DEUTSCHLANDREISE 2020
Ohne Zugbindung
Mit offenem Fenster
Fenster auf - Rübe raus!
IC 2075 (Hamburg - Berlin), 22. Juni 2020
Basis: ältere DB-Streckenkarte für den Personenverkehr.
Prolog:
Der eigentliche Urlaub beginnt mit Arbeit, die Übergänge sind fließend: die DB hatte wegen einer Baustelle einen erhöhten Personalbedarf, sodass die frisch aus der Taufe gehobenen Samstags-Ausflugsverkehre auf der oberschwäbisch-badischen „Räuberbahn“ Aulendorf – Pfullendorf schon vor dem ersten Betriebstag zu scheitern drohten. Doof! Aber: wollen wir das? So beginnt an diesem Freitag eine Maschinerie an zu arbeiten, die das Ziel hat, diese Verkehre doch noch stattfinden zu lassen.
Es laufen die Planung, die Eruierung, die Abstimmung und die Gegenprüfung an, es müssen die Personalgestellung, die Finanzierung und die Trassenbestellung bei drei Infrastrukturunternehmen geklärt werden, und kommuniziert werden soll das ganze ja auch noch. Problem: der erste Verkehrstag soll bereits der kommende Sonnabend sein. Also in gut einer Woche. So machen sich Bernd, Oliver, Frank, Leonie, Meinhard, Dietmar und Markus (ich hoffe, keinen vergessen zu haben) jeder in seinem Bereich auf dem Weg, damit die Fahrten durch die Schwäbische Alb-Bahn gefahren werden können. Ob´s gelingt? Mit dieser unbeantworteten Frage verlasse ich am Mittag meinen Arbeitsplatz und starte via Würzburg nach Norden.
Deutschlandreise 2020:
Mit einem erfreulich pünktlichen Regionalexpress der Firma Go-Ahead arbeite ich mich am frühen Nachmittag von Stuttgart durch Badisch Sibirien nach Würzburg vor. Der Zug von Würzburg nach Hamburg ist dann ein ICE2-Halbzug. Wer sich diese brettharten Sitze ausgedacht hat, gehört zu einer 10-stündigen Fahrt auf dem Gestühl vergattert. Ex-DB-Chef Mehdorns Ausspruch, Bahnfahrten über 4 Stunden seien eine Tortur, bekommt eine hausgemachte Bestätigung. Immerhin ist – Corona sei „dank“ – der Zug auch auf den Freitag Nachmittag nur leidlich gefüllt, sodass ich rezeptfrei einen Sitzplatz in Fahrtrichtung ergattere. Linke Seite natürlich. Man muss ja schließlich sehen, was so alles entgegen kommt.
Am späten Nachmittag komme ich in Hamburg Hauptbahnhof an und übernehme zum „Bahncard-Promo-Tarif“ für einen ausgesprochen fairen Preis ein Automobil, mit dessen Hilfe ich mich über das kommende Wochenende auch abseits von Bahnhöfen und Haltestellen im schleswig-holsteinischen Hinterland bewegen möchte. Das klappt auch recht gut, und auch die Fahrt durch den Freitag-nachmittäglichen Stoßverkehr aus Hamburg heraus geht doch deutlich schneller als gedacht. So bin ich gegen 19 Uhr schon auf Höhe von Heide (Holstein). Und da die Sommertage im Norden so herrlich lang sind, fahre ich noch weiter hoch: Das Standhotel Dagebüll/Doogebel, direkt mit Seeblick am Deich gelegen, bietet Rest-Zimmer für weniger als 50 Euro an – mit Frühstück! Also, Nordfriesland wird das Ziel!
Festgemauert... nicht in der Erden, sondern im Teenie-Befruchtungsschuppen zu Tiebensee (bei Büsum)
Dieser Moment, nach langer Zeit über den Deich zu schauen, und dahinter liegt es dann: das Meer - ach, das ist jedes Mal wieder eine Offenbarung! Einmal innehalten, die endlose Weite genießen, durchatmen... Ich mag das! Schnell checke ich im Strandhotel ein. Anschließend geht es noch einmal runter an die Promenade. Schuhe aus, Hosen hochgekrempelt, und nachdem ich heute früh noch vor meinem Schreibtisch-Monitor mitten in Stuttgart saß, laufe ich nun in völliger Einsamkeit durch das Watt. Also... das hat was! Wie so ein Filmriss "wir unterbrechen Ihren Alltag jetzt für einen kurzen Trip ans Meer". Aber in echt! Dann setze ich mich mit einem Buch zum Lesen auf den Deich. Inzwischen trudeln auch die ersten Rückmeldungen der Kollegen zu den Pfullendorf-Verkehren ein. Trasse ist abgestimmt und bestellt, ein Lokführer - Frank persönlich! - gefunden... Es läuft gut an! Ja, man soll im Urlaub nicht arbeiten.
Aber deswegen einen Zugverkehr nicht stattfinden lassen? Das wäre erst Recht gegen die Ehre! So sitze ich an diesem Freitag ganz im Norden auf dem Deich und versuche, die Vorbereitung von Zugverkehren in Oberschwaben auf dem Smartphone zu koordinieren. Schließe ich die Augen, dann sehe ich die kleine Nebenbahn in Baden-Württemberg und die Kollegen und Kolleginnen, die da genauso ticken wie ich: der Zug muss fahren! Öffne ich die Augen, dann blicke ich auf das glitzernde Wattenmeer und die Sonne, die hier selbst abends um 22:30 Uhr noch waagerecht über dem unverstellten Horizont steht. Ist das (sorry) geil!
Tag 1:
Der nächste Tag beginnt etwas wolkenverhangen, aber am Vormittag ändert sich das. Mal kurz bei der Norddeutschen Eisenbahngesellschaft (neg) Niebüll/Naibel auf ein kurzes "Moin" vorbei geschaut, ob da gerade jemand Bekanntes Dienst hat, mal einfach eine Runde in die Sonne gelegt, auf dem Deich eingeschlafen und einen fulminanten Sonnenbrand eingefangen. Einfach können, nichts müssen! Auch die Züge der neg sind zwischendurch immer mal wieder ein Fotomotiv:
da die DB gerade keine Intercity-Kurswagen auf die Mole abgibt, müssen zwei neg-Triebwagen für die notwendige Kapazität zum Bettenwechsel (Sonnabend!) sorgen. Der "hessische" 629 bekommt gerade seine Hauptuntersuchung in Niebüll/Naibel, also muss der kleine T4, der "Flachland-Tiroler" österreichischer Provenienz, aushelfen und den "Luxemburger" 629 unterstützen.
Flachland-Tiroler an der Nordseeküste! Der Kleine schleppt den Großen. Dafür fehlen die Kurswagen.
An der Nordseeküste, am plattdeutschen Strand, blöken die Schafe ja wie blöd auf dem Deich. Leider sind die Viecher ziemlich schreckhaft. Mein selbst gestecktes Tagesziel ist es, einmal so ein Pulloverschwein mit dem Zug auf ein Bild zu bekommen. Von früheren Exkursionen an den Hindenburgdamm weiß ich, dass das nur mit viel Geduld geht. So bin ich rund 15 min vor dem Zug auf dem Deich und erschleiche mir das Vertrauen der Schafe. Gaaanz langsam annähern, ihnen nicht ins Gesicht schauen, keine hastigen Bewegungen, und dann lassen sie einem bis auf zwei, drei Meter rankommen. Und tatsächlich:
Das Ergebnis hart erarbeiteten Vertrauens: Zug mit Pulloverschwein, das vorher nicht weggelaufen ist.
Am Nachmittag arbeite ich mich langsam Richtung Dithmarschen vor. Am kommenden Morgen will ich mich mit Christoph an der Hochbrücke Hochdonn über den Nord-Ostsee-Kanal treffen. Die endlosen Tage lassen einen jegliches Zeitgefühl vergessen. Selbst um 20 Uhr fühlt es sich noch so an wie am späten Nachmittag. Auf der Marschbahn werden noch ein paar entgegen kommende Züge verhaftet.
Zwischenstopp bei Bredstedt/Bräist. Zufällig kommt die rote Heulsuse vorbei.
Ich beziehe ein Zimmer in Hanerau-Hademarschen. Muss man nicht kennen. Liegt an der Nebenbahn Heide - Neumünster, deren völlig "optimierte" Infrastruktur (40 km ohne Kreuzungsbahnhof - ja, so geht zukunftsträchtige Eisenbahn!) nicht mehr als einen Zwei-Stunden-Takt zulässt. Zufällig passt einer der wenigen Züge zeitlich gerade zu meiner Überquerung des Nord-Ostsee-Kanals in Grünenthal.
Nur auf wenigen Brücken lässt sich der NOK auch zu Fuß überqueren, 42 m über dem Kanal und herrliche Ausblicke inklusive. Ab und zu poltert auch eine Eisenbahn über die Grünenthaler Hochbrücke.
Tag 2:
Der nächste Morgen beginnt entspannt, denn vor dem späten Vormittag muss ich nicht in Hochdonn sein. Das erste Mal wache ich gegen 04 Uhr irgendwas auf, denn draußen ist es schon taghell. Wie schön, wenn man dann einfach noch weiter schlafen kann! Im Gegensatz zu 2019, als um 5 Uhr die Überfahrt des D-Zuges Hamburg - Westerland mit 628 in Hochdonn den Tag eröffnen sollte. Frühstück gibt es in dem kleinen Landgasthof wegen der Corona-Nachwehen trotz hauseigener Gaststätte nicht,
also schaue ich einmal an der Nebenbahn vorbei. Wie die dort aktiven Triebwagen der "Nordbahn" aussehen wisst ihr ja schon spätestens seit dem letzten Bild. Dafür zeigt Mutter Natur, was sie so alles an Wundern in der Tüte hat.
Der Beweis: es gibt auch homosexuelle Kühe!
Sodann bewege ich mich mit dem Kraftwagen Kanal-aufwärts (der offizielle Beginn des NOK liegt in Brunsbüttel) auf sonntäglich-ruhigen Landstraßen nach Hochdonn. Zweimal quere ich das Gewässer auf einer Autofähre, die ja bei Kanalüberfahren kostenlos sind.
NOK-Fährpassage 1: noch ist die Hochdonner Brücke weit weg. Die Überfahrt kostet 2 Euro in das Spendenschiff der DGzRS (rechts).
NOK-Fährpassage 2: Jetzt sind´wa da! Die Überfahrt kostet 2 Euro in das Spendenschiff der DGzRS (unten).
Sehr rechtzeitig komme ich an dem 100 Jahre alten Bauwerk an, welches, die Landschaft überragend, den Seeschiffen bis 42 Metern Höhe eine Unterquerung der Marschbahn Westerland - Hamburg ermöglicht. Ob die Erbauer damals auch nur ansatzweise erahnten, welche Lasten ihre Brücke ein Jahrhundert später einmal zu tragen hätten? Und dass sie dies auch anstandslos tut? Zugegeben - der Instandhaltungsaufwand ist mächtig. Tatsächlich ist 2020 für lange Zeit das letzte Jahr, in dem man den stählernen Tausendfüßler ohne Gerüst oder Planen bewundern kann: in den kommenden Jahren wird eine komplette Rostschutzsanierung vorgenommen. Muss sein, sieht aber irgendwie kacke aus...
Tausendfüßler, hundert Jahre.
Oben, wo die Brücke auf dem breiten Bahndamm endet, stehen bereits zwei andere Herren. Ein Holländer und ein Mann, der sich weniger für die Eisenbahn als für die Brücke selbst interessiert. Nur Christoph ist nicht da. Nanu? Ein wenig Zeit bis zur Überfahrt des Intercitys "Nordfriesland", der mit den beiden blauen Leih-218 ("Schlümpfe") der Pressnitztalbahn bespannt sein soll, haben wir noch. Zuerst kommt ein Lint-Triebwagen, dann ein Regionalexpress, und dann... quasi in letzter Minute kommt Christoph, in voller Motorradfahrer-Montur, den Damm hinauf geklettert. Zu dem Zeitpunkt sitze ich schon in einem Baum und hoffe, den auch unfallfrei wieder verlassen zu können. Denn das lernt man schon als Kind: hoch ist einfacher als runter.
Der Lokführer ist ein Torfkopp: obwohl von uns vieren niemand auch nur ansatzweise in Gleisnähe steht (ich schon gar nicht), kommt er mit Dauerpfeifen angerollt und streckt einen Stinkefinger aus dem Führerstandsfenster. Kollege, hier ein Tipp: werde Rangierlokführer auf einem Güterbahnhof. Im nächtlichen Schein der Cargosonne wirst du bestimmt nicht fotografiert.
IC "Nordfriesland" (Westerland - Köln - Stuttgart) mit den beiden Schlümpfen und einem doofen Lokführer.
Wir verlassen die Örtlichkeit, quatschen unten noch mit einem Drohnen-Fotografen aus dem Landkreis Osterholz-Scharmbeck und beschließen, uns mal in die "Burger Berge" zu begeben. Also, was in Schleswig-Holstein so als "Berg" durchgeht. Die liegen ein Stück westlich der Brücke und damit schon auf der "schleswigschen" Seite des NOK. Es folgt NOK-Fährpassage Nummer drei. Etwa 30 min später treffen wir uns - Christoph mit seinem "Mopped", wie er seinen Feuerstuhl nennt, ich mit meinem blauen Schade (bzw. die tschechische Bedeutung dieses Wortes) - an einer winzigen Feldwegbrücke über die Marschbahn, unter der wohl schon der "Adler" durchgefahren ist. Der Rest ist schnell erzählt: wir lassen es absolut ruhig angehen (schließlich ist ja Sonntag), haben viel zu erzählen, plaudern mit den wenigen Eingeborenen, die vorüber kommen, sitzen ansonsten in der Sonne und sind völlig gestresst, wenn sich am Ende der langen Gerade doch wieder ein Zug ankündigt, den es auf dem Pixelfriedhof zu verewigen lohnt. Auch die Wolken sind stets zur rechten Zeit vor der Sonne verschwunden.
Mit Durchblick: Auf der Feldwegbrücke bei Burg.
Streeess! Schon wieder ein Zug! Christoph sucht bereits das Weite (ganz rechts auf der Brücke). Ob er es findet?
Irgendwann trennen sich unsere Wege. Ich fahre - Kanalquerung Nummer 4 mit der Fähre - wieder auf´s "holsteinische" Kanalufer, suche nach den letzten Resten der alten Marschbahn, die bis 1920 mittels Drehbrücke den NOK überquerte (ein letztes, weiter verwendetes Relikt davon ist übrigens die Schlei-Klappbrücke Lindaunis zwischen Flensburg und Kiel) und fahre langsam gen Hamburg. Dort hole ich gegen 18:30 Uhr Ben, den Freund meiner Schwester, in Harburg vom Zug ab. Er war mit einem Kumpel zur Fußball-Europameisterschaft in München. Die EM wurde zwar abgesagt, aber nach München kann man ja schließlich trotzdem fahren.
Anschließend fahren wir zu meiner Schwester nach Neu Wulmstorf auf dem Hamburger Balkan, wo ich längere Zeit meiner Kindheit verbrachte. Dort wartet schon ein Nudelauflauf mit viel Käse auf uns. Hmmm! Wir machen einen kleinen Ortsrundgang, und ich staune, was sich seit meinem letzten Besuch so im Laufe der Jahre alles verändert hat. Und was noch genauso ist wie früher. So gibt es im Ort einen der wenigen deutschen Autohändler, der den russischen Lada verkauft. Irgendwann gegen Mitternacht begeben wir uns in die Waagerechte. Ich bin der erste Schlafgast in ihrer neuen Wohnung!
Eisenbahn-Archäologie: zu welcher Hauptstrecke gehörte die Brücke, die hier bis 1920 stand?
Tag 3:
Um 7 Uhr verlassen meine Schwester und Ben ihre Wohnung. Die Ärmsten müssen arbeiten gehen... Ich habe heute noch genau zwei Verpflichtungen: Bis 10 Uhr muss der Mietwagen am Hamburger Hauptbahnhof zurück gegeben sein, und um 15 Uhr will ich mich mit Ingulf in Berlin am Ostbahnhof treffen. Entsprechend stressfrei beginne ich den Morgen, inspiziere den Kühlschrank von innen und mache mich gegen 8 Uhr langsam auf den Weg. Mit dem Auto in die Hamburger Innenstadt zu fahren ist nicht wirklich vergnügungsteuerpflichtig. An der gefühlt 17. roten Ampel frage ich mich, weshalb sich das -zig-Tausende Menschen jeden Tag antun... Na gut, man kann unbeobachtet in der Nase bohren und über die anderen schimpfen, die ja schließlich alle doof sind. Immerhin scheint die Rush-Hour schon ziemlich durch zu sein, jedenfalls komme ich doch überraschend gut durch.
In Heimfeld reicht die Zeit noch zu einem kleinen Fotostopp für die S-Bahn: Extra für mich ist direkt unter der S-Bahn-Brücke über die B73 ein Parkplatz frei, und die S-Bahn präsentiert bei den nächsten drei Zügen, die im 5-min-Rhythmus durchkommen, alle ihre drei aktiven Fahrzeugtypen. Auch der Wolkenschaden bleibt aus. Effizienter geht es nicht!
Leistungsschau der Hamburger S-Bahn in 15 Minuten: drei Züge, drei Baureihen!
Über Harburg, die Bagaluten-Stadtteile auf der Elbinsel - yeah, dabei wird mein Kraftwagen doch noch mal vom Auto zum Stauto - und die Elbbrücken rolle ich sodann gen City. Schnell den Wagen im 2. Untergeschoss des Parkhauses versenkt, und mit einer Punktladung gebe ich um Zehn vor Zehn Uhr den Schlüssel am Europcar-Schalter ab. Etwas Ärger gibt es später noch bei der nachträglichen Abrechnung, als man mir eine Bahnhofsgebühr von 19 Euro auf den Zettel setzt, obwohl die beim Bahncard-Tarif inkludiert ist. Aber davon weiß ich in diesem Moment noch nichts, als ich mit einem 472 nach Altona und im Sinne einer freien Platzwahl dem Zug nach Berlin entgegen fahre.
Zwei Züge stehen im dortigen Kopfbahnhof zur Fahrt nach Berlin bereit, als ich den Querbahnsteig betrete. Ein ICE, Abfahrt um 10:19 Uhr, und ein Intercity, Abfahrt 10:39 Uhr. Der nennt sich 2075, fährt nur montags, und vorne an der Zugspitze ist unschwer ein Interegio-Steuerwagen auszumachen. Damit ist die Entscheidung schon gefallen. Längst lacht die Sonne von einem inzwischen fast wolkenlosen Himmel - was kann einem da besseres passieren als ein Fenster-auf-Wagen? So beziehe ich eines der beiden Abteile und freue mich fast ein wenig auf die nun folgende Fahrt nach Berlin, trotz der einschläfernd-eintönigen Strecke. Spannend wird es höchstens noch einmal am Hauptbahnhof, wo die Züge meist recht voll werden - wie voll wird mein IC? Am Haltepunkt Dammtor fahren sogar wir durch, wie angenehm!
Am Hauptbahnhof steigt Svenja (Name von der Redaktion geändert) zu, die auf ihrem Weg von Kiel nach Berlin mit einem Fahrrad zielstrebig den Steuerwagen ansteuert (der wäre damit also eigentlich ein Ansteuerwagen). Mit ihrem Radlergepäck, den blonden Haaren, Rucksack und den Dreiviertelhosen passt sie wunderbar zu diesem Sommersonnentag, als sie ihr Fahrrad verlädt und dann auf Platzsuche geht, während ich vom Gang aus das Treiben auf dem Bahnsteig beobachte. Ob in „meinem“ Abteil noch etwas frei wäre. Oh weh, ist das das Ende des Rübe-Rausstreckens, von wegen „es zieht“? Neinnein, das ist überhaupt kein Problem, deshalb würde sie ja genau hier sitzen wollen! Aha, so etwas gibt es also auch? Ich bin begeistert! Tatsächlich finden Großteile der folgenden Fahrt dann auch am offenen Fenster des Seitenganges statt, während wir uns den Sommerwind um den Kopf wehen lassen.
Parallelfahrt bei Hamburg-Veddel. Unsere Intercitys fahren exakt das gleiche Tempo!
Die Maske tagen wir dabei nicht ganz so konsequent, wie es das Gesetz vielleicht gerne möchte, denn mit dem Kopf befinden wir uns ja schließlich auch nicht im Zug. Wir wundern uns über den seltsamen Laufweg des Zuges via Uelzen, den offenbar noch nicht einmal die Schaffnerin bemerkt hat, oder philosophieren zwischendurch im Abteil über die Sinnhaftigkeit von Lärmschutzwänden fernab menschlicher Ansiedlungen und darüber, wie man das Wissen der Medizin mit dem Interesse an Literatur verbinden kann. Zwischendurch gibt es eine Parallelfahrt mit einem anderen Intercity (siehe Bild oben) und bei Bad Bevensen einen Zugstau, der uns am Ende rund 30 min mehr Zeit zum Quatschen gibt als im Fahrplan vorgesehen.
"Auf der Strecke 110 kommt es im Bereich Bad Bevensen zu zähfließendem Verkehr und Stau. Die Umleitungsempfehlung..."
Außerdem werde ich davon überzeugt, dass eine Thermoskanne für den Getränkevorrat doch irgendwie praktischer ist als diese labberigen Einweg-Kunststoffflaschen in der Rucksack-Seitentasche. Svenja, falls du das hier liest: die Mission ist erfüllt!
(Nachtrag: sie hat es gelesen und gleich gratuliert!)
Im Berliner Hauptbahnhof trennen sich unsere Wege. Da ich an diesem Tage nur von Hamburg statt wie ganz ursprünglich geplant von Stuttgart komme, habe ich bis zum Treffen mit Ingulf ausreichend Zeit, in meiner Unterkunft an der Jannowitzbrücke einzuchecken. Das eigentlich bestellte „Eckzimmer oben“ mit einen prächtigen Stadtbahnblick ist in den Wirren der Corona-Regularien allerdings noch nicht gemacht worden. Das Zimmermädchen kassiert deswegen vom Capo des Hauses zwar einen Anschiss, aber das hilft mir auch nicht weiter. Egal, also wird es das Nachbarzimmer. Schnell unter die Dusche, den Staub der Reise am offenen Fenster aus den Haaren gewaschen, und es geht mit der S-Bahn die Station rüber zum Ostbahnhof.
Blick aus dem Hotelfenster in Berlin.
Eigentlich wollten Ingulf und ich uns am Ostbahnhof treffen. Aber: in der ganzen Halle kein Ingulf zu sehen! Dummerweise habe ich auch seine Telefonnummer nicht. In meiner Not rufe ich nach einer halben Stunde Jan in Hamburg an, einen gemeinsamen Bekannten. Den erwische ich gerade bei der Fahrt im Auto durch den Elbtunnel, aber: er kann tatsächlich helfen! So bekomme ich Ingulfs Telefonnummer und rufe ihn an. Ja, er habe mich auch schon die ganze Zeit versucht anzurufen, aber die Nummer ginge ins Leere. Also, Nummernvergleich – und ich wäre am liebsten im gefliesten Boden des Ostbahnhofes versunken: in der Nummer, die ich ihm geschrieben habe, habe ich einen fetten Zahlendreher eingebaut. Peinlich³! Dann bestellt er mich unten an die Spree zum Anleger, drüben am Verdi-Haus. Er würde mich da abholen. Hm… auf einem Anleger…
Der Anleger ist kein Ort zum Wohlfühlen. Er ist Treffpunkt der örtlichen Kiffer-Szene, offenbar der Ableger aus dem nahen Görlitzer Park. Als Ingulf mich dort nach etwa 20 min abholt, habe ich mehr als nur passiv mehrere Joints inhaliert und interessante neue Beleidigungen für Polizisten, Ehefrauen oder Vermieter kennen gelernt. Dann gehe ich an Bord. Ja, an Bord. Denn Ingulf kommt mit seinem Boot, einem schmucken Kabinenkreuzer. Heimathafen ist natürlich Hamburg und nicht Berlin. Heimat-Hafen eben. Für das Boot. Und für den Kapitän.
Zunächst bekomme ich noch den verdienten Anschiss wegen der falschen Telefonnummer. Dann vergehen die nächsten Stunden auf dem Boot wie… nein, nicht wie im Flug. Wie auf dem Boot! Nur schneller. Und viel, viel schöner! Ingulf hat vor seinem sog. Ruhestand lange Jahre in führender Position bei DB Fernverkehr gearbeitet, ist Eisenbahner mit Herz und Seele und kennt jeden Zug, jeden Bahnhof und auch jeden Verkehrsminister mit Vornamen. Irre, was er alles weiß! In all den Stunden gibt es kaum eine Minute, in der das Gespräch nicht abreißt. Gemächlich fahren wir spreeaufwärts, überqueren den Großen Müggelsee und fahren noch ein Stück die Müggelspree hinauf.
Der sollte eigentlich gar nicht kommen. Kam aber. Spreebrücke Spindlersfeld von der Wasserseite aus gesehen.
Auch in den ans Wasser grenzenden Gärten scheint Ingulf jeden Bewohner zu kennen, er ist ständig am Grüßen. Ich lerne unterwegs eine Fährverbindung der Berliner Verkehrs-Betriebe kennen, die als öffentliches Nahverkehrsmittel mit Ruderbooten betrieben wird! Zwischendurch legen wir auf der Wasserseite eines kleinen gepflegten Restaurants an, essen gut zu Abend und fahren anschließend in den hereinbrechenden Abend hinein. Was beim Lesen dieses Reiseberichtes vielleicht als dekadent erscheinen mag, ist hier irgendwie ganz normal. Und unglaublich entspannend. Und schön. Und interessant. Ich glaube, in diesen Stunden erfahre ich mehr über die Eisenbahn als den ganzen Monat vorher, aber natürlich gibt es auch 1.001 andere Themen zum Unterhalten. Es ist etwa 23 Uhr, als wir Ingulfs Boot in einem kleinen Hafen am Köpenicker Spreeufer vertäuen, noch mit einen kleinen Absacker aus der Bord-Bar den Tag verabschieden und zur S-Bahn-Station Hirschgarten laufen. Mir kommt es vor, als wäre ich gerade erst an Bord gegangen. Ingulf steigt in Rummelsburg aus der S-Bahn aus, ich fahre noch zur Jannowitzbrücke zu meinem Hotel weiter.
Heute morgen war ich noch bei meiner Schwester in Neu Wulmstorf. Dann der Fototermin mit der Hamburger S-Bahn. Dann die Intercity-Fahrt am offenen Fenster durch den Sommer. Dann der Nachmittag auf dem Wasser… Ist das alles wirklich an einem einzigen Tag passiert? Ich glaube, ich mag Montage!
Manchmal ist auch Berlin fast so schön wie Hamburg (aber nur manchmal)! Sonnenuntergang auf dem Müggelsee.
Tag 4:
Der Terminkalender dieses Tages ist recht übersichtlich: Treffen mit Julia (Name von der Redaktion geändert), irgendwo, irgendwann in Berlin, Ende offen. „Irgendwann“ deswegen, weil Julia an diesem Tage noch einen Handwerker erwartet. Wir vereinbaren, uns einfach ad hoc dann zu treffen, wenn der Handwerker dagewesen ist. Sie soll sich dann einfach melden, dann stimmen wir einen Treffpunkt ab.
Da es auch in diesem Hotel mit der universellen Begründung "Corona" eh kein Frühstück gibt und das Zimmer auch erst bis high noon geräumt sein muss, schlafe ich einfach einmal aus. Gegen 10 Uhr rufe ich Leonie an, die gestern noch eine Nachfrage zu den Pfullendorf-Fahrten (remember den Prolog!), ich nach dem Tag auf Ingulfs Boot aber spätabends keine Lust mehr zum Schreiben hatte. Eigentlich wäre es nur eine 5-min-Verständnisfrage gewesen. Aber wie fast immer verquatschen wir uns, schließlich werden es fast eineinhalb Stunden, sodass ich am Ende sogar noch auf die Uhr schauen muss, bis 12 Uhr aus dem Zimmer zu sein. Auch Julia hat sich inzwischen gemeldet, vor 14:30 Uhr wird das wohl nichts. Das ermöglicht ein kurzes Treffen mit Michel in Spandau, mal kurz zum konspirativen Informationsaustausch. Mit dieser Planung laufe ich zum Bahnhof Alexanderplatz und fahre weiter zum Mehdornium, former known as Berlin Hauptbahnhof.
Die Besteigung des Tele-Spargels muss verschoben werden, der ist gerade im Keller zur Reparatur.
Der nächste Zug nach Spandau ist der ICE um 12:38 Uhr nach Hamburg, denn da ganz mit der S-Bahn rauszuzockeln habe ich irgendwie keine Lust. Der dann aus München kommende Zug ist ein mäßig besetzter ICE 4, den ich im vorderen Teil besteige. Während ich mich an einer Vierer-Sitzgruppe einrichte, kommt den Mittelgang aus der anderen Richtung, Rucksack, blonde Haare, wenngleich ohne Fahrrad... Svenja, aus dem Intercity gestern! Kann die Welt so klein sein? Sie ist auf dem Rückweg nach Kiel. Wir begrüßen uns wie alte Bekannte!
Das kurze Treffen bis Spandau knüpft sofort dort an, wo es gestern endete, nur eben jetzt ohne offenes Fenster und deshalb mit Maske. Dann steige ich aus. Ob wir uns irgendwann in diesem Leben wohl noch ein drittes Mal begegnen?
In Spandau treffe ich noch andere Bekannte: Die nagelneuen, ehemals Stuttgarter 147, die dort zunächst dem Ausschereibungsverlust und dann der Arbeitslosigkeit zum Opfer gefallen sind, haben vom Landeshauptstädtle in die Bundeshauptstadt rüber gemacht. Was für eine Karriere! Einen Tiefbahnhof gibt es hier aber schon.
Eine Württembergerin in Spandau.
So richtig viel Zeit zum Austausch mit Michel ist jedoch nicht, er muss auch gleich weiter. Beim Hühnermann KFC schiebe ich mir schnell einen Burger in den hohlen Zahn, falls Julia schon gegessen haben sollte. Draußen zwischen Bahnhof und „Spandau-Arcarden“ setze ich mich mit meinem Burger auf die Umfriedung eines Blumenrabattes, als mir ein komischer Typ ein Gespräch aufzwingen will, von wegen er werde vom Verfassungsschutz gesucht, und die Bundesregierung würde sowieso bald zu Fall kommen. Junge, was immer du dir morgens einwirfst: nimm weniger davon!
Die auffallend vielen dicken Menschen, die in Spandau zwischen Einkaufszentrum und Bahnhof herumlungern, sollen mir eine Mahnung sein, nicht so oft zum Burgerbrater zu gehen. Allerdings ist es bei mir auf diesen mehrtägigen Bahn-Reisen meist so, dass ich Gewicht verliere, da ich oft keine Zeit oder Lust zum Essen habe. Corona hilft bei der Entfettungskur auch kräftig mit, wenn es morgens in der Unterkunft kein Frühstück gibt und man z.B. auf einen Sonntagmorgen im Dithmarschener Hinterland auch nicht wirklich viele Alternativen zur Nahrungseinnahme findet. Mit diesen bedeutungsschweren, aber nicht übergewichtigen Gedanken steige ich in den Triebwagen zum Gesundbrunnen, fahre mit der S-Bahn noch eine Station zur Bornholmer Straße weiter und laufe Julia entgegen, die aus der anderen Richtung zum Bahnhof hochkommen will.
In Berlin darf man den ganzen kackenden Hund in die Mülltonne werfen.
Unglaublich! Alles zugeparkt!
Kleingärten - oder in Berlin: Laubenpieper - gelten im Allgemeinen als die Vollendung des deutschen Spießertums. Feinrippunterhemd, Gartenzwerge und gegenseitiges Beäugen, und wehe, der Nachbar hat seinen Kirschbaum nicht auf die in den Paragrafen der Kleingartensatzung akribisch definierten Maße zurecht geschnitten. Oder nicht? Einen gewissen Hang zur Gemütlichkeit kann man diesen Zeitgenossen jedoch nicht absprechen, die sich in den kleinen Gaststätten jener Kolonien kumuliert. Mittags um 15 Uhr sind wir noch so ziemlich die ersten Gäste im "Vereinshaus" nahe der Bornholmer Straße ("Verein" - noch so etwas typisch deutsches), als wir einen Tisch unter einem ausladenden Sonnenschirm (
"Maisel´s Weisse" - wirklich ganz typisch Berlin, und dann noch mit @#$%&-Apostroph und "ss" statt "ß"...) okkupieren. Die Kleingärtner selbst müssen um diese Zeit wahrscheinlich noch ihren Rasen mit der Nagelschere stutzen. Dass wir um 19 Uhr immer noch in der inzwischen restlos belegten Gartenwirtschaft sitzen, war eigentlich nicht geplant, aber es gibt nun einmal so viel zu erzählen. Und so jung wie heute sehen wir uns nie wieder! Drumherum toben inzwischen die Kinder im Matsch eines Pflanzenkübels, der Kellner flirtet bei jedem Vorbeigehen mit Julia, es gibt Wurst mit "hausgemachtem Kartoffelsalat", und wir sollen Testkunden für Kwaß werden, einem Getränk aus gegorenem Brot aus Russland. Das kenne ich als Kind aus Sowjetzeiten, als sie das da auf der Straße aus Tanklastern verkauft haben, die aussahen wie Güllewagen. Vielleicht bin ich daher bei meiner Meinung zu diesem Trunk etwas befangen.
Laubenpieper-Idylle. Spießig? Egal, hier lässt es sich auch im Sommer gut aushalten. Stößchen!
Julia und ich kennen uns seit vielen, vielen Jahren, als ich, noch recht frisch in Stuttgart, ein wenig Input zu Julias Masterarbeit beisteuerte. Der Eisenbahn ist sie in all den Jahren treu geblieben. Das zeigt sich auch auf dem anschließenden Bummel Richtung S-Bahn, als ich vom Schwedter Steg eine Einführung in die ziemlich komplexe Betriebsführung der verschiedenen Linien und Anschlusskorrespondenzen am Nordkreuz erhalte. So etwas sieht man als Fahrgast ja eher nicht und denkt auch selten darüber nach, weshalb man zum Beispiel an der Bornholmer Straße stets einen bahnsteiggleichen Anschluss zwischen den Zügen Richtung Nord-Süd-Tunnel und dem Innenring hat.
Der warme Sommerabend und noch viel mehr zu erzählen führen dazu, dass wir schließlich noch an mehreren Eisbuden und dann in einer Pizzeria landen. Den leichtsinniger Weise einmal angedachten Plan, am Abend noch Richtung Ostsee zu starten, habe ich spätestens in der ersten Eisdiele aufgegeben.
Streifen machen schlank. Auch Brücken oder den Schwedter Steg am Berliner Nordkreuz, das eigentlich ein Norddreieck ist.
Als wir uns schließlich trennen ist es kurz vor halb zwölf. So lande ich gegen Mitternacht am Hauptbahnhof. Die Alternative, mir die Nacht in einem grell erleuchteten Großraumwagen des kurze Zeit später abfahrenden Nacht-ICE 2 nach Köln um die Ohren zu schlagen, verwerfe ich sofort wieder, als ich zu später (bzw. früher) Stunde für kleines Geld noch ein übrig gebliebenes Zimmer im A&O ergattere, etwa 7 Fußminuten vom Mehdornium entfernt. Außerdem steht die Ostsee ja nach wie vor auf dem Programm, und da liegt Köln doch ´n büschn aus der Richtung.
Tag 5:
Die Nacht ist kurz. Zu kurz, um in einem Hotel viel Geld auszugeben. Aber zu lang, um sie im Nachtbus totzufahren, ohne am nächsten Tag Streichhölzer zwischen die Augen klemmen zu müssen. Insofern war die Entscheidung mit dem günstigen Hostel richtig. Denn schon vor 06:30 Uhr startet der erste Intercity des Tages von Berlin nach Warnemünde. Wer Warnemünde kennt der weiß, dass der Bahnhof da keine 10 min vom Sandstrand entfernt liegt. Besser geht´s nicht!
Der Intercity ist einer der von der österreichischen "Westbahn" übernommenen Kiss-Doppelstockzüge. Er kommt auch bereits aus Wien und ist dort gestern Abend zu einer Zeit ins Rennen gegangen, als ich mit Julia noch an einer der Eisbuden stand. Dennoch ist er bei seiner Ankunft in Berlin minutiös pünktlich und erfreulich (oder: erschreckend) leer. Ich habe jedenfalls das Untergeschoss eines der Wagen für mich alleine. In Verbindung mit dem überraschend bequemen Gestühl und den gegenüber des Regional-Express-Zuges auf dieser Strecke deutlich weniger Unterwegshalten also ideale Voraussetzungen, noch etwas Schlaf nachzuholen. So verpenne ich leider die Fahrt durch die wunderschöne, seenreiche Landschaft Nordbrandenburgs und Mecklenburgs, wo man die Nähe des Meeres mit jedem Kilometer deutlicher spüren kann.
Morgens, 6:30 Uhr, im Kiss-Intercity-Triebwagen an die Ostsee. Ich bin der einzige Fahrgast im Tiefgeschoss. Da kann man - pssst! - auch heimlich mal die Maske absetzen.
Das frühe Aufstehen hat sich gelohnt: Um 08:59 Uhr falle ich in Warnemünde aus dem Zug. Das ist eine Zeit, zu der sich die reifere Generation in den umliegenden Hotels gerade einmal zum Frühstückstisch bequemt. Vorteil Heiko: obwohl ich den wohl weitesten Anreiseweg hatte, bin ich am weißen Sandstrand Warnemündes anfangs fast der einzige Mensch zwischen lauter Möwen. Also, so kann ein Tag gerne öfter beginnen! Unschön auffällig ist, dass es in Rostock und Umland kaum ein Laternenmast, ein Verkehrsschild oder eine Mauer gibt, die nicht von Sympathiebekundungen eines gefühlt fünftklassigen lokalen Fußballvereins beklebt, besprüht oder sonst irgendwie "verziert" ist - oft auch so, dass man Hinweise etc. nicht mehr lesen kann. Komisches Volk hier...
Rostock-Warnemünde, Alter Strom.
09:15 Uhr, schon am Meer, leerer Strand. Geil! Letztes Bild vor dem Barfuß.
Oha, die schwimmende Kavallerie läuft aus! Die Annektion Dänemarks geht in die heiße Phase!
Die weißen Tauben sind Möwen.
Gegen 13 Uhr hat sich der Strand dann doch deutlich gefüllt, wie man im Hintergrund der Möwen-Bilder-Quattrologie erkennt. Zwar noch nicht so sehr, dass man Corona-mäßig Panik schieben müsste. Aber der unverstellte Blick auf den Horizont wird doch von immer mehr Sonnenschirmen, gestrandeten und vor Sonnencreme glänzenden Walrössern und anderen Bierbäuchen beeinträchtigt. Interessant, was manche Menschen so alles an den Strand schleppen. Man muss glauben, sie würden hier für die nächsten zwei Wochen sesshaft werden wollen. Außerdem merke ich, dass das Braten am Meer nicht wirklich gut für den aus Dagebüll mitgebrachten Sonnenbrand ist. Schon gar nicht, wenn man als Tribut an die kurze letzte Nacht zwischendurch auch mal kurz einnickt. 25°C und leichter Wind sind zudem die idealen Voraussetzungen, die aufkommenden Verbrennungen 3. Grades gar nicht zu bemerken. Bevor ich selbst aussehe wie ein Feuermelder rüste ich langsam ab, schieße noch ein paar Fotos und schaue, was die Deutsche Bahn AG denn an grobgalaktisch südfahrenden Zügen so alles im Angebot hat.
Warnemünde Werft, Kiss-Intercity nach Dresden. Dank Corona mal ohne die schwimmenden Plattenbauten Kreuzfahrtschiffe im Hintergrund.
Von Rostock bringt mich ein Wackel-Dackel-ICE nach Hamburg. Dort fährt gegenüber ein ICE 1 Richtung Stuttgart ein - ha, das passt ja! Also schnell rüber, und tatsächlich finde ich ein eigenes Abteil. Besser geht´s nicht, eine gepflegte Reise erwartet mich. Doch die Freude währt nicht lange: kurz vor Uelzen meldet sich der Lautsprecher über der Tür, es täte ihm leid, irgendwo bei Eschede wären Personen im Gleis. Wir würden jetzt erst einmal in Uelzen stehen bleiben, bis die Strecke wieder frei wäre.
Personen im Gleis! Weiterfahrt unbestimmt verzögert! Immerhin haben wir uns zum Abwarten den schönsten Bahnhof der ganzen Strecke ausgesucht.
Das ganze dauert dann doch deutlich länger als eine Stunde. Zudem wird meine Weißwurst ihren Zielort Stuttgart wegen der Verspätung heute ohnehin nicht mehr sehen, der Zuglauf würde, so der Lautsprecher, in Frankfurt am Main notgeschachtet werden. Hinter Göttingen kommt dann die Auskunft, es täte dem Lautsprecher sehr leid, der Zug würde nun schon in Kassel enden. Da auch das andere an Zügen, was da gerade so aus Norden nach Süden rollen soll, mit zum Teil mehrstündiger Verspätung unterwegs ist, wäre ich wohl erst irgendwann gegen Mitternacht in Stuttgart und müsste dann auch noch nach Hause fahren. Den eigentlich als Ziel für den Folgetag vorgenommenen Bodensee hätte ich heute erst recht nicht mehr erreicht. Irgendwie habe ich darauf keine Lust und beschließe ad hoc, mir meinen ICE als Vorbild zu nehmen und meine Fahrt wegen latenter Sinnlosigkeit ebenfalls in Kassel zu beenden.
So endet der Tag dort, wo ich eigentlich gar nicht hinwollte: in Kassel. Eine Stadt, durch die man meistens immer nur durchfährt. Die ziemlich hässliche Innenstadt kenne ich zwar schon, nicht aber den Teil der Stadt, der immerhin UNESCO-Weltkulturerbe ist: Den Bergpark Wilhelmshöhe, über dem majestätisch und unübersehbar der Herkules thront! Ihn möchte ich, wenn ich schon einmal hier bin, in Angriff nehmen. Die Straßenbahnfahrt vom Bahnhof Wilhelmshöhe, seines viel zu hohen Vordaches wegen, unter dem bei schlechtem Wetter der Regen durchpfeift, der "Palast der vier Winde" genannt, ist einmal mehr Nahverkehr zum Abgewöhnen: die auf dem Aushangfahrplan dargestellte Bahn endet unterwegs an einem Betriebshof, die dynamischen Anzeiger an den Haltestellen zeigen Züge an, die nie fahren und verkünden, dass bis etwa 18 Uhr Regelbetrieb herrschen würde - ziemlich sinnlos um 20:30 Uhr. Die Online-Auskunft wiederum kennt überhaupt keine Fahrten mehr zum "Park Wilhelmshöhe". Was also stimmt? Bevor ich hier noch stundenlang auf nicht verkehrende Bahnen warte, laufe ich zu Fuß los. Liebe KVG, das war leider überhaupt nichts!
Zumindest bis auf halbe Höhe zum Schloss steige ich empor und belohne mich mit einem herrlichen Blick über Kassel und das Fuldatal. Der Herkules kommt dann das nächste Mal dran. Vielleicht fährt dann auch die Straßenbahn wieder. Mit der nötigen Bettschwere - immerhin klingelte ja heute um kurz vor sechs Uhr früh der Wecker - falle ich gegen 22 Uhr in den Schlaf. Doch auch dieser soll nicht allzu lange dauern.
Kultur kann ziemlich anstrengend sein! Kassel von oben vom Schloss Wilhemshöhe. Betonung auf "Höhe".
Kassel-Wilhelmshöhe: Blick aus dem Zimmer auf den Palast der vier Winde (vorne), den Herkules (hinten) und den Mond (oben) - zu- oder abnehmend?
Tag 6:
Nun begrüßt mich der neue Tag also in Kassel! Das war zwar nicht geplant, hat sich aber so ergeben. Ich versuche, mir den Tag gleich am frühen Morgen zu versauen und stelle mir den Wecker auf 5 Uhr. Ein glatter Verstoß gegen das Erholungsgebot im Urlaub oder gar gegen die Genfer Menschenrechtskonvention. Dies aber nicht, um als früher Vogel Würmer zu fangen, sondern um zum Tagesauftakt die große Fuldabrücke bei Altmorschen, ein Stück südlich von Kassel gelegen, vor die Linse zu nehmen. Dort überquert die Schnellfahrstrecke Hannover - Kassel - Würzburg in kühnem Schwung das Fuldatal. Zur lichtbildnerischen Umsetzung eignet sich aufgrund des Sonnenstandes und der Bewaldung der umliegenden Berge allerdings nur der frühe Morgen und der Abend, und das natürlich auch nur im Sommer. Also: jetzt! Und wenn man schonmal hier ist und vor Ort so früh in den Tag starten kann...
Noch vor Sonnenaufgang übernehme ich einen zuvor gebuchten „Flinkster“-Carsharing-Wagen direkt am Bahnhof Wilhelmshöhe. Das klappt auch perfekt, bis ich zur Schranke an der Parkplatzausfahrt gelange. „Bitte Karte einschieben“ meint der Automat. Da ich aber zuvor nicht auf den Paktplatz aufgefahren bin, habe ich natürlich auch keinen Parkkarte. So etwas ist mir vor vielen Jahren mal an der polnischen Grenze passiert, als ich aus Polen ausreisen wollte, ohne vorher offiziell eingereist zu sein und mehrere Grenzbeamte mit diesem Problem (für sie jedenfalls) beschäftigt habe. Was nun? Im Auto finde ich eine Plastikkarte, wohl eine Sonder-Edition für Dauerparker, die ich dann in dem Schlitz versenke. Plastik mag der Automat aber offenbar gar nicht und spukt die Karte immer wieder aus, egal wie herum und mit welchem Nachdruck ich sie einschiebe. Zum Glück ist es morgens früh um 5 Uhr irgendwas, ansonsten hätte sich hinter mir sicher schon eine längere Schlange hupender Kraftwagen aufgereiht. In meiner Not halte ich die Plastikkarte einmal seitlich an den Automaten, wo eine schwarze Kontrastfläche zu sehen ist - und die Schranke öffnet sich! Na gut, so geht das also.
Diese blöde Aktion hat mich am Ende fast 10 min gekostet, aber über die morgendlich-leeren Straßen, zumal stadtauswärts, komme ich gut ans Ziel. Dieses lautet... Moment, noch einmal nachschauen... genau: Heina. Das ist ein winziges Dörfchen oberhalb der Brücke, wo nicht einmal ein regelmäßiger Linienbus hinfährt. Die Reiseauskunft schlägt Verbindungen vor, bei denen man zum Teil zwischen zwei Anruf-Sammel-Taxis umsteigen muss. So weit geht die Liebe zum Nahverkehr dann doch nicht. Da ist das Mietauto dann doch die klügere Wahl. Inzwischen ist auch die Sonne richtig über den Berg gekommen, auch der Morgen-Schlonz hat sich völlig aufgelöst, die Ausleuchtung ist prächtig. Von verschiedenen Standorten wird in der folgenden Stunde, so lange das Licht noch nicht rumgewandert ist, der ICE-Verkehr in Pixel umsortiert. Dankenswerter Weise kommt bis auf den „Dreier“ nahezu die ganze Bandbreite an ICE-Typen vorbei. Dabei wird es schon wieder richtig warm. Sonnenbrand morgens um halb sieben Uhr? Should´t be. In... äh, Heina City beginnt auch langsam das dörfliche Leben zu erwachen. Hähne krähen, Mama bringt den Nachwuchs im SUV zur Kita in die Zivilisation ins Tal hinunter, Trecker rücken mit schwerem Gerät aus. Die ICE-Züge, die unterhalb des Ortes in einem Tunnel verschwinden, scheinen da wie aus einem Parallel-Universum zu stammen.
Trotz Beton-Barock: Morgenstund hat Gold und das schönste Licht im Mund.
Wo ich den Wagen nun schon einmal habe, betreibe ich noch ein wenig Eisenbahn-Archäologie an der „Kanonenbahn“ und schaue bei der Regio-Tram vorbei, die nach dem „Karlsruher Modell“ die Kasseler Innenstadt auf Eisenbahnstrecken mit dem Umland verbindet.
Während rechts die Straßenbahn mit Getreide beladen wird, braust auf der Hauptstrecke der IC von Gera nach Köln vorbei (Melsungen).
Dann zieht es allerdings innerhalb kurzer Zeit zu. Auch das Bild von der großen Werratalbrücke bei Hedemünden, welches mir schon so lange Zeit vorschwebt, versinkt im leichten Nieselregen. Immerhin ist der nächste Zug einer aus den ehemaligen „Metropolitan“-Wagen, da drücke ich dann doch einmal ab. Beim Warten auf der Brücke über die sechsspurige Autobahn 7, immerhin Deutschlands längste Straße (Flensburg - Füssen) bekomme ich unfreiwillig einmal unmittelbar vor Augen geführt, wie wahnsinnig viele Lastwagen da unterwegs sind. Die rechte Spur ist quasi durchgehend von Lastern belegt. Sie liefern sich hier am Fuße der Kasseler Berge, mithin der ersten nennenswerten Erhebung seit der Kieler Förde, mitunter regelrechte Elefantenrennen über die Mittelspur. Wie kann man diese -zig Tonnen schweren Dinger nur "Brummis" nennen? Dicke Brummer sind das... Zu gerne hätte ich einmal einen Blick in die LKW geworfen, was die so alles transportieren. Äpfel aus dem Alten Land an den Bodensee? Dafür bayerische Milch nach Schleswig-Holstein? Und geschätzt ¾ der Fernlaster stammen aus Polen, Bulgarien und anderen osteuropäischen Ländern. Wieso wird da immer von „Verkehrsverlagerung“ gesprochen, von „Güter auf die Bahn“? Mit dem, was hier in den wenigen Minuten meines Wartens unter mir vorüber fährt, wäre die Eisenbahn völlig überfordert. Vielleicht wäre ja „Verkehrsvermeidung“ der bessere Weg. Offenbar ist Verkehr noch viel zu billig, dass sich so ein Irrsinn überhaupt lohnt.
Elefantenrennen in den Kasseler Bergen und der MET-IC(E) bei Mistwetter auf der Werratalbrücke Hedemünden.
Mit Blick auf das Satelliten-Wetter-Radar ist in den kommenden Stunden keine wirkliche Wetterbesserung zu erwarten. Also erfülle ich mir - wie gesagt: wenn man schon einmal dort ist - einen kleinen persönlichen Wunsch, den ich seit Jahr(zehnt)en vor mir herschiebe: den Besuch des Weser-Ursprungs. Die Weser hat bekanntlich keine eigene Quelle, sondern wird aus den Flüssen Werra und Fulda gebildet. Diese fließen hier, im äußersten südlichen Zipfel Niedersachsens, zusammen und bilden „deutsch bis zum Meer, den Weserfluss“. Ein paar Hundert Kilometer weiter nördlich habe ich vor grauer Vorzeit an jener Weser das elektrische Licht der Welt erblickt.
Hannoversch Münden, kurz: Hann Münden, entpuppt sich als ein wunderschönes Kleinstädtchen mit Charakter und viel Fachwerk. Also, sehr nett! Südlich der Stadt, die quasi im Zwickel von Werra und Fulda liegt, liegt dann der Weserursprung. Angenehme Erkenntnis dabei: man darf den Kraftwagen kostenlos auf einem nahen Parkplatz abstellen!
So sehe ich die junge Weser endlich einmal dort, wo sie geboren wird. Auf dem Weserstein ist das bekannte Gedicht eingemeißelt, auf anderen Tafeln wird über die Flüsse informiert und deren Namen philosophiert. Sogar ein winziger Ausflugsdampfer ist am Ufer vertäut, der wegen Corona aber momentan an der Kette liegt.
Erfreulicher Weise ist der Ort dabei aber überhaupt nicht überlaufen, sodass ich einfach einmal ein paar Minuten innehalten und meine Gedanken die Weser hinab schweifen lassen kann.
Endlich! Nach so vielen Jahrzehnten bin ich endlich einmal am Weserstein.
Man kann sich kaum vorstellen, dass dieses kleine Flüsschen später einmal riesige Seeschiffe auf seinem Rücken tragen wird.
Die Fulda ist sauer, weil sich aus ihrem Namen kein einziger Buchstabe im Namen "Weser" wiederfindet, von der Werra dagegen gleich, zwei... nein, drei!
Zufrieden verlasse ich diesen wirklich schönen Ort. Sodann lenke ich den Wagen zurück nach Kassel-Wilhemlshöhe und schaue, was da in Richtung Süden alles im Angebot ist - so langsam möchte ich zum Wochenende auch einmal wieder zu Hause vorbei schauen. Ziemlich fies ist dabei, dass gleich oben als erster Zug der Anzeigetafel der Intercity "Wattenmeer“ nach Westerland angeschlagen ist. So wie ein Lockruf der Nymphen: Folge meinem Ruf, es soll dir gefallen bei mir, folge meinem Ruf... Doch noch kann ich dem Werben um die Verheißungen des Meeres widerstehen. In ein paar Tagen wird das anders sein, doch das weiß ich in diesem Moment noch nicht. Da der ICE um 13:14 Uhr ein ICE 4 sein dürfte, auf den ich nun gar keine Lust habe, wird erstmal der Metzger/Fleischer/Schlachter (oder wie dieses Gewerbe in Nordhessen heißt) angesteuert. Dieser residiert im kleinen Einkaufszentrum neben dem Palast der vier Winde. Zum Glück gibt es an der "Heißen Theke" noch Mittagstisch. Das Ritual mit Registrierung und nur-jeden.zweiten-Tisch-besetzen beginnt, aber egal, das tote Tier schmeckt lecker und kompensiert auch das mehr oder weniger ausgefallene Frühstück heute früh.
Eigentlich soll man ja immer den nächsten Zug nehmen... Aber dem Werben des IC "Wattenmeer" widerstehe ich noch. Noch = sechs Tage. Ich weiß es nur noch nicht.
Der nächste in Frage kommende Zug ist dann ein guter alter ICE 1, moderat besetzt und mit einem freien Abteil extra für mich. Genau so habe ich mir das auch vorgestellt!
Gemütlich! Abteil im ICE1. Schade, dass danach fast nur noch Großräume gebaut wurden.
Unterwegs stelle ich fest, dass ich in Frankfurt am Main zufällig ziemlich exakt zu jener Zeit ankomme, zu der der erste modernisierte und wagenmäßig verkürzte ICE 1 auf den Plan treten müsste. Der hat genau heute seinen allerersten Einsatztag. So unterbreche ich die Fahrt erst einmal und schaue mir den kurze Zeit später bereit gestellten Bonsai-Einser an.
Zugegeben, wirklich anders sieht er nicht aus. Nur drei Wagen kürzer als üblich. Aber die Hauptsache ist: Der Einser fährt weitere zehn Jahre weiter. Mit seiner Mischung aus Abteilen und Großraum oder dem Panorama-Speisewagen ist er nun einmal das Maß der Dinge im ICE-Verkehr. Auch, wenn die DB mit jeder unbequemeren und ausstattungsmäßig abgespeckten Nachfolge-Generation das Gegenteil behauptet.
Der erste kurze ICE 1 vor langen Häusern, darunter auch eines der DB (rechts).
Der Rest des Tages ist schnell erzählt: nach der Begegnung mit dem kurzen Erstling fahre ich direkt nach Hause zurück, wo dann die familiären Pflichten warten - im Guten wie im Schönen. Aber das kennt ihr ja sicher selbst.
Tage 7 und 8:
Die nächsten Tag mache ich das, was mir die letzten beiden Tage - ja, selbst Schuld! - verwehrt blieb, nämlich: etwas ausschlafen. Ansonsten passiert bahnmäßig nicht so wirklich viel. Der Tag steht im Zeichen von lästigen Pflichten und Familie, wobei dies bitte natürlich nicht automatisch gleichzusetzen ist.
Tag 9:
Am darauf folgenden Tag schnappe ich mir die Söhne, denn heute möchte ich zumindest durch Inaugenscheinnahme etwas von den Früchten ernten, die ich neulich vom Deich in Dagebüll mit gepflanzt habe: Zugverkehr nach Pfullendorf mit der Albbahn. Wir steuern den Mittagszug an, wollen den Nachmittag in Pfullendof bleiben und da zum Beispiel im Seepark baden gehen, um dann mit dem Abendzug wieder zurückzufahren. Doch irgendwie will uns der Bahn-Gott nicht in Pfullendorf haben:
Zunächst ist der Zug nach Stuttgart - natürlich ein Dosto-Intercity, der seinem miesen Ruf bei der Zuverlässigkeit einmal mehr alle Ehre macht! - so viel verspätet, dass wir nur im Laufschritt den RE nach Tübingen erreichen. Mit dem müssen wir wegen Bauarbeiten bis Esslingen vorfahren, wo dann der RE nach Ulm wartet. Von Ulm aus ginge es dann nach Aulendorf und dort dann nach Pfullendorf. Nur leider fährt der Tübinger Zug nicht los! Ein ersichtlicher Grund ist nicht erkennbar, auch das Zugpersonal der Wedler-Franz-Logistik, die den Zug fährt, ist ratlos. Ich spreche den Schaffner auf das Problem des Anschlusses in Esslingen an, der das auch sofort begreift und bei der DB um Abwarten des Anschlusses ersucht. Irgendwann fahren wir mit 10 min Verspätung ab. Kurz vor Esslingen kommt der Schaffner nochmal durch den Zug. Wir wären nicht die einzigen mit dem Problem, aber die Transportleitung der DB hat den Anschluss abgelehnt! Na, prima! Damit reißt in diesem Moment unsere gesamte Reisekette! Wegen drei oder vier Minuten stranden wir mit einem Haufen anderer Fahrgäste in Esslingen. Wir fahren zunächst bis Plochingen weiter, falls da noch irgend ein IC hält - die Chancen sind gering, aber doch höher als in Esslingen. Schlussendlich landen wir in der - von den ganzen Ulm-Fahrgästen des RE gut gefüllten - Go-Ahead-Regionalbahn. Wir nehmen jede Milchkanne mit: Süßen, Kuchen und wie sie alle heißen. Dennoch wird die Fahrt sehr kurzweilig, denn Hans-Jürgen ist Zugbegleiter, und da gibt es immer eine Menge zu erzählen. So verkehrt die Zeit bis Ulm doch recht schnell. Als Bonbon werden wir noch durch das Dreieck via Ulm Rangierbahnhof umgeleitet, was Hans-Jörg den Fahrgästen auf launige Weise über Lautsprecher erklärt. Auch wir haben längst unser Programm umgestrickt. In Ulm steht erst einmal ein Mittagessen auf dem Programm, dann gehen wir etwas Klamotten-Shoppen, und auf Wunsch meines "Großen" besteigen wir den höchsten Kirchturm der Welt, das Ulmer Münster. Der "Kleine" war da schon oben und hat davon geschwärmt. Mir soll es recht sein, wenn die Jungs von sich aus solche Vorschläge machen!
In Münster, nein, in Ulm das Münster. Auch lang (167 Meter): der höchste Kirchturm wo gibt.
Auch wenn man wegen Corona noch nicht auf den engen Aufstieg bis ganz oben in die Turmspitze laufen darf, so ist der Ausblick grandios. Im Stillen ziehe ich meinen Hut vor den Baumeistern der Altvorderen, die ohne technische Hilfsmittel, Rechner und Maschinenkraft solche Bauwerke für die Ewigkeit erschufen. Wer immer diese bezahlt hat... Am Nachmittag gehen wir unter dezidierter Berücksichtigung einer am Wege liegenden Eisbude zum Bahnhof zurück, um zumindest mit dem Abendzug nach Aulendorf zu fahren.
Blick auf und um Ulm herum.
Immer wieder interessant: klassische Eisenbahn, hier beim Lokwechsel in Ulm.
Die Heulsuse vom obigen Bild bringt uns in den oberschwäbischen Bahnknoten Aulendorf. Und tatsächlich: Mit dem Triebwagen der Schwäbischen Alb-Bahn GmbH besteht Anschluss auf die "Räuberbahn" nach Pfullendorf, eine bereits kurz vor dem Abbau stehende Bahnstrecke, die durch bürgerschaftliches, kommunales und das Engagement vieler Fürsprecher gerettet und seit 2009 behutsam entwickelt werden konnte. Vor 11 Jahren habe ich selbst noch mitgeholfen, die zugewachsene Strecke freizuschneiden. Viel ist seither passiert, viel wurde gemeinsam erreicht, und so hängt doch irgendwie auch ein Stückweit Herzblut an dieser kleinen Bahn. Und weil viele Eisenbahnfreunde - also: echte Freunde dieser Eisenbahn, nicht nur Fotografen und Nummern-Spotter! - genauso ticken, fährt hier heute auch der Zug der Albbahn. Wir steigen ein. Frank als Eisenbahn-Betriebsleiter fährt selbst. Auch andere bekannte Gesichter sind an Bord, aber trotz der in der Kürze der Zeit kaum möglichen Kommunikation finden auch einige "normale" Reisende den Weg in den schmucken NE81-Triebwagen.
Und er fährt tatsächlich: Zug der Schwäbischen Alb-Bahn nach Pfullendorf, vor einer Woche planerisch vorbereitet vom Deich in Dagebüll.[/b}
[b]Nebenbahn, analoge Bahnübergangs-Sicherung.
In Pfullendorf haben wir nun natürlich keine Zeit mehr für irgendwelche Aktivitäten, denn schon geht es zur letzten Fahrt des Tages zurück, nun durchgehend bis Ulm. Den ganztägigen Pfullendorf-Besuch holen die Jungs und ich ein paar Wochen später nach (natürlich auch mit dem Zug, und da klappt auch alles), als wir zum Fußball-Golf an den Pfullendorfer Seepark gehen. Man glaubt kaum, wie schnell sechs Stunden bei so etwas vergehen können. Und ohne die "Räuberbahn" wären wir wohl auch nie auf die Idee gekommen, am Wochenende nun ausgerechnet nach Pfullendorf, einem kleinen badischen Städtchen im Grenzland zu Hohenzollern und Oberschwaben (wo früher die Räuber hausten) zu fahren!
Künstliche Intelligenz mit ziemlich blödsinniger Anzeige. Merkt das denn keiner?
Zurück in Ulm. Nett war´s! Auf dem linken Zug steht fälschlicher Weise SWEG statt HzL.
Tag 10:
An diesem Montag unterbreche ich meinen Urlaub ein paar Stunden und gehe arbeiten. Das heißt: ich fahre arbeiten, und zwar zu einem Termin in Waldshut am schönen Hochrhein - ganz im Süden der Republik und somit der geografische Kontrapunkt zu Dagebüll oder Warnemünde. Dort soll heute mit dem Landkreis, dem Verkehrsministerium und der DB Regio AG über ein Projekt entschieden worden, an dem ich seit vielen Jahren arbeite, und da möchte ich dann doch schon zugegen sein. Also zur Abwechslung einmal das Hemd angezogen und einen (hoffentlich) guten Eindruck gemacht. Das sogar offenbar mit Erfolg, denn ab 2022 werden die Neigezüge auf der Achse Basel - Waldshut - Singen - Friedrichshafen tatsächlich durch Doppelstockzüge mit der Heulsuse 245 ersetzt. Auf dass diese Linie nach 20 Jahren endlich einmal stabil laufe und auch die Radfahrer an den Bodensee adäquat befördert werden können.
Ausgesprochen zufrieden verlasse ich die Sitzung, die deutlich eher zuende ist als gedacht. So fahre ich mit Dietmar, meinem Chef, einmal die jüngst für den Schülerverkehr reaktivierte Wutachtalbahn nach Stühlingen und zurück. Zufällig hat Michael an diesem Nachmittag Dienst als Lokführer, sodass Dietmar die aktuellen Informationen über Strecke und Projekt aus allererster Hand erfährt. Und mit Tempo 80 über den - top liegenden! - badischen Stoßlückenoberbau zu jagen... ha, da macht Eisenbahn Spaß! Rund 25 Schüler nutzen den Zug trotz Corona ins Tal, den es vor einem guten halben Jahr noch gar nicht gab. Tote Gleise behutsam wieder wachzuküssen, deren Züge dann auch wirklich von den Menschen genutzt werden, den Bedenkenträgern zu zeigen "doch, das geht!" und gemeinsam mit den Fürsprechern schrittweise auf den einst rostigen Schienen das Angebot auszubauen - das erfüllt mich jedes Mal wieder mit einer tiefen Genugtuung!
Frisch reaktiviert, und der Zug hält am neuen Bahnsteig direkt vor dem Schulzentrum (links): die Untere Wutachtalbahn in Stühlingen. Gleise verpflichten!
Anschließend bewege ich mich schon einmal in Richtung Osten. Ein echtes Ziel habe ich nicht, außer dass ich morgen Abend um 20 Uhr in Berlin sein will. Fahre ich noch einmal nach Hause? Oder gleich nach Berlin, Ankunft dann aber ziemlich spät? Oder schaue ich, im Nachtzug noch eine Schlafstatt zu bekommen? Der in diesem Moment einfahrende IRE nach Friedrichshafen (noch ist es ein 612. Noch!) erlöst mich von dem Gedanken-Rangieren, denn in den steige ich erst einmal ein. Die schwarz-weiß-gelbe Krawallschachtel schüttelt mich via Schaffhausen und entlang des Bodensees nach Friedrichshafen.
Schaffhausen, das schlechteste Foto der Tour. Warum habe ich das gemacht? Immerhin der Beweis: die Hochrheinstrecke führt durch die Schweiz.
Würzig: Singen am Hohentwiel. Sollte besser Würzburg heißen.
Beim Blick auf das kristallklare Wasser direkt neben den Gleisen komme ich heftigst ins Grübeln, ob ich nicht doch einfach aussteigen und da reinspringen soll. "Leider" sitze ich in einem Expresszug. Der hält an den interessanten Stellen nicht und nimmt mir die Entscheidung ab.
Hmm... jetzt aussteigen und da reinspringen... das wär´s!
Nach einem Umstieg in Friedrichshafen Stadt in einen rappelvollen RS1 bin ich schließlich in Lindau, dem bajuwarischen Zipfel des Bodensees. Dort, wo sich die Berge der Alpen schon sehr nahe an den See heran schieben. Ich habe ein paar Minuten Zeit beim Umsteigen und schlendere einfach einmal ein wenig über die Hafenmole. Immer wieder eine herrliche Kulisse, der Blick auf den See in Lindau! So irgendwie muss "Urlaub" aussehen, wenn man das Wort malen müsste.
Lindau, weiter Himmel, drei Länder.
Auf die Fahrt von Lindau nach München freue ich mich irgendwie, denn ich komme zufällig in die „Alex-Stunde“. Das heißt: kein dröhnender Neigezug, auch kein steriler Großraumwagen eines Schweizer Eurocitys erwartet mich. Der Alex, „Allgäu-Express“, dürfte Deutschlands bequemster Regionalzug sein, er ist vollständig aus klassischen Schnellzugwagen gebildet! Das erste Stück, den Aufstieg vom Bodensee hinauf bis Hergatz, muss ich baubedingt mit einem wieder rappelvollen RS1 vorfahren. Doch dann beziehe ich ein kleines, plüschiges Abteil in einem Bm-Abteilwagen - jenem Wagentyp, in dem ich als Jugendlicher Tausende, Zehntausende Kilometer durch Deutschland und Europa gefahren bin. Die Sitze sind zwar neu bezogen, und im Gang künden Info-Monitore von der neuen Zeit. Aber das Fluidum, das Heimelige, was modernen Bahnfahrzeugen so völlig abgeht, es wohnt diesem Wagen nach wie vor inne.
Abteil im Bm des Alex. Mein Zuhause für die nächsten zweieinviertel Stunden.
Vertrauter Anblick von -zig-tausenden Bahnkilometern. Seitengang im Bm.
So genieße ich mit jedem Kilometer diese Fahrt. Eigentlich stehe ich mehr am offenen Fenster, wo sich mir das Allgäu bei Kaiserwetter präsentiert. Auch ohne Klimaanlage, Systemsitze oder Steckdosen: irgendwie ist das echte Reisekultur! Oder bin ich mit dieser Meinung womöglich alleine, hoffnungslos aus der Zeit gefallen?
Durchs Allgäu, Sonne im Gesicht und Wind in den Haaren. Zugfahren kann so schön sein!
Immenstadt. Darüber der Hausberg des Allgäus, der Grünten.
Da ich, voll im Sinne der ganzen Corona-Empfehlungen, antizyklisch unterwegs bin - um die Zeit fahren die Menschen eher aus München heraus als in die Stadt hinein - bleibe ich bis zur Endstation alleine im Abteil. In der Weltstadt mit Herz, wie sich München in einer Eigenwerbung nannte, ist es auch am hereinbrechenden Abend noch so warm, als wolle sich der Sommertag nicht aus der Stadt vertreiben lassen.
Einer der schönsten Plätze um diese Zeit, nicht nur für Bahn-Infizierte, ist das Tragwerk der Donnersberger Brücke. Sie überspannt in mehreren Bögen das Gleisvorfeld vom Hauptbahnhof. Abends setzt "man" sich auf eine Längsverstrebung auf halber Höhe, dazu etwas Kühles zu trinken (oder etwas zu rauchen) und... ja, ist einfach da und genießt den Tag. Alleine, meist zu zweit, in Gruppen... Ich bin heute alleine hier und lasse einfach einmal die Seele baumeln. Auch, wenn das gar nicht so einfach ist bei dem bunten Treiben der Menschen um mich herum und bei dem, was da so alles unter mir hindurch fährt.
Sommerabend in München. Hier beginnt der Süden!
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