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Moderatoren: Klaus Habermann - JensMerte - TCB
Seiten: 1 2 All Angemeldet: -
Hallo Eisenbahnfreunde,

zuerst einmal Euch ein Frohes, Neues Jahr!


Neulich war ich mal wieder am Askanischen Platz und habe mir bei dieser Gelegenheit das Portikus-Denkmal beziehungsweise das Relikt vom früheren Anhalter Bahnhof angeschaut und dabei einige Dinge entdeckt, von denen ich Euch gerne schreiben mag.


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Am Askanischen Platz führt dieser zum Verweilen einladende Weg direkt zum Denkmal. Der in den Jahren 1875 bis 1880 entstandene, von Franz Schwechten (1841- 1924) entworfene Anhalter Bahnhof war einst der repräsentativste Berliner Kopfbahnhof und ein recht bedeutendes Wahrzeichen der früheren Reichshauptstadt. Ende der 1950er Jahre wurde das imposante Gebäude bis auf den Portikus vom Senat gesprengt und abgetragen.


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Das Betrachten des Denkmals ist für mich nicht immer ein durchweg positives Erlebnis, denn der heutige Ort ist mit einer Art Verlusterfahrung konnotiert. Das Fragment kann vor dem Hintergrund des früheren Geschehens (Reisekultur, Fernweh, Betrieb etc.) auch mit Leere/Stillstand in Verbindung gebracht werden. Das würdevolle, etwas aus der Zeit gefallene Denkmal wird am Askanischen Platz direkt von unserer Zeit, der der Automobilität nachwievor allerhöchste Priorität einräumt, aus dieser Perspektive regelrecht eingeholt und verstellt.


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Komischerweise fielen mir erst letztens die vielen Einschusslöcher an diesem Sockel auf. Diese Spuren dürften noch von den schweren Kämpfen der letzten Kriegstage herrühren. Kurz nach dem Krieg entstandene Luftaufnahmen belegen, dass um den Anhalter Bahnhof herum nur noch Gebäudetrümmer standen, was man sich heutzutage wegen der restlosen Beseitigung jener Kriegsschäden und in Anbetracht vieler Neubauten nur noch schwer vorstellen kann.


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Mittlerweile befinden sich an der Ruine auch solche Graffitis, die wiederum Zeichen der Zeit sind und vergleichbar mit den vorher gezeigten Einschusslöchern Spuren am Denkmal darstellen. Sie sorgen aufgrund ihrer Vulgarität und ihrer mittlerweile massiven Verbreitung im öffentlichen Raum bei vielen für Empörung und sind als zeitgenössische Realitätsfragmente zu dokumentieren und in diesem Kontext meiner Ansicht nach auch bildwürdig.


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Bemerkenswert sind am Portikusfragment auch diese beiden Stelen von denen die hintere, aus dem Jahre 2008 stammende, an die vom Anhalter Bahnhof ausgehenden Judendeportationen erinnert. Die davor aufgestellte Stele (rechts), auf der die Schauseite des Bahnhofs zu erkennen ist, dürfte neueren Datum (Ende 2019?) sein und informiert über die Gesamtgeschichte des Bauwerks. Beachtlich finde ich die weit auseinanderliegenden Aufstellungsdaten der Stelen und damit auch die sich im Laufe der Zeit ändernden Erinnerungsprioritäten vor Ort!

Beide Stelen wurden vom Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg aufgestellt, die erste in Zusammenarbeit mit dem damals Regierenden Bürgermeister von Berlin und der Senatskanzlei für Kulturelle Angelegenheiten, die zweite zusammen mit der Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin.

Mit Blick auf das neu entstandene Berliner Stadtschloss bin ich gespannt, was sich am Portikus in den nächsten Jahren noch so tun wird, wer weiß, wer weiß…


Viele Grüße,
Marc

Noch ein paar sehenswerte Details zum 01.01.2020

geschrieben von: EP 5

Datum: 01.01.20 12:42

Hallo,


die wirklich schönen Seiten des Denkmals kamen im ersten Teil meines Beitrages etwas zu kurz, so dass ich noch einmal gerne das eine oder andere Bild hinzufügen möchte.


IMG_6929.JPG

Beim Betrachten des Eingangsbereiches wird einem die opulente, kaum Kosten scheuende Gestaltung des Bahnhofes von einst bewusst. Ich finde, dass alleine schon das gewählte Baumaterial und dessen Farbigkeit Schönheit verkörpern. Man wird sogleich an die prächtigen Renaissance-Architekturen Italiens erinnert, von denen sich Franz Schwechten mit hoher Wahrscheinlichkeit hat inspirieren lassen.


IMG_6020.JPG

Dieses Foto zeigt einen Formziegel mit vegetabiler Ornamentik. Jene Formziegel wurden in den Greppiner Werken hergestellt, die ca. 140 südwestlich von Berlin Wolfen lagen. Der Anhalter Bahnhof besaß unterschiedliche Formziegel (Terrakotten) in Form von aufwändig gestalteten Konsolen, Schlusssteinen, Kandelabern und Brüstungsreliefs mit Städtewappen. Bei dem hier gezeigten Exemplar scheint es sich wegen des guten Erhaltungszustandes um eine Replik zu handeln.


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Wie diesem Schild zu entnehmen ist, wird das Denkmal von der „Deutschen Stiftung Denkmalschutz“ gefördert. Ich gehe davon aus, dass die Erhaltung des Portikus immer wieder Wartungsarbeiten erfordert, die unter anderem von der oben genannten Institution mitfinanziert werden und an dieser Stelle mal erwähnt werden sollte.


IMG_1193.JPG

Zum Schluss noch eine Aufnahme von der Denkmal-Rückseite aus der Ferne, die noch einmal einen Vergleich zwischen diversen Architekturen aus unterschiedlichen Epochen zulässt. Dem Bahnhof gegenüber lag mal das sich dezent am Askanischen Platz einfügende Hotel-Excelsior. Der sogenannte Excelsior-Tunnel, den man unter anderem über einen Fahrstuhl vom Innenbau der Bahnhofshalle erreichen konnte, führte auf direktem Wege zum oben genannten Hotel.


Schöne Grüße,
Marc


my images013 - verknüpfung (4).jpg

Re: Noch ein paar sehenswerte Details zum 01.01.2020

geschrieben von: dampfbahner

Datum: 01.01.20 21:48

Vielen Dank für die Beiträge. Was für ein herrliches Gebäude das mal war. Schön, daß dieser Rest erhalten wird.

Gruß aus Magdeburg

Klaus




1-mal bearbeitet. Zuletzt am 2020:01:01:21:49:41.

Würde ist unvergänglich

geschrieben von: Bernd Mühlstraßer

Datum: 01.01.20 23:32

Hallo Marc,

danke für Deine Fotos. Diese zeigen mir mal wieder, das "echtes Leben" mehr ist als ein Foto. Die Aufnahmen zeigen nämlich einerseits die gewisse Tristesse, die dieser Platz seit dem Abbruch des Anhalters ausstrahlt. Und gleichzeitig - du weißt ja, dass ich dort häufig zu finden bin - empfinde ich im "realen Leben" genau das NICHT an dieser Stelle.

Der Portikus ist für mich immer "der erste Blick" in Berlin, wenn ich die Rolltreppe vom S-Bahnhof hochfahre. Und dann erhebt sich dieser Mauerrest sehr oft aus diesem Grau und der Öde heraus. Im Abendlicht ist erstrahlt er in einer Brillianz, als wäre er eben erst erbaut. Seit Frühjahr strahlt er auch in der Nacht wieder. Unter dem Eingangsgewölbe stehend, wenn man in Längsrichtung blickt, erscheint er einem fast unversehrt. Der Blick durch seine Eingangstore auf die nach wie vor futuristische Shilouette des Tempodroms (das im übrigen eine sehr angenehme Konzertlocation ist) ist eine faszinierende Zeitreise. Und immer wieder: Der Portikus "lebt": Heute strahlt er, morgen wirkt er archaisch, dann wieder trist und unscheinbar.

Die von Dir angesprochene, zweite Erinnerungstafel ist mir im übrigen noch gar nicht aufgefallen. Im Spätherbst wurde der Weg zwischen S-Bahn-Ausgang (wo der Imbisswagen des Fussballvereins steht) und Tempodrom saniert. Offensichtlich ist die Tafel nach Abschluss der Arbeiten neu aufgestellt worden. Schön, wenn dort auf den bedeutenden Bahnhofsbau verwiesen wird. Bislang mussten sich zufällig vorbeikommende Touristen eher zusammenreimen, was dieses Fragment letztlich darstellen soll.

Was die Zukunft dieses Ortes bringen wird, da sind wir ja gemeinsam am "Strippenziehen".....

Bernd

in den 80ern war die Tristesse im übrigen noch ein ganzes Stück größer....
52Anhalter.JPG

Ausblicke am Anhalter
IMG_9744.jpg

Bernd Mühlstraßer

Ein paar VIDEOS der BAUREIHE E69 - z.B.hier:
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2-mal bearbeitet. Zuletzt am 2020:01:01:23:35:14.

Re: Würde ist unvergänglich

geschrieben von: Markus Heesch

Datum: 02.01.20 15:21

Bernd Mühlstraßer schrieb:
Der Blick durch seine Eingangstore auf die nach wie vor futuristische Shilouette des Tempodroms (das im übrigen eine sehr angenehme Konzertlocation ist) ist eine faszinierende Zeitreise [...] Bislang mussten sich zufällig vorbeikommende Touristen eher zusammenreimen, was dieses Fragment letztlich darstellen soll.
Moin nach Berlin,

ein Bekannter aus Chicago, der seit einem Jahr in Berlin lebt, war neulich beim Spazierengehen der Meinung, das Tempodrom sei eine Kirche. Vielleicht sollte man da auch mal eine Tafel aufstellen :P

Frohes neues Jahr!

Re: Würde ist unvergänglich

geschrieben von: Frank Schönow

Datum: 02.01.20 18:50

Markus Heesch schrieb:
Moin nach Berlin,

ein Bekannter aus Chicago, der seit einem Jahr in Berlin lebt, war neulich beim Spazierengehen der Meinung, das Tempodrom sei eine Kirche. Vielleicht sollte man da auch mal eine Tafel aufstellen :P

Frohes neues Jahr!

In den USA würde man solch ein Bauwerk wie das Tempodrom auch als Kirche nutzen, so Unrecht hat dein Bekannter da nicht.

Frank aus der Prignitz
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Eisenbahn ist für mich Freizeit, nicht Lebensinhalt!

Tillig-Elite und Weinert-MeinGleis haben vorbildorientiert keine Herzstücke - Weisheiten eines Spielbahners

La Tortuga (Die Schildkröte) war vielschichtig!

geschrieben von: EP 5

Datum: 03.01.20 07:27

Hallo,


zuerst einmal vielen Dank für Eure Rückmeldungen!

Ich möchte gerne auf Bernds Aufnahme von der Installation mit dem Titel „La Tortuga“ des Fluxus Künstlers Wolf Vostell [de.wikipedia.org] eingehen.

Vermutlich stieß schon 1987 die Installation in Form einer auf den Kopf gestellten, ehemaligen deutschen Kriegslok der Baureihe 52 (52 2751) bei vielen auf Ablehnung.

Bernd assoziiert „La Tortuga“ mit Tristesse, was meiner Ansicht nach verständlich ist. Schließlich nahm sie meiner Ansicht nach direkten Bezug auf die gesellschaftpolitischen Ereignisse (Zweiter Weltkrieg, Teilung), die unter anderem zum Verlust des einstigen Bahnhofs beziehungsweise zur heutigen, mich - im Vergleich zur Vorkriegszeit - immer noch wenig überzeugenden Situation am Askanischen Platz führten. Das Verschwinden des einst riesigen Bahnhofs war doch eine groteske Geschichte, die sich in der etwas hilflos erscheinenden Lok wiedespiegelte.

Ich persönlich bin der Meinung, dass das zum Nachdenken anregende Werk von Wolf Vostell diesen Ort ausgezeichnet ergänzte und ihm sogar etwas Würde verlieh! Den heutigen Fußballplatz, den ich wie die grauen Hochhäuser am Askanischen Platz vom Erscheinungsbild her etwas seelenlos/pragmatisch finde, könnte man im Gegensatz zum Kunstwerk auch als Banalisierung von Geschichte betrachten.


Schöne Grüße,
Marc

Re: La Tortuga war vom Künstler anders geplant

geschrieben von: Michael Staiger

Datum: 03.01.20 19:37

Hallo zusammen,

der Künstler wollte zur Erstellung seines Werks „La Tortuga“ eigentlich eine Grube (Bombentrichter?) ausheben und die Lok da so hineinkippen daß sie kopfüber liegenbleibt. Das hatte damals aber große Proteste von Dampflokfans hervorgerufen, was dann letztendlich zu dieser m. E. nun eher lächerlichen "Installation" führte.
Auch am jetzigen Aufstellungsort in Marl ist man dann auf die eigentliche Vorstellung des Künstlers nicht sonderlich eingegangen, erstellte anstatt der Grube nur so eine Art Tiefgarageneinfahrt - das "Werk" sieht so halt viel ordentlicher aus.

Gruß
Michael



2-mal bearbeitet. Zuletzt am 2020:01:03:19:42:42.

Re: Noch ein paar sehenswerte Details zum 01.01.2020

geschrieben von: E10 444

Datum: 04.01.20 02:17

Vielen Dank für diesen ausführlichen Beitrag!

Re: La Tortuga war vom Künstler anders geplant

geschrieben von: EP 5

Datum: 04.01.20 11:01

Hallo Michael,

danke für Deine Rückmeldung!

Ich kann mir gut vorstellen, dass der aus der Eisenbahnstadt Wuppertal stammende Vostell mit der Lok vor Ort eine Performance vorhatte, wie Du sie angesprochen hast. Der Künstler hatte mal in Wuppertal im Jahre 1963 bei einer ähnlichen Kunstaktion die Güterzuglok 50 3115 mit hoher Geschwindigkeit auf einen quer auf dem Gleis stehenden Mercedes prallen lassen. Davon gibt es vier Bilder, die im Buch „Kunst des 20. Jahrhunderts, Band II“ (Köln 2005) auf Seite 584 zu sehen sind.

Jedoch kann ich mir kaum vorstellen, dass ihn Eisenbahnfreunde von der, von Dir beschriebenen Aktion am ehemaligen Anhalter Bahnhof hat reinreden lassen, eher von den Behörden wegen sicherheitstechnischer Bedenken. Da ich mich für den Entstehungsprozess von „La Tortuga“ interessiere, möchte ich Dich bitten, mir/uns mal die Quelle zu nennen, aus der die Information zur Vorgeschichte mit den protestierenden Eisenbahnfreunden stammt.

Du hattest geschrieben, dass von dem Kunstwerk am früheren Anhalter Bahnhof eine lächerliche Wirkung ausging. Vielleicht könntest Du Deine Aussage hier noch einmal präzisieren? Inwiefern findest Du die auf die Geschichte beziehungsweise auf die meiner Ansicht nach verquere Situation des Ortes einst eingehende Skulptur lächerlich?


Viele Grüße,
Marc

Vielen Dank für die Rückmeldung! (o.w.T)

geschrieben von: EP 5

Datum: 04.01.20 11:02

(Dieser Beitrag enthält keinen Text)

Re: La Tortuga war vom Künstler anders geplant

geschrieben von: Michael Staiger

Datum: 04.01.20 11:39

Hallo Marc,

hab diese Infos aus einem damaligen Eisenbahn Magazin, dort wurde auch ein von Vostel erstelltes Modell gezeigt, bei dem die Lok rücklings in einem Krater lag. Und ebenda wurden dann auch die Proteste gegen die Zerstörung einer historischen Lok erwähnt die dann letztendlich zu dieser vereinfachten, m. E. entstellenden Darstellung des Werks von Vostel führte.
Diese ausgeführte "Darstellung" dessen, was Vostel eigentlich zeigen wollte, empfinde ich deshalb als lächerlich, weil damit seine eigentlich vorgesehene Darstellung von Krieg und Zerstörung durch die "ordentliche Aufstellung" - genau 180° gedreht und genau waagerecht - konterkariert wurde und wird.
Leider hab ich meine alten EM´s schon vor Jahren entsorgt, so daß ich den Erscheinungstermin des Beitrags nicht genau benennen kann. Es war m. E. im Jahr der Aufstellung des Werkes in Berlin?
Wenn da vielleicht jemand helfen könnte, der die Hefte noch hat, gern auch per PN, würde ich mich sehr freuen.

Gruß
Michael



1-mal bearbeitet. Zuletzt am 2020:01:04:11:42:52.
Meine ersten Erinnerungen an den Anhalter reichen zurück bis in die späten Fünfziger, als ich an der Hand meiner Großmutter an diesem Bauwerk vorbeiging, das damals zwar noch stand, aber schon zum Abbruch vorbereitet wurde. Ich habe nur wenig Erinnerung an diesen Moment, im wesentlichen nur, daß mich diese kolossale Bauwerk zu erdrücken schien und daß meine Oma ziemlich herablassend bis verständnislos auf meine Fragen antwortete, weil sie sich nicht vorstellen konnte, daß ein fünfjähriger Knirps etwas nicht wissen konnte, was sie als Sechzigjährige wusste.

Runde zehn Jahre später begann ich dann, auf eigene Faust das ganze Areal zu erkunden. Die Bahnsteige waren noch gut sichtbar, das Stellwerk Abf und die Brücken über den Kanal noch vorhanden, eine davon allerdings stark beschädigt, und dort, wo früher die Streckengleise lagen, also zwischen Güterbahnhof und Bw, war eine helle, weiße Sandfläche, unter der die frisch gebaute neue U-Bahn lag, die heutige U 7. Im Bw selber wuchs langsam das Unkraut, mit der Verdieselung West-Berlins anno 64 waren die Anlagen überflüssig geworden. Auf dem Güterbahnhof war noch relativ reger Betrieb, und im Postbahnhof war richtig action. An den Betonmauern vor dem Tunnelmund der Kellerbahn Richtung Yorkstraße waren mehrere Reihen schräger Einschusslöcher zu sehen, offenbar MG-Garben.

Ich habe, wann und wie immer es ging, mich mit der Geschichte dieser Anlagen - Potsdamer und Anhalter - beschäftigt, habe ihre letzten Spuren gesehen, die von einstiger Bedeutung zeugten, das letzte Aufzucken des Potsdamer Güterbahnhofs beim Bau des Regierungsviertels und der Denkmäler des Kapitalismus am Potsdamer Platz, und schließlich die Umwandlung in die heutigen Grünanlagen. Man wusste ja so wenig darüber, Literatur gab es eigentlich nicht, zumindest war sie mir nicht bekannt und zugänglich, der erste war Kurt Pierson, der 1969 etwas Licht in das Dunkel brachte. Heute sind für mich die wenigen Relikte, die die Zeiten überdauert haben, Beleg einerseits für die Sinnlosigkeit von Ideologien und andererseits für die Sinnlosigkeit, Ideologien mit Waffen bekämpfen zu wollen.

Hinweis: Beitrag kann Spuren von Ironie enthalten.

Erinnerungen...

geschrieben von: Bernd Mühlstraßer

Datum: 04.01.20 16:59

Hallo Nietenreko,

vielen Dank für Deine hier geteilten Erinnerungen an Deinen ersten Kontakt zum Anhalter.

Ich war 1982 zum ersten Mal dort, da war das Bw ein Paradies für Romantiker und Dornrößchen, der Ahb Güterbahnhof eine Ruine und zwischen all dem grünen Dschungel tobte auch damals noch der Bär am Postbahnhof. Die Ehrfurcht vor den Besitzverhältnissen der Reichbahn-Anlagen verhinderte, das umzäunte Bahnsteiggelände vom Anhalter Bahnhof zu erkunden. Aus heutiger Sicht eine böse Unterlasungssünde. Das freie Feld vor dem Portikus hatte ich allerdings als sehr triste Öde empfunden. Das Tempodrom war damals ja noch am Potsdamer Platz, der Fussballplatz noch nicht angedacht, Deutschlandhaus noch nicht renoviert, das Excelsior-Haus wirkte noch bombastischer wie heute - ein ziemlich unwirklicher Raum...

Heute empfinde ich Umfeld und Platz etwas freundlicher, und der zugängliche Bahnsteigbereich ist zwar nicht mehr so geheimsvoll wie damals, aber doch ein interessantes Zeitfenster. Und da meine Phantasie sehr reisefreudig ist, kann ich dort immer in die guten alten Zeiten eintauchen... Genau dafür braucht man solche Orte, auch, oder gerade weil sie nicht perfekt durchgestylt sind. Insofern hätte ich sogar Zweifel, ob mich ein wiederaufgebauter Bahnhof so fazinieren würden, wie der Charme des Vergessenen. Nur - diesen Platz in eine Neubebauung zu intergrieren, halte ich für eine Schändung. Entweder Mahnmal, oder Rekonstruktion. Auf keinen Fall ein Auslöschen der Dimenssion, des ruinösen Mahnmals

Bernd

Bernd Mühlstraßer

Ein paar VIDEOS der BAUREIHE E69 - z.B.hier:
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1-mal bearbeitet. Zuletzt am 2020:01:04:17:01:21.

Ach so…:-)

geschrieben von: EP 5

Datum: 04.01.20 19:33

Hallo Michael,

vor dem Hintergrund, dass die von Dir favorisierte und vom Künstler geplante Variante mit dem „Krater“, die Krieg und Zerstörung darstellen sollte, nicht zur Ausführung kam, kann ich Deine eher negierende Einstellung gegenüber dem weniger spektakulären Kunstwerk mit der aufgeständerten Lokomotive „auf dem Rücken“ gut verstehen.

Zwischen den beiden Versionen besteht doch ein ganz schöner Unterschied, und es wundert mich, dass Vostell aufgrund von Protesten bei dem Werk diesen Kompromiss einging. Wobei ich mit der zur Ausführung gekommenen Variante auch noch etwas anfangen kann.

Danke für Deine Quellenangabe, schade, dass Du das Heft-Exemplar nicht mehr hast.

Manchmal stoße ich in Berliner Antiquariaten noch auf ältere Jahrgänge vom Lok-Magazin, in denen immer wieder lesenswerte und fundierte Artikel unter anderem von Alfred B. Gottwaldt über eisenbahnhistorische Themen auftauchen.


Viele Grüße,
Marc

Re: Ach so…:-)

geschrieben von: Michael Staiger

Datum: 09.01.20 12:30

Hallo Marc,

habe von der EM-Redaktion erfahren daß der von mir erinnerliche Beitrag wohl in Heft 12/87 abgedruckt ist. Vielleicht hat einer der Leser das Heft noch greifbar und könnte bitte mal nachschauen, würde mich sehr freuen?

Gruß
Michael

Bilder BW Anhalter Bahnhof

geschrieben von: Hecke

Datum: 14.01.20 18:09

Ich weise mal auf einen alten Faden von mir im historischen Forum hin;
Bilder vom Rangierbahnhof und vom BW bevor das Museum eingezogen ist.

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Re: Ach so…:-)

geschrieben von: Michael Staiger

Datum: 31.01.20 08:50

Hallo "La Tortuga"-Interessierte,

hab zwar noch nicht den auslösenden Bericht zum Projekt des Künstlers Vostell gefunden, aber zwei nachfolgende Beiträge im Eisenbahn-Magazin vom September 1987:

https://s19.directupload.net/images/200131/gddm5jyp.jpg

https://s19.directupload.net/images/200131/9ykne3b7.jpg

Der wohl eigentlich die "Entrüstungsstürme" auslösende Beitrag muß wohl schon 1986 veröffentlicht worden sein? Vielleicht hat noch jemand dieses Heft und kann uns den Beitrag zeigen? Die EM-Redaktion ist damit einverstanden, wenn man eine Quellenangabe macht.

Gruß
Michael

Danke!

geschrieben von: EP 5

Datum: 31.01.20 14:35

Hallo Michael,

danke für die interessanten Dokumente, die Du dem Beitrag angefügt hast.

Wie man lesen kann, stieß „La Tortuga“ bei vielen Eisenbahnfreunden nur auf wenig Gegenliebe.

Eine nahezu vernichtende Kritik über das Kunstwerk befindet sich in dem Buch „Verkehrsknoten Berlin“ (Freiburg 2003). Darin heißt es: „Dass sich über Kunst streiten läßt, ist hinlänglich bekannt – aber auch, dass diese einfach nur Schwachsinn sein kann und ausschließlich von denen verstanden wird, die ihn veranstalten…“.

Für mich besaß „La Tortuga“ gerade auf dem Gelände des ehemaligen Anhalter Bahnhofes eine starke Symbolkraft mit vielen Elementen, die assoziativ mit der deutschen Geschichte verknüpft waren.

Ich selber habe mich während des Studiums mit dieser Kunstform (Fluxus, Nouveau Réalisme) beschäftigt und über ein vergleichbares Werk mit dem Titel „Mengele Totentanz“ von Jean Tinguely (1925 - 1991) aus dem Jahre 1986 meine Magisterarbeit geschrieben.


Viele Grüße,
Marc



1-mal bearbeitet. Zuletzt am 2020:01:31:16:03:30.

Re: Danke!

geschrieben von: Michael Staiger

Datum: 31.01.20 19:02

Hallo Marc,

Kunst ist natürlich immer streit- und bestreitbar,
nur bei "La Tortuga" wollte Vostell die Folgen des Krieges und die Hilflosigkeit der scheinbar unbesiegbaren Kriegsmaschinerie sehr realistisch darstellen und so wie er es vorhatte hätte jeder leicht erkennen können, was gemeint ist.
Übrig blieb durch seine Nachgiebigkeit eine reale Lok in surrealer Position, die so ohne Erklärung alles mögliche oder auch gar nichts aussagt.
War natürlich auch mal auf der Ausstellung, wusste allerdings schon wie die Lok dasteht, so daß ich damit schon im vorhinein unzufrieden war und mich dann auch vor Ort nicht anfreunden konnte.
Gefallen hat mir auf der Ausstellung die Animation der Bahnsteighalle, die Wirkung fand ich schon lebensecht und die Stahlkonstruktion in der Größe des einstigen Hallenprofils fand ich auch beeindruckend. War aber dennoch froh daß ich zum Besuch der Ausstellung nur eine Freifahrkarte investieren musste um nach Berlin zu kommen.
M. E. wäre für "La Tortuga" auch heute noch ein passender Platz hinter dem Portikus, es würde dessen Wirkung als Kriegserinnerung und Mahnung deutlich bekräftigen.

Gruß
Michael
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