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was macht man eigentlich nachdem man in den letzten beiden Wochen krankheitsbedingt bettlägerig so ziemlich das ganze Internet auswendig gelernt hat, der Bücherschrank nichts mehr hergibt und sämtliche Staffeln aller möglichen Serien auch per Binge Watching (Kleiner Tip: Bad Banks läuft ab heute abend auch im ZDF und Occupied 2 hat mir auch sehr gefallen) abgearbeitet wurden? Ganz einfach: man schreibt nach halbwegs erfolgter Genesung seine Reisebericht über Georgien weiter.

Zur Erinnerung: wir waren in der letzten Folgen nach dem Seilbahnbesuch [www.drehscheibe-online.de] in Kutaisi hängen geblieben und wollten eigentlich den legendenumwobenen Flug nach Mestia nachholen. Doch auch hier sollte sich der Wettergott ungnädig erweisen: zwar wäre der Flug bei herrlichem Wetter gegangen, aber für die folgenden beiden Tage war Weltuntergang nicht nur in den Bergen vorhergesagt. So entschieden wir uns den einzigen schönen Tag zu nutzen um einen Badetag am Meer einzulegen und Mestia zum Abschluß des Urlaubs zu besuchen. Es gibt da nämlich ein Seebad namens Anaklia, welches mich sehr interessierte und das von Kutaisi recht schnell sogar größtenteils mit dem Zug nach Zugdidi (ab dort muss man für die letzten Meter zur Marshrutka greifen muss) erreichbar ist.

Das ursprüngliche Ziel!

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Kurz vor dem Endbahnhof erreicht der Zug den Abzweigbahnhof Ingiri.

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Zur Beseitigung von Oberleitungsschäden wohl nur bedingt geeignet!

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Links würde es weiter Richtung Suchum(i) gehen. Der Zugverkehr ist aber seit dem Bürgerkrieg eingestellt.

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In Zugdidi angekommen warten am Bahnhof zwar unzählige Anschlussverkehrsmittel auf westliche Touristen, doch die fahren alle nach Mestia. Dahin hätten wir ja auch fliegen können, weshalb meine Frau, während ich mich nach dem Abfahrtsort der Marshrutki Richtung Anaklia erkundige, erst noch Eisenbahnbilder für die Fuzzys macht. Der Bahnhof selbst.

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Und die Züge dazu: 66% des Rollmaterials welches den Bahnhof täglich erreicht sind angetreten. Der Triebwagen ist die Tagesverbindung von/nach Tiflis, während der Nachtzug auf seinen abendlichen Einsatz in die Hauptstadt wartet. Nicht im Bild ist der Nahverkehr, der abends aus Kutaisi ankommt und morgens wieder dorthin fährt.

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Richtung Innenstadt führe angeblich etwa 500 Meter entfernt am Markt nahe der Brücke die Marshrutka nach Anaklia. Und in der Tat stand da bereits ein passendes Fahrzeug.

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Da wir uns aber nicht ganz sicher waren, ob sich wirklich die versprochenen Viktualien mit an Bord befinden, beschließen wir vor der Abfahrt noch ein paar Kirschen zu kaufen. Und entdecken en-passant die erste Werbung für unseren Aufenthaltsort...

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Kurz vor 15 Uhr sind wir am Ziel eingetroffen, wobei sich die Übernachtungssuche sich in der Vorsaison recht einfach gestaltete, nachdem uns nach dem Aussteigen aus der Marshrutka ein Polizist ansprach und gleich das passende in Strandnähe "fand". Dieses hier war es übrigens nicht, auch wenn mich das Design im Turkmenistan-Style wirklich faszinierte.

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Deshalb vielleicht ein Wort zur Entstehung des Seebades: eigentlich war Anaklia an der Mündung des Enguri gelegen zur osmanischen Zeiten ein strategisch wichtiger Militärstützpunkt verbunden mit einem Hafen. Aus dieser Zeit ist noch ein Fort mehr oder weniger erhalten. Doch nach Übernahme der migrelischen bzw. russischen Herrschaft spielte es nur noch eine kleine Rolle für die lokale Wirtschaft.

Daran änderte sich nicht viel bis es in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zum Abchasienkrieg kam und die Stadt auf einmal Grenzstadt (ein paar Meter nördlich des Enguri verblieben jedoch bei Georgien) wurde. Die Stadt zerfiel und die Bevölkerungszahl ging - nicht einmal Flüchtlinge aus Abchasien wurden hier wegen der Grenznähe angesiedelt - zurück, was nicht zuletzt an der neu eingerichteten Präsenz der russischen Friedenstruppen lag. 2007 zogen die russischen Truppen ab und der damalige georgische Präsident Michail Saakaschwili hatte zufälligerweise ein Bauprojekt für den Aufbau eines neuen Georgien in der Schublade. Dieses enthielt neben der etwas eigenwilligen Sanierung von Tiflis und der schweizerischen Umgestaltung Mestias auch eine Lösung für Anaklia: die Kleinstadt sollte zum führenden Nobelseebad Georgiens werden!

Und von Anfang an wurde geklotzt statt gekleckert: es entstanden mehrere neue Hotels in dem bereits gezeigten Stil, eine 5 Kilometer lange Promenade entlang des Meeres wurde angelegt, über den Enguri entstand eine des Nächtens illuminierte Holzbrücke und ein Festival für elektronische Musik rundete das ganze kulturell etwas ab. Nur nachhaltig war das Ganze nicht, da es schlicht und ergreifend an den notwendigen finanzkräftigen Besuchern fehlte, die sich einen Aufenthalt auch leisten konnten. Dass es im Zuge des Baus zu mehreren rechtlich fragwürdigen Enteignungen der örtlichen Bevölkerung zu Gunsten von einschlägig mit Saakaschwili verbandelten "Investoren" kam, versteht sich fast von selbst.

Lange Rede, kurzer Sinn: nach nur wenigen Jahren vermeintlichen Aufbruchs ist Anaklia wieder genauso heruntergekommen wie das restliche Georgien. Die moderne Architektur nebst unvollendeten Bauruinen rottet vor sich hin und wirtschaftlichen Fortschritt soll nun neu ein neuer Containerhafen in unmittelbarer Nähe des Strandbads werden. Also genau der richtige Erholungsort für mich als bekennenden Freund des Zerfalls und der menschlichen Unvollkommenheit. Die Jurmala-Avenue macht schon mal einen guten Eindruck.

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Also los zum Strand. Über diese Brücke musst Du gehen und viel Zeit blieb nicht, weil schon für abends Regen angekündigt war.

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Was dieses Bauwerk wohl bedeuten soll? Keine Ahnung, aber es erinnert sehr schön an Audrey 2 aus dem kleinen Horrorladen. Down on Skid Row... ;-)

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Herzallerliebst :-)

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Sieht zwar intakter aus als es ist,

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aber es ist ja auch der Veranstaltungsort des

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mit sehr berühmten, mir jedoch vollkommen unbekannten, Musikern.

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Reste von Umkleidekabinen?

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Am Ende des Strandes kommt man zu diesem unscheinbaren Zaun.

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Ein Perspektivwechsel gibt Aufschluss was es damit auf sich hat; hier endet der Machtbereich der georgischen Regierung.

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Ein paar Meter weiter ist die Grenze schon etwas eindeutiger.

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Und dieses Handyfoto brachte mich zum ersten direkten Kontakt mit der abchasischen Staatsmacht. Kaum hatte ich mich zum Gehen gewendet pfiff es von hinter der Befestigung und eine Stimme rief mir zu doch einen Moment zu warten. Das tat ich auch und ein abchasischer Soldat erschien und fragte mich freundlich von wo her ich käme und ob ich nicht eine Zigarette für ihn hätte. Als Nichtraucher musste ich leider verneinen, versprach ihm aber eine am Strandkiosk zu organisieren. Wir plauderten noch ein Weilchen aber leider konnte ich mein Versprechen später nicht einlösen. Der Kiosk hatte zwar Getränke und kleine Snacks aber leider keine Zigaretten.

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So packten wir unsere Handtücher aus und blieben zum Baden.

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Wir sollten nicht die einzigen bleiben. Auf einmal kam im Wasser Unruhe auf und eine Herde Delphine kam zu Fischfang und Abendessen vorbei. Die Tiere scheuchten einen Schwarm kleiner silbriger Fische auf, die durch die Luft flogen und direkt von dort aus in den Mägen der Delphine landeten. Nach nur zwei, drei Minuten war die Show vorbei und wir saßen noch einige Zeit fasziniert vor dem größten Delphinarium Anaklias.

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Ja, Abendessen und den Strandtag beenden wäre jetzt auch eine gute Idee. So suchten wir uns erfolgreich eine kleine Wirtschaft mit der üblichen georgischen Dreifaltigkeit aus Chinkali, Chatschapuri und Ochakuri. Auch ein trinkbarer Weißwein wurde angeboten und nach dem Genuss einiger Gläschen begann ich im Suff zusammen mit meinem Sohn noch die Künstler auf den Plakaten für das GEM-Fest, welches uns ohnehin zu dekadent verwestlicht schien, zu georgisieren. Das war schon den ganzen Tag unser Running Gag gewesen und neu waren danach mit tatkräftiger Unterstützung eines mitgeführten Eddingstiftes die Herren Axwili & Ingrossonadse, Aokiwili und van Doornadse die Hauptacts des Festivals. Nur darüber ob Paul Kalkbrenner eher ein Atze oder doch lieber ein Willi ist konnten wir uns nicht einigen und deshalb blieb er halt Deutscher. Darauf noch einen Tschtscha: Gaumarjos!

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In der Nacht hatte der versprochene Regen eingesetzt, weshalb es keinen Grund gab in Anaklia zu verweilen. Eine Marshrutka brachte uns am nächsten Morgen wieder nach Zugdidi wo wir zur innergeorgischen Grenze umstiegen. Die georgischen Organe registrierten uns ordnungsgemäß und wiesen uns darauf hin, dass sich auf der anderen Seite des Enguri nur Gangster und Kriminelle aufhalten, dass wir uns auf eigene Gefahr dorthin begäben und keine Hilfe des georgischen Staates zu erwarten hätte. Nach dieser Belehrung machten wir uns auf den Fußweg zur Grenzbrücke, deren sowjetische Erbauer sich wohl auch nie hätten träumen lassen, welche politische Bedeutung sie eines Tages haben würde.

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Die Pforte zur georgischen Hölle!

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Und was ab dort dann passieren wird, erfahrt ihr wenn ihr auch den nächsten Teil, der wie immer "irgendwann" erscheinen wird, anklickt.

Erik

P.S. Auf der Straße von Anaklia gab es auf dem Rückweg Gefängsnisschweine zu sehen. Dummerweise waren die Fensterscheiben so angelaufen, dass es nicht für ein Foto langte.

Wer in Deutschland das öffentliche Eisenbahnwesen benutzt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren. (Karl Lagerfeld, dt. Modeschöpfer 1933 - 2019)
Man merkt, du bist schon wieder am Gesunden! Wieder ein großartiger Bericht, vielen Dank! Anaklia war mir bislang nicht bekannt, scheint sich aber zum kurzfristigen Kuren durchaus zu lohnen. ;)

Nur mit den sowjetischen Erbauern der Brücke über den Inguri-Fluss liegst Du falsch: [www.eurasischesmagazin.de]