Rübergabe!
Wenn der Sommer sich neigt und die Spinnen in die Häuser sterben gehen, wenn die ersten Frühnebel steigen und der Boden tief wird vom Regen, wenn die gestern noch grünbedeckten Äcker heute braun sind und ein erdig-süßlicher Duft in der Luft hängt, dann, ja dann ist wieder Rübensaison in Rheinhessen.
Wir schreiben das letzte Septemberdrittel des Jahres 1987. Seit zwei Wochen schon liegt ein dickes Fahrplananordnungs-Heft bei den Fahrdienstleitern zwischen Monsheim und Saulheim, zwischen Sprendlingen und Guntersblum. Es enthält Fahrpläne von Lokzügen, von Leerwagen-Zuführungen, und vor allem enthält es die Fahrzeiten der Übergabe-Güterzüge, mit denen zigtausend Tonnen Zuckerrüben zur Fabrik nach Neu-Offstein rollen werden.
Das alte Bahnbetriebswerk Alzey, schon seit 1951 eigener Lokomotiven ledig, belebt sich mit fünf, sechs, sieben V100 aus Darmstadt und Gießen, auch eine V60 gesellt sich ins Getümmel an der Tankstelle. Leer gefegt sind jene Nebengleise in der ganzen Direktion Frankfurt, auf denen Schlangen rostbrauner E-Wagen seit dem letzten Winter mit der Aufschrift 'Nur für Zuckerrüben' von ihrem saisonal begrenzten Nutzen gekündet haben. Mitten in die erste Erkältungswelle nach dem Sommer hinein mobilisieren die Bahndienststellen Rangierer und Betriebsarbeiter, um in den nächsten drei Monaten die gefräßige 'Südzucker' rund um die Uhr füttern zu können.
Eine merkwürdige, ausgangs des 20. Jahrhunderts anachronistisch wirkende Symbiose von Landwirtschaft und Eisenbahn bestimmt in diesen Septembertagen die Tagesabläufe in rheinhessischen Dörfern. Feldfrüchte und landwirtschaftliche Produkte waren es rund einhundert Jahre zuvor gewesen, die der Region überhaupt ihre Erschließung mit der Bahn sicherten. Und umgekehrt ermöglichte erst die Eisenbahn den Bau von Zuckerfabriken, indem sie große Einzugsgebiete und damit die erforderlichen Zuckerrüben-Mengen erschloss. Der Rübentransport auf der Schiene ist - von wenigen Kartoffeltransporten in Niedersachsen abgesehen - das letzte Refugium der einst engen Verbindung von Landwirtschaft und Eisenbahn geworden.
Den Eisenbahnfreund aus der Nachbarschaft treibt eine erwartungsfrohe Unruhe um. Wird das Wetter in den ersten Wochen mitspielen, bevor der späte Sonnenaufgang den Früh-Rübergaben das Licht raubt? Wird Gießen noch mal eine rote V100 schicken? Wird das Netz der Rübenverladebahnhöfe schon in diesem Jahr löchrig oder vielleicht doch erst im nächsten?
Wie sehr ist doch die verbliebene rheinhessische Bahn-Infrastruktur von der Rübensaison geprägt. Die Nebenbahnen von Alzey nach Harxheim-Lörzweiler und von Gau Odernheim nach Dittelsheim-Heßloch, von Osthofen nach Guntersblum und von Armsheim nach Wendelsheim gäbe es längst nicht mehr, wären da nicht die Rübenbauern und der Rübenverkehr auf der Schiene. Und nun, nach dreivierteljährigem Dornröschenschlaf, erwachen sie zum Leben, sehen - wie die Strecken um Gau Odernheim - statt allenfalls wöchentlich verkehrender Bedarfsübergaben fünf bis sechs Zugpaare täglich.
Die folgenden 11 Bilder zeichnen ein kleines Portrait des Rübenverkehrs am Beispiel der 1896 eröffneten Strecken Alzey - Bodenheim und Gau Odernheim - Osthofen. Erstere büßte 1985 ihren Personenverkehr und im Abschnitt Harxheim-Lörzweiler den Gesamtverkehr ein, letztere wurde 1974 im Personenverkehr und anschließend scheibchenweise bis auf den Restabschnitt Gau Odernheim - Dittelsheim-Heßloch im Güterverkehr stillgelegt. Im Rübenverkehr werden beide Strecken von Alzey aus bedient, wobei jedes Übergabe-Zugpaar in der Regel jeweils zwei Rübenbahnhöfe ansteuert. Noch bis zum Ende der Saison 1987 fungiert Gau Odernheim als örtlich besetzter Zugleitbahnhof, so dass mehrere Züge gleichzeitig im Gaunetz unterwegs sein konnten, künftig wird - fotografenfreundlich - immer nur ein Zug unterwegs sein.
Nur noch wenige Jahre, dann wird der Rübenverkehr auf der Schiene in Deutschland vollständig Geschichte sein (von vernachlässigbaren Restverkehren von Bio-Rüben in die Schweiz abgesehen). Dass von den Nebenbahnen in Rheinhessen nichts mehr übrig bleiben wird, bedarf wohl keiner gesonderten Erwähnung ...
Zum weiterlesen:
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http://www.amiche.de, ein liebe- und stimmungsvolles Portrait der Bahn und der Bahnen in Rheinhessen
'Rübenzüge', ein ambitioniertes Buch von Urs Kramer und Bruno Schötz über den Rübenverkehr auf der Schiene und seinen Niedergang, erschienen 2001 bei transpress.[/ul]
Unsere Streckenbereisung beginnt am nördlichen Ende des verbliebenen Streckennetzes im rheinhessischen Gau: Harxheim-Lörzweiler wurde als von Alzey am weitesten entfernter Bahnhof nur einmal am Tag von einer Rübergabe angefahren. 212 117 hat mit ihrer Üg 67474 vier beladene E-Wagen in HaLö abgeholt und macht sich auf den Rückweg nach Alzey mit Rangieraufenthalt in Mommenheim.
An einem anderen schönen Herbsttag rangiert sich 212 062 in Mommenheim – einem der wenigen Nicht-Doppelnamen-Bahnhöfe im Gau – ihre Übergabe zusammen. Das Empfangsgebäude entspricht dem schmucken Einheitstyp der preußisch-hessischen Staatsbahnen, der noch heute an etlichen Nebenstrecken zu finden ist.
Von Mommenheim aus (das Raiffeisensilo am Bahnhof ist über dem drittletzten Wagen zu erahnen) geht es zunächst einmal recht steil bergan, um die Wasserscheide zwischen Rhein und Selz zu überwinden. Die hellen Löß-Lehm-Böden konnten, wenn sie in der Sonne abgetrocknet waren, die Belichtungsmessung beim Fotografieren ordentlich erschweren.
Mit nur sechs Wagen aus Selzen-Hahnheim als Üg 67466 im Schlepp sind 260 774 und 212 062 zwar nicht ausgelastet, mühen sich aber doch sichtbar. Kurz vor der Einfahrt in den ehemaligen Abzweigbahnhof Undenheim-Köngernheim ist die Landstraße aus Hahnheim zu queren.
Sehr viel länger war dagegen zuvor Üg 67465, mit welcher die Leerwagen an die Bahnhöfe Undenheim-Köngernheim und Selzen-Hahnheim verteilt wurden – die typische Lastsituation der beginnenden Rübensaison. Der Nachschuss bei Bechtolsheim-Biebelnheim auf die schiebende V60 zeigt, dass heute auch zwei 'normale' Frachten im Zug sind.
An den Krautgärten Bechtolsheims vorbei zieht 212 117 ihre Üg 67474 gen Alzey.
Hp 2 zeigt das nördliche Einfahrsignal von Gau Odernheim, als 260 774 und 212 062 ihre Rübenfracht in der mittlerweile deutlich längeren Üg 67466 gen Alzey ziehen. Gleich steht die Kreuzung mit dem Leerwagenzug nach Bechtolsheim an, die nicht ohne eine kleine Dienstbesprechung der Zugpersonale mit dem Fahrdienstleiter abläuft.
Wir begeben uns von Gau Odernheim aus auf den anderen Streckenast Richtung Dittelsheim-Heßloch. Im Hintergrund grüßen exakt in Gleisachse der markante Kirchturm der Gau Odernheimer Simultankirche aus dem 15. Jh. und rechter Hand der nicht weniger markante, 246 m hohe Petersberg, während im Vordergrund 212 062 und 212 356 mit Üg 67460 ihrer Wege ziehen.
Kurze Zeit später sind beide Maschinen in Hillesheim-Dorndürkheim angekommen, wo ein Großteil der mitgeführten Leerwagen ausgestellt wird (Fast das gleiche Bild hatte Fredy auch schon gezeigt). In Bildmitte die typische Verladeanlage, bei der die Rüben von der 'Rolle' in ein Reinigungssieb gekippt und von dort aus per Förderband in die Waggons transportiert wurden. Eine durch die Bauern bediente Spillanlage sorgt für den Verschub der Wagen in die gewünschte Position unterm Förderband.
Mit nur fünf Wagen geht es eine Viertelstunde später weiter nach Dittelsheim-Heßloch, den seinerzeitigen Endpunkt der einst nach Osthofen weiterführenden Strecke. Links im Hintergrund grüßt wieder der Petersberg.
Den Abschluss der Bilderserie bildet – chronologisch falsch – eine Aufnahme von Üg 67460 aus den vorigen Bildern auf ihren ersten Metern hinter Alzey. Gerade passieren 212 356 und 212 062 den Ort Schafhausen, dessen (zum Schutz der Anwohner zwingend notwendige) Umgehungsstraße 1993 den Tod der Bahn besiegelte.
Gruß
Volker
Eintrag editiert (06.10.04 08:19)