Kurz bei unseren holländischen Nachbarn reinge“Sneek“t –
oder
Freude durch Krabbenfang (FdK)
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Da meine regelmäßigen Dampfberichte aus China nur auf eingeschränktes Interesse hier im Forum stoßen, streue ich mal wieder einen Bericht der etwas anderen Art ein. Im
letzten Bericht dieser Art hatte ich ja von einer Woche all-inclusive in Bulgarien berichtet. Während ich dort dank einer weißrussischer Schlafwagenschaffnerin und bulgarischem, rollendem Material, dessen Baujahr wohl mindestens dem Geburtsjahr der Eltern der weißrussischen Schlafwagenschaffnerin entsprach, durchaus auf meine Kosten gekommen war, war der Strandurlaub für meine Frau und meine chinesischen Schwiegereltern sehr enttäuschend verlaufen. Eigentlich gibt es nach chinesischer Logik nichts Sinnloseres als einen Strand: erstens wird man dort nur braun und sieht dann aus wie ein verarmter Bauerntrottel, der den ganzen Tag auf seinem Feld in der tiefen chinesischen Provinz verbringen muss. Zweitens macht der Sand nur die Füße schmutzig. Daher sofort wegbaggern, mit Zement, Kies und Wasser mischen und damit dann unzählige, sinnlose Hochauswohngebäude und HGV-Strecken betonieren. Drittens kann man das Wasser nicht trinken. Allerdings tummelt sich im Meerwasser so manches Getier und da der Durchschnittschinese mit Ausnahme von Booten alles isst, was so im Meereswasser schwimmt, wird der Strand auch für Chinesen interessant. Leider blieben aber sämtliche Bemühungen zum Fang der heiß geliebten Krabben in Bulgarien vollkommen erfolgslos. Wahrscheinlich zuckten die bulgarischen Krabben genausooft mit ihren Schultern, wie die bulgarischen Landbewohner. Dabei haben sie dann aber ihre Scheren verloren und mussten verhungern. Um den Familienfrieden aufrecht zu erhalten, musste ich also im Anschluss an den Bulgarienurlaub das Projekt „Freude durch Krabbenfang“ (FdK) starten frei nach dem Motto „
Burka Bulgarien? Wir steh‘n auf
Bikinis Krabben!“.
Als zertifizierter Projektmanager ging ich natürlich gleich frisch, fromm, fröhlich ans Werk und suchte nach geeigneten Lokationen zum Krabbenfang. In den umliegenden Balkanländern war nichts Besseres wie in Bulgarien zu erwarten. In der Türkei hatten wir Ende 2015 zwar schon mal eine halbe Hotelbadewanne mit Krabben vollbekommen (die ausführliche Geschichte dazu erzähle ich euch vielleicht mal später), allerdings war unser deutscher Erzfreund Erdogan damals auch noch ein bisschen besser drauf. Da ich meine Jugendzeit auf dem bayrischen Land in unmittelbarer Nähe mehrerer, prall gefüllter Gül(l)entanks verbracht hatte, wollte ich eine Einreise nicht riskieren.
Aber warum in die Ferne schweifen: „Neue
Deutsche Krabben. Machen wir selber!“ (spätestens jetzt würde die alternative Kampflesbe Alice W. zur beleidigten Leberwurst mutieren und das Forum wutentbrannt verlassen, wenn sie hier mitlesen würde; leider hat DSO keine Kameras im Forum installiert…). Krabbenfang an der deutschen Küste? Da hat man den Köder noch nicht einmal ausgeworfen, stehen schon Dutzende Tierschützer, EU Flora- und Fauna Habitat-Beauftragte und sonstige Wutbürger um einen herum, holen die Polizei und am Ende steht man anstatt mit einem Eimer Krabben mit einem Platzverweis und einer Geldbuße da. Vielleicht ein bisschen nach Osten? Da nimmt mich dann vielleicht
der polnische Monddieb Jarosław K. als Faustpfand für erwartete Reparationsleistungen. Sein (noch nicht abgestürzter) Bruder im Geiste Viktor O. hatte zum Zeitpunkt der geplanten Reise kein Meer in seinem Reich und wird erst in Kürze in einem Meer von Flüchtlingen untergehen. Also Süden, Norden und Osten sind nichts, bleibt nur der Westen. Holland? Da waren wir letztes Jahr erfolgreich auf Krabbenfang, die Menschen sind entspannt und freundlich und willkürliche Verhaftungen sind dort auch nicht zu befürchten. Also nichts wie hin.
Ein erster Blick im Internet auf Buchungsangebote für meeresnah gelegene Ferienwohnungen ließen mich aber schon wieder an meiner Entscheidung zweifeln. Da kostet ein Tag mehr als eine ganze Woche all-inclusive in Bulgarien. Also taktischer Rückzug von der Front ins Hinterland und siehe da, es fand sich ein Ferienbauernhof in der Nähe von Sneek (wo immer das auch liegt) zu einem akzeptablen Preis. Also schnell gebucht, Krabbenfang- und Zubereitungszubehör, zwei zusätzliche Matratzen, Sohnemanns Fahrrad und ein Koffer voller chinesischer Lebensmittel in den Kofferraum gepackt. Spätestens jetzt jault der letzte DSO-Leser auf. Textet uns erst ewig zu, warum er zum Krabbenfangen nach Holland fährt, und dann nimmt er nicht einmal den Zug. Sicherlich, die Zugfahrt mit diesem Gepäck und dieser Entourage hätte zu so mancher, sagen wir mal interessanter Erfahrung geführt. Aber es sollte ein Urlaub werden und ich befriedige meine masochistischen Sehnsüchte einmal im Jahr bei ausgedehnten Schlafwagenfahrten unter der Führung resoluter, chinesischer Schlafwagenschaffnerinnen. Das reicht dann für die restlichen elf Monate.
Google Maps war der Ansicht, dass die Fahrt viereinhalb Stunden dauern würde. Mit einem fünfjährigen Sohn können sich die viereinhalb Stunden aber ziehen wie eine Zugfahrt von Moskau nach Wladiwostok. Anfangs hält man ja noch wertvolle, pädagogische Ideale hoch und versucht es mit Spielen („Ich sehe etwas, was du nicht siehst…“), Hörspielen („Bibi Blocksberg und der Bürgermeister“) und Musik-CDs („Kinderpartyhits 1–3“). Aber irgendwann hilft das alles nicht mehr und zur allseitigen Deeskalation wird das nächste, gelbe M an der Autobahn angesteuert. Das wirkt Wunder, die letzten zwei Stunden Fahrt verlaufen entspannt wie ein mehrtägiges Treffen indischer Yoga-Meister. Ich hoffe ja nicht, dass die die Juniortüte mit Valium versetzen.
Sneek (
westfriesisch Snits) entpuppte sich als typisch holländische Kleinstadt mit dem „schönsten Wasserstadttor der Welt“, war laut Wikipedia 1841 der Gründungsort von C&A und ist zudem (wie ich wirklich nur durch Zufall erfuhr) stolzer Sitz des „Nationalen niederländischen Modellbahnmuseums“. Damit waren Papa und Sohnemann schon mal in froher Erwartungshaltung. Was aber mit dem Rest der Familie? Am nächsten Tag brachte ein Ausflug ans Meer im nahen Makkum die Erkenntnis, dass der dortige Strand so ziemlich das Gegenteil von einem Strand auf den Malediven ist, der Sand sich aber hervorragend zum Bau von Sandburgen eignet. Und es leider keine Krabben gibt! Auf dem Rückweg klapperte der rein chinesische Familienanteil die Innenstadt von Sneek auf der Suche nach wenigstens kaufbaren Krabben ab, während sich der Rest der Familie zum Modelleisenbahnmuseum begab.
Bild 1: Das angeblich schönste Wasserstadttor der Welt. Kennt jemand von euch ein Schöneres?
Das Museum ([
www.modelspoormuseum.nl]) befindet sich im Bahnhofsgebäude von Sneek. Sneek liegt an der Eisenbahnstrecke von Leeuwarden nach
Stavoren, die eingleisig, nicht elektrifiziert und noch in Betrieb ist. Der Abschnitt Leeuwarden – Sneek wurde 1883 eröffnet, die Verlängerung nach Stavoren erfolgte zwei Jahre später. Allerdings war die Strecke von Leeuwarden nicht die erste, die Sneek erreicht hatte. Bereits 1882 hatte die „Nederlandsche Tramweg Maatschappij” eine normalspurige Strecke zwischen Sneek und Bolsward in Betrieb genommen, die ein Jahr später bis Harlingen verlängert wurde. 1886 war dann die durchgehende Tramlinie Harlingen – Bolsward – Sneek – Joure – Heerenveen – Gorredijk – Drachten in Betrieb. „Tramweg“ hört sich nach klassischer Straßenbahn an, allerdings handelte es sich bei der Bahn wie bei praktisch allen anderen niederländischen „Tramwegs“ stets um eine dampf- (später auch diesel-) betriebene Kleinbahn, deren Strecke weitgehend im Straßenplenum verlief. Im Jahre 1968 endete dann die Kleinbahnromantik endgültig.
Bild 2: Das Bahnhofsgebäude von Sneek von der Straßenseite aus gesehen. Im Gebäude befindet sich das „Nationale niederländische Modellbahnmuseum“.
Bild 3: Dieser Ausschnitt einer alten Eisenbahnkarte aus dem Modelleisenbahnmuseum zeigt die Bahnlinien rund um Sneek an. Die Stichstrecke von Leeuwarden über Sneek nach Stavoren ist noch in Betrieb, die „Tramweg“ rund um Sneek wurde bis spätestens 1968 komplett stillgelegt.
Bild 4: Die alte Diesellok NS 323 „Sik van Snits“ steht neben dem Bahnhofsgebäude und soll an bis 1968 stillgelegte „Tramweg“ rund um Sneek erinnern. Bei der Lok handelt es sich um ein ehemaliges Exemplar der Staatsbahn NS, ähnliche Loks waren aber auch bei den „Tramwegs“ im Einsatz. Sie lösten die Dampftrambahnloks ab, die hauptsächlich von Hentschel geliefert wurden.
Erwartungsfroh betraten wir das Bahnhofsgebäude, das Bahnreisenden nicht mehr offen steht, sondern fast komplett vom Modellbahnmuseum genutzt wird. Nachdem wir beide für insgesamt zehn Euro Eintrittskarten erworben hatten, durften wir uns in den Räumlichkeiten umsehen. Wie in allen kulturellen Einrichtungen mit Ausnahme Deutschlands hat man sich auf den Besuch von Kindern bestens präpariert. Es gibt eine kleine Spielecke mit Holzeisenbahn, Lego, Spielmodelleisenbahn und einem Zugsimulator, der ebenfalls bereits museumsreif war. So konnte ich mich ein wenig in Ruhe umsehen. Das Museum entstand aus der Initiative eines Privatmannes heraus, der seine im Laufe der Jahre gesammelten oder überlassenen Modelle, Dioramen und Anlagen ausstellt. Die Modelle sind recht bunt zusammengewürfelt und die Anlagen und Dioramen entsprechen größtenteils nicht mehr unbedingt den heutigen (Modellbau-)Standards. Ohne Zweifel, es steckt sicherlich viel Herzblut und Arbeit in diesem Museum, aber bei einem
nationalen Modellbahnmuseum hätte ich mir ein kleines bisschen mehr erhofft, dennoch hatte sich der Besuch auf alle Fälle gelohnt. Mein Fazit zum Museum: wer zufällig in der Nähe ist, sollte sich das Museum anschauen. Extra dafür hinfahren lohnt sich aus meiner Sicht aber nicht unbedingt.
Bild 5: Ein Teil der im Museum ausgestellten Eisenbahnmodelle.
Bild 6: Western-Bahnen scheinen in Holland sehr beliebt zu sein. Typisch holländisch scheint auch die große Trajektfähre rechts im Bild zu sein. Jetzt meine typische Modellbahnerfrage: gibt es dafür auch ein Vorbild (amerikanische Westernstadt mit großem Trajekthafen)?
Bild 7: Der zweite Teil des Westernbahndioramas ist dagegen absolut klassisch gestaltet.
Bild 8: Von der künstlerischen Gestaltung her gefiel mir dieses Diorama am besten. Nur die Gleise hätte man vielleicht noch ein bisschen anders gestalten können.
Bild 9: Genau von so einer Anlage träumte ich als kleiner Knirps, als ich tagelang in den Modellbahnkatalogen der 70er- und 80er-Jahre meines Vaters versank. Heutzutage würde meine Traumanlage ein bisschen anders aussehen. Überhaupt strotzen fast alle Anlagen im Museum von übertriebenem Fels- und Bergmassiven. Wenn es vor Ort so wenig natürlich Felslandschaften gibt, baut man sich eben welche in den Keller.
Bild 10: Für meine Frau, gebürtig aus Peking, habe ich dieses Bild gemacht.
Bild 11: So ungefähr sah meine erste Modelleisenbahn, die ich aus den von meinem Vater geerbten Teilen zusammengebaut hatte, aus. Nur eine Drehscheibe hatte ich nicht, stattdessen war mein Lokschuppen vorbildgetreu über eine Dreiwegweiche angeschlossen.
Bild 12: Und weil Norwegen hier im Forum aktuell ja sehr beliebt ist, habe ich auch noch ein Diorama mit norwegischem Vorbild abgelichtet.
Bild 13: Aus dieser, im Museum aufgehängten Eisenbahnkarte hatte ich den oben schon gezeigten Ausschnitt entnommen. Leider stand kein Jahr auf der Karte, Experten können den Zeitraum aber sicherlich sehr genau eingrenzen. Mein Wissen über die niederländische Eisenbahn ist leider nur in etwa so ausgeprägt wie die niederländische Hochgebirgslandschaft.
Während ich und mein Sohn also zufrieden das Museum verließen, war der Rest der Familie aber leider erfolglos und so wurde in der Ferienwohnung Google Maps mehrere Stunden im Satellitenmodus auf der Suche nach passenden Krabbenfangstellen konsultiert. Mit dem Ergebnis, dass wir am nächsten Tag am alten Hafenbecken von Harlingen landeten. Die Lokation sah schon mal vielversprechend aus. Direkter Zugang zum Wasser war nur über einen Bootsanleger, der (wenn meine bescheidenen Holländisch-Kenntnisse nicht lügen) laut angebrachtem Schild gemäß Reichsstrafgesetzbuch unter Androhung von Gefängnisstrafe nur von Befugten betreten werden darf. Meine Frau erklärte sich kurzerhand zum Fangen von Krabben befugt und los ging’s. Ein paar vorbeikommende Holländer schauten unserem Treiben amüsiert zu. Mir fielen mehrere Felsbrocken vom Herz, als nach wenigen Minuten bereits der erste halbe Eimer voll mit Krabben war. Urlaub gerettet, Familienfrieden wieder hergestellt, was will man mehr? Eisenbahn!
Bild 14: Abendstimmung am kleinen Binnenhafen neben unserer Unterkunft.
Bild 15: Am alten Hafenbecken von Harlingen.
So konnte ich guten Herzens den Bootsanleger verlassen und die Hafenmauer betreten, die einst Teil der unter den Spaniern errichteten Befestigungsanlage der Stadt Harlingen war. Ich interessiere mich jetzt nicht unbedingt für iberische Festungsbaukunst des 16. Jahrhunderts, aber direkt neben der Hafenmauer verlief ein Gleis, das scheinbar regelmäßig befahren wurde. Zu den vielen tollen Errungenschaften der EU (das ist jetzt mal wirklich ernst und nicht ironisch gemeint) gehört mittlerweile auch, dass das Roaming innerhalb der EU keine zusätzlichen Kosten mehr verursachen darf. Und dazu gehören nicht nur Telefonate, sondern auch Daten. Das probieren wir jetzt doch gleich mal aus. Schnell hatte ich ermittelt, dass es sich bei den Gleisen um die Strecke Leeuwarden – Harlingen Haven handelt, die selbst an diesem Sonntag in so etwa Halbstundentakt bedient wird. Ja wunderbar. Schnell einen Standort gesucht und gleich den nächsten Zug ablichten.
Bild 16: Das Haltepunktschild Harlingen Haven. Dass der Endpunkt der Strecke am Hafen liegt, erkennt man aber auch ohne den Zusatz „Haven“.
Bild 17: Am alten Hafenbecken von Harlingen liegen zwar noch Gleise, die aber längst nicht mehr genutzt werden und auch nicht mehr an das Streckennetz angebunden sind.
Bis der Zug sich blicken lässt, werfen wir nochmals einen kurzen Blick zurück. Die Strecke Leeuwarden –Harlingen Hafen wurde bereits 1863 eröffnet, drei Jahre später wurde die Strecke bis Groningen verlängert, wo die Strecke Anschluss an das restliche Schienennetz der Niederlande bekam. Zu Blütezeiten gab es von Harlingen eine direkte Dampfschifffahrtsverbindung nach London. Die ist längst Geschichte, aber vielleicht wird die Verbindung 2019 wieder zum Leben erweckt, wenn am Tage des ungeordneten Brexits die ganzen Fluglinien plötzlich merken, dass sie keine Lizenzen und Routenrechte mehr für Flüge zwischen Insel und EU haben und Theresa May und Boris Johnson gleichzeitig persönlich den Euro-Tunnel in die Luft jagen. Ein paar alte Dampfer haben die in alte Technik vernarrten Briten sicherlich auch noch irgendwo übrig. Stand heute kommt man mit der Fähre von Halingen nur auf die Friesischen Inseln Vlieland und Terschelling. Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass es zwischen 1904 und 1938 eine zweite Schienenverbindung zwischen Harlingen und Leeuwarden durch die „Noord-Friesche Locaalspoorweg-Maatschappij“ gab.
Bild 18: Als die Schifffahrt in Halingen noch blühte, entstand dieses Haus. Mittlerweile haben sowohl Haus als auch die einst blühende Schifffahrt in Harlingen Risse bekommen.
Bild 19: Heute wird der Hafen von Halingen hauptsächlich von Freizeitseglern angesteuert.
Zur recherchierten Uhrzeit ließ sich der Zug aber nicht blicken. Also schnell ein Blick auf die Live-Auskunft der NS. Der Zug hat acht Minuten Verspätung. Und das bei der Bahn, die sonst hier im Forum immer so gerühmt wird! Ein weiterer Klick offenbart aber schnell die Ursache der Verspätung. Denn betrieben wird die Verbindung Leeuwarden – Harlingen nicht von der niederländischen Staatsbahn, sondern von Arriva. Wir Deutsche sind eben nicht nur Weltmeister im Export von luftverpestenden Dieselautos, sondern auch von Verspätungen. Und falls die Niederländer deswegen aufmucken sollten, werden unverzüglich kurz vor der Grenze vom Herren geknechtete Tunnelbohrmaschinen aufgefahren und alle Schienenverbindungen für die nächsten Monate unterbohrt. Da die Niederländer aber etwas entspannter als die Schweizer sind, wird das wohl eher nicht passieren. Auch ich bin trotz der Verspätung total entspannt und mit etwas Verspätung komme auch ich zu meinen Bildern.
Bild 20: Mit acht Minuten Verspätung fährt der Triebwagen aus Leeuwarden in den Endhaltepunkt Harlingen Haven ein. Rechterhand steht der Leuchtturm von Harlingen, linkerhand befindet sich das alte Hafenbecken. Von der Fußgängerbrücke …
Bild 21: … aus nahm ich dann auch noch den zweiten Leuchtturm am neuen Hafenbecken ins Visier.
Bild 22: Für die Rückfahrt des Zuges entfernte ich mich etwas vom Streckenendpunkt, um die Masten der alten Segelschiffe im alten Hafenbecken mit auf das Bild zu bekommen. .
Bild 23: Da das Licht beim nächsten Zug schon zu sehr in die falsche Richtung gewandert war, suchte ich mir eine Fotoposition ohne Hafenmotiv. Dafür durften zwei Kirchtürme mit auf das Bild. Fertig ist die niederländisch-deutsch-schweizerische Idylle (sieht man von der eingezäunten Eisenbahnstrecke ab).
Nach gut einer Stunde waren alle vollauf zufrieden. Ich hatte vollkommen unerwarteter Weise ein paar ganz nette Eisenbahnaufnahmen im Kasten und der Rest der Familie hatte sämtliche mitgeführte Behältnisse mit Krabben aufgefüllt. Als wir auf der Rückfahrt auf der Autobahn plötzlich Anhalten mussten, weil die Klappbrücke direkt vor uns aufgeklappt wurde, war auch mein Sohn als letzter vom heutigen Tag restlos begeistert. In der Ferienwohnung wurde dann schnell das Essen zubereitet. Krabben bestehen zu 99,999% aus Schalen. Das hindert Chinesen aber nicht am Genuss selbiger. Mit ein paar geübten Handgriffen wird die Krabbe zerlegt, im Mund wird die Schale zerkleinert, mit geübten Zungenbewegungen von den restlichen Bestandteilen getrennt, die Schalenreste werden anschließend ausgespuckt. Der Energieaufwand zur Nahrungsaufnahme übersteigt dabei die in der Nahrung enthaltene Energie um ein Vielfaches. Das erinnert mich irgendwie an chinesische Kohlentagebaubetriebe. Da wird gefühlt ein Großteil der gewonnen Kohle dafür eingesetzt, um weitere Kohle zu fördern.
Mir sagen weder der Nahrungsaufnahmeprozess noch der Geschmack von Krabben zu, daher nahm ich mit meinem Sohn an einer Tiefkühlpizza von Aldi Holland vorlieb. Jetzt
werden wieder einige nach Essensbildern fragen. Aber ein Bild einer Tiefkühlpizza von Aldi muss jetzt wirklich nicht sein. Alkoholische Getränke wurden ebenfalls nicht konsumiert, schließlich sind wir zum einen im Familienurlaub, zum anderen muss ich bei Holland und Bier (eigentlich ein Widerspruch in sich) immer an Heineken denken. Ich will nicht behaupten, dass es kein trinkbares, holländisches Bier gibt. Die Suche danach ist für mich aber nicht unbedingt erstrebenswert. Alternativ gab es bei Aldi noch „Schultheiß-Bier“ in Plastikschraubflaschen. Das hatte ich aber allerhöchstens als Schüler bei leerem Geldbeutel und absoluter Not am Mann getrunken.
Damit konnten wir uns alle glücklich auf die Rückfahrt machen, denn das Projekt „Freude durch Krabbenfang“ hatte sein Projektziel „in time, budget, scope and quality“ erreicht. Da lacht das Herz des Projektmanagers doch! Einen Höhepunkt hatten wir für die Rückfahrt aber noch im Projektplan stehen. Was möchte der moderne, chinesische Durchschnittstourist auf alle Fälle sehen, wenn er in Holland ist? Amsterdam? Weit gefehlt, ist so Neunziger! Tulpen? Kann man in China aus Plastik kaufen und die sehen besser aus als das Original! Windmühlen? In China gibt’s mehr Windräder als Einwohner und im Gegensatz zu den Windmühlen in Holland produzieren die sogar Strom! Nein, der moderne, chinesische Durchschnittstourist möchte unbedingt nach Giethoorn! Giethoorn? Noch nie gehört? Ging mir auch so. Also kläre ich euch mal auf. Giethoorn war früher ein unscheinbares Torfstecherdorf zwischen Heerenveen und Zwolle. Das Besondere an dem Dorf ist, dass die meisten Häuser nicht über die Straße, sondern nur über kleine Kanäle zu erreichen sind, was dem Dorf auch den Beinamen „Venedig Hollands“ verschaffte. Jahrzehntelang kamen ab und an ein paar Busladungen mit deutschen Rentnergruppen aus dem Ruhrpott, denen eine Busfahrt in den Spreewald zu weit war. Bis dann ein chinesischer Reiseblogger auf den Ort aufmerksam wurde. Kurz darauf wurde der Ort von einem Tsunami chinesischer Touristen erfasst, der bis heute nicht abebbt.
Bild 24: Idylle in Giethoorn, bevor die erste Touristen-Tsunamiwelle über das kleine Dorf hereinbricht.
Wir mussten unsere Unterkunft in Sneek bereits um neun Uhr verlassen und waren daher sehr früh in Giethoorn. So konnten wir noch einen Eindruck bekommen, wie es vor kurzem hier noch jederzeit aussah. Unterbrochen wurde die morgendliche Idylle nur von einer sehr lauten, türkischen Reisegruppe. Unser Erzfreund Erdogan hat mittlerweile scheinbar wirklich die gesamte Intelligenz des Landes verhaftet, andere Schlüsse ließ das Verhalten der Reisegruppe nicht zu. Beispiel gefällig? Vom Hauptkanal zweigt ein ca. 10m langer Kanal ab, der an einer Mauer endet. Der Bootsführer, ein Familienpascha, der nicht nur äußerlich gewisse Ähnlichkeiten mit seinem Präsidenten zeigte, fuhr trotzdem hinein, bis er volle Kanne gegen die Mauer knallte. Verzweifelt versuchte er dann, das ca. 4m lange Boot auf dem knapp zwei Meter breiten Kanal zu wenden. Ohne Erfolg. Der Reiseführer, ein sympathischer junger Türke mit Pferdeschwanz, hatte alle Hände voll mit seiner Reisegruppe zu tun. Er rief dem Mann zu, dass er einfach den Rückwärtsgang einlegen soll. Ein Erdogan weicht aber keinen Millimeter zurück! Also musste der Reiseleiter schließlich über eine kleine Brücke zu dem Boot und es von Hand in den Hauptkanal zurückzuschieben. Denn an den Steuerhebel ließ der Pascha am Steuer den Reiseleiter nicht. Dreimal dürft ihr dann raten wohin der Bootsführer an der nächsten Abzweigung eines kurzen Sackgassenkanals steuerte…
Wir kamen zum Glück um eine Bootsfahrt herum, nachdem meine Frau entdeckt hatte, dass die allerorts verfügbaren Leihboote auf Holländisch für 15€ pro Stunde angeboten wurden,
auf Chinesisch jedoch für 25€. Meine Schwiegermutter wollte sofort erbost den Ort verlassen, ich fand das aber mehr als fair. Immerhin schreiben die Holländer die Preise öffentlich an (das machen die Chinesen im Gegensatz nämlich nicht), zudem finde ich jetzt 66% Aufschlag nicht viel, wenn ich da an so manchen Langnasenaufschlag denke, der mir in China schon in Rechnung gestellt wurde. Wir investierten die gesparten 15€/25€ dann in ein Familienfoto in traditioneller Tracht in einer traditionellen, holländischen Wohnstube. Auf so etwas fahren Chinesen ja auch voll ab und der Fotograf kann sich auch aktuell über die Nachfrage nicht beschweren. Nebenbei ist er auch noch Maler und direkt vor dem Fotostudio hängt ein Bild von ihm, das eine Kopie eines bekannten chinesischen Propagandabildes ist, auf dem Mao ein paar ehrfürchtigen Bauern und Arbeitern stolz die blühende Landschaft der Volksrepublik zeigt. Nur anstatt der blühenden Landschaft zeigt er in dem Gemälde auf das Ortsschild von Giethoorn. Der Maler erzählte mir, dass alle seine chinesischen Kunden bei der Ansicht des Bildes sofort fragen würden, wann Mao denn in Giethoorn gewesen sei (dass er überhaupt dort gewesen wäre, bezweifelt kein Chinese, der das Bild sieht!).
Als wir unsere Fotosession beendet hatten und wieder das Freie betreten hatte, war die erste Tsunami-Welle des Tages schon urplötzlich über das Dorf hereingebrochen. Auf dem Hauptkanal herrschte mehr Verkehr wie zur Rush-Hour in Peking oder Shanghai. Im Sekundentakt ertönten die dumpfen Geräusche zusammenstoßender Boote. Unterbrochen wurde die Monotonie nur ab und an durch einen Schrei, wenn jemand dummerweise seine Finger zwischen zwei zusammenstoßende Boote bekommen hatte. Ich hätte das Spektakel gerne etwas länger betrachtet, aber mein Sohn musste dringend Pipi und wollte danach sofort weg von hier. Die restliche Heimfahrt verlief dann wiederum vollkommen entspannt (Sohnemann bekam nochmal eine Juniortüte und der chinesische Rest der Familie flutete die nächsten Stunden die sozialen Netzwerke in China mit noch mehr Bildern aus Giethoorn). Ein kurzer, aber schöner Urlaub war mal wieder zur Freude aller (ausgenommen der verspeisten Krabben) zu Ende gegangen.
Damit genug Blödsinn für heute verzapft. Zum Schluss noch ein sehr ernst gemeintes Fazit der Reise, auch wenn es nur ein Kurztrip zu unseren niederländischen Nachbarn war. Wir mussten kein einziges Mal unsere Pässe zeigen (nicht mal bei der Registrierung in der Ferienwohnung), mussten kein Geld tauschen oder sonstige „Auslandsgebühren“ bezahlen (nicht mal für die Datennutzung auf dem Smartphone), wurden überall sehr offen und freundlich behandelt (obwohl ich kein Wort Niederländisch spreche, meine Familie alles andere als europäisch aussieht und meine Großelterngeneration alles andere als einen guten Eindruck in dem Land hinterlassen hat) und konnten uns überall vollkommen frei bewegen. Hört sich jetzt alles selbstverständlich an, aber ein Blick aus unserem Gebäude der EU heraus zeigt, dass diese Dinge selbst in der direkten Nachbarschaft alles andere als selbstverständlich sind. Zugegebenermaßen, auch mir gefallen so manche Fassadenteile und Inneneinrichtungsgegenstände des EU-Gebäudes nicht, aber trotzdem lebe ich verdammt gerne darin. Umso trauriger, dass immer mehr Einwohner aus diesem Gebäude, dessen Fundament auf Millionen von Toten aus zwei schrecklichen Weltkriegen steht, mit der Spitzhacke ein Stück herausbrechen wollen, um damit ihr eigenes Wunschgebäude zu bauen, das nach dem nächsten Unwetter aber wieder in Trümmern liegen wird.
Das Wort zum Sonntag ist damit jetzt also auch gesprochen, im nächsten Bericht widme ich mich dann wieder wie gewohnt den Dampfloks in China.
1-mal bearbeitet. Zuletzt am 2017:09:15:22:09:48.