzenbeleuchtung durchgesetzt.
Bild 27
1.028, Bruxelles Midi, 05.06.60. Auch wenn leider kaum etwas vom Zug zusehen ist - nach einer hochwertigen Leistung sieht das nicht aus.
Mit den sechs Maschinen der
Reihe 12 hatte die SNCB ein paar besonders edle Renner im Depot.
Das Besondere beginnt schon an der Stirnseite der Loks mit der Darstellung der Betriebsnummer.
Bild 28
12.002, der elegante Renner am 07.09.59 im Bahnhof Bruxelles Midi.
Die Reihe 12 wurde Anfang 1939 als letzte „Atlantic“ Europas, vielleicht sogar weltweit, mit der Achsfolge 2’B 1’ in Betrieb genommen, noch dazu voll verkleidet. Die Maschinen waren vorgesehen für die Beförderung leichter Schnellzüge (150 t) auf der Strecke Brüssel – Oostende. Ab 15. Mai 1939 gab es auf dieser Strecke täglich zwei Zugpaare, welche die 115 km in genau 60 Minuten zurücklegten, d.h. mit einer Reisegeschwindigkeit von 115 km/h bei einem Zwischenhalt. Dabei betrug die Höchstgeschwindigkeit laut Fahrplan 145 km/h, bei Verspätungen und ehrgeizigem Lokpersonal wurden aber auch schon mal 150 km/h gefahren. Durch den Ausbruch des zweiten Weltkriegs gab es diese Verbindung allerdings nur einen Sommer.
Da Roland Krug hier kürzlich nach den Fahrzeiten fragte, möchten wir noch kurz den HS vorliegenden Fahrplan wiedergeben:
Lok 1: Bruxelles Midi 08:50 – Brügge 09:36/37 – Oostende 09:50, Oostende 17:50 – Brügge 18:02/03 – Bruxelles Midi 18:50.
Lok 2: Oostende 08:50 – Brügge 09:02/03 – Bruxelles Midi 09:50, Bruxelles Midi 17:50 – Brügge 18:36/37 – Oostende 18:50.
Die Maschinen der Reihe 12 besaßen ein innen liegendes Triebwerk mit zwei Zylindern (Heißdampf). Über eine Gegenkurbel an der ersten Treibachse erfolgte der Antrieb der innen liegenden Steuerungen, die bei den ersten 4 Maschinen der Bauart Heusinger entsprachen; die 5. Lok besaß eine Steuerung der Bauart Dabeg und die 6. eine Ventilsteuerung Bauart Caprotti. Die Treibradsätze hatten einen Durchmesser von 2100 mm und ermöglichten eine Höchstgeschwindigkeit von 160 km/h. Bei einem Reibungsgewicht von 46 t und dem geringen Zuggewicht war das Anfahren für einen geübten Meister sicher nicht schwierig.
Die Lok mit der Caprotti-Steuerung schied bereits 1951 aus dem Betriebsdienst aus, die restlichen fünf Maschinen waren dagegen noch bis 1962 im Einsatz und wurden zum Schluss mit der Beförderung von leichten Schnellzügen in der Relation Brüssel – Lille beschäftigt. Ihr Heimat-Bw war Schaerbeek. Sie waren mit Sicherheit die letzten Stromlinienloks im regulären Zugdienst.
Bild 29
Leider steht das Licht in Bruxelles Midi um die Mittagszeit nicht günstig, als kurze Zeit nach der oben gezeigten Aufnahme mit
12.004 eine weitere "rasende Micky Mouse" mit einem Zug aus Richtung Süden eintrifft.
Bild 30
Trotz der ungünstigen Lichtverhältnisse wird der Versuch unternommen, die mächtigen Treibräder irgendwie auf den Film zu bannen. Bruxelles Midi, 07.09.59.
Bild 31
Es heißt ja: "ein schöner Rücken kann auch entzücken" - und wie man hier sieht, ein schöner Tender auch. Neben den in der Sonne glänzenden Nietreihen ist auch festzustellen, dass bei der SNCB mit Briketts geheizt wurde. Der dreiachsige Tender trägt die Tender-Nummer
24.604 und fasst 24 m³ Wasser.
Bleibt zum Abschluss dieses Kapitels noch zu erwähnen, dass 12.004 erfreulicherweise erhalten blieb; ob sie z. Zt. auch betriebsfähig ist, entzieht sich meiner Kenntnis.
Im nächsten Teil geht’s dann weiter mit "Les Américains", den Amerikanern. Und das sind nicht nur die allseits bekannten Loks der Reihe 29, sondern auch und vor allem die verschiedenen Baldwin-Typen, die nach dem 1. Weltkrieg nach Belgien gelangten.
Schönen Tag noch,
Ulrich B. und Herbert S.
Edit: Anmerkungen von 03 1008 und Littorina eingepflegt. Danke
2-mal bearbeitet. Zuletzt am 2011:03:03:19:10:57.