Im 10. Teil besuchen wir Klaipeda und Kaunas und reisen über Polen zurück nach Östereich.
Am 20. Juli müssen wir früh aufstehen, denn unser Zug nach Klaipeda fährt schon um 6.45 Uhr. Der Fahrschein wird bei der Einstiegstüre kontrolliert, es gibt eine Schaffnerin pro Wagen. Der Fahrschein wird nur eingerissen.
Die Fahrkarte ist zugleich auch Sitzplatzkarte, allerdings dürfte das nur für Fahrscheine gelten, die in Vilnius gekauft werden. Fahrgäste, die unterwegs einstiegen, suchten sich nämlich einen freien Sitzplatz. Es sind die modernsten Wagen, die wir im Baltikum zu sehen bekommen: Sitzwagen mit völlig neuer Inneneinrichtung, auch die Fensterrahmen scheinen neu zu sein.
Das Bild vom Innenraum ist leider unscharf, aber es zeigt hinten die Wand des 1.Klasse-Abteils (Spiegel). Dort ist ein Seitengang mit der Schiebetür zum Abteil.
Es riecht sogar alles neu, unsere Sitze (reserviert, in Fahrtrichtung) sind aber genau zwischen zwei Fenstern.
Unser Fahrschein hat das große Format, das wir auch in Österreich kennen. Es ist dreisprachig (litauisch, deutsch, russisch), lustig ist das Emblem eines Shinkansen(Reihe 0)-Zuges links oben. Der Fahrpreis beträgt 42,10 Litai (etwa 14 Euro), die Entfernung ist 376 km, Klassenbezeichnung: 2. Klasse. Wir haben schon gesehen, daß Regionalzüge als 3. Klasse gelten. Die UIC-Nummer unseres Wagens weist auf 1./2. Klasse hin: 58 24 38-39 727-2. Allerdings sind die Wagen draußen nur mit „2“ gekennzeichnet. Ich vermute, die zwei Abteile an den Wagenenden gelten als 1. Klasse. Sie sind mit Glastüren zu verschließen und haben 6 Sitzplätze, während unsere Sitze in 2+2-Bestuhlung gehalten sind – bis zur Wagenmitte in Fahrtrichtung. Die Wagen sind übrigens klimatisiert und tragen außen unter den Fenstern eine Werbeanschrift über ganze Wagenlänge „Baltija“ und „Vilnius <> Klaipeda“ in unterschiedlichen Designs. Unser Zug heißt also „Baltija“. Einige Wagen haben eine Matrixanzeige außen, auf der der Zuglauf dargestellt wird. Im Zug selbst gibt es keine Ansagen, aber hin und wieder sagt die Schaffnerin die Stationen an. Wir haben eine Schaffnerin mit einer adretten Uniform in einem grau-bläulichen Farbton. Unsere Lok ist eine TEP70BS, LG hat vier Stück dieser neuen Bauart.
Die ersten 15 Minuten unserer Fahrt gleichen einer Schleicherei, es geht sehr langsam dahin, danach allerdings wechseln schnelle mit langsamen Streckenabschnitten. Während der Fahrt fallen mir wieder die schönen, renovierten Bahnhöfe und selbst Bahnsteige an kleinen Haltestellen auf. Unterwegs sehe ich eine 2M62 und eine CME3. Wir halten unterwegs acht mal, aber jeweils immer nur 2-3 Minuten, außer in Šiauliai (5 Minuten). Bei der Schaffnerin kann man auf Wunsch Kaffee oder andere Getränke bekommen. Sie geht einige Male durch den Wagen. Sie hat ein eigenes kleines Abteilchen an einem Wagenende. Die Toiletten sind sehr modern (Vakuum-Toiletten).
Für 376 km ist die Fahrzeit von fast 5 Stunden (77,5 km/h Durchschnitt) ziemlich lang, aber man muß wohl froh sein, daß es überhaupt Tages-Schnellzüge innerhalb Litauens gibt (eh nur drei). Außer diesen gibt es ja nur noch den Zug nach Šeštokai (mit Anschluß nach Warschau), den man aber als internationalen Zug gelten lassen könnte. In Telšiai haben wir schon 12 Minuten Verspätung. Aber wir holen dann ab der letzten Station vor Klaipeda noch viel auf, statt 22 Minuten benötigt der Zug für dieses letzte Stück nur 18 Minuten, sodaß wir mit +3 Minuten ankommen.
Klaipeda (Memel)
Die Wagen unseres Zuges, deutlich sichtbar die Werbeaufschriften.
Der Bahnhof ist ein Neubau, der unmittelbar an das alte Gebäude anschließt.
Natürlich fehlt nirgends der Hinweis auf die finanzielle Unterstützung der EU.
Auch in Klaipeda sind die Marschrutkas (hier Maršrutinis Taksi genannt), also die Linientaxis, noch immer beliebt und sehr verbreitet.
Das modernste Hotel unserer Reise
Wir gehen nun zu Fuß zu unserem Hotel, so wie ich mir das auf einem nicht besonders guten Plan ausrechnen konnte. Und dann staunen wir sehr: unser Hotel ist ein toller Neubau mit einer eigenwilligen Architektur. Im Bild im Hintergrund zu sehen.
Unser Zimmer kostet 148 Euro (wir bezahlen in Euro) für zwei Nächte. Für das, was hier geboten wird, nicht teuer! Wenn man bedenkt, daß wir um diesen Preis auch sehr viel bescheidenere Hotels gesehen haben. Vom Aufzug hat man während der Fahrt hinauf einen schönen Panoramablick. Unser Zimmer ist im 9. Stock, von dem man zum Haff, zur Kurischen Nehrung und darüber hinaus auf die Ostsee blicken kann.
Stadtrundgang
Wir machen einen Stadtrundgang durch die ursprünglich Memel genannte Stadt an der Mündung des Kurischen Haffs in die Ostsee und am Fluß Dane (deutsch: Dange).
Ein Wahrzeichen ist der Simon-Dach-Brunnen mit der „Ännchen von Tharau“-Statue auf dem Theaterplatz. Auch die Preise sind hier moderat: Garnelensuppe, Kalbsbraten mit Pilzen und Reis, Haustorte und Kaffee (für zwei Personen) in einem netten Restaurant bekommen wir um 76 Litai (etwa 25 Euro).
Am nächsten Tag besuchen wir die Kurische Nehrung, bevor wir uns auf den Weg zur Fähre machen, gehen wir noch zum Bahnhof, um die Fahrkarten für morgen zu kaufen. Es gibt keinen durchgehenden Fahrschein von hier nach Kaunas. Für den Schnellzug „Pajuris“ bis Kaišiadorys bekommen wir eine große Fahrkarte, die aussieht wie unsere internationalen in Österreich, von dort nach Kaunas müssen wir uns eine Fahrkarte am Schalter in Kaišiadorys kaufen, wird uns erklärt. Denn das ist ein Regionalzug (Elektrischka). Die Fahrkarte bis dorthin kostet 37,10 LTL. Dann begeben wir uns zur Fähre und fahren hinüber zur Nehrung, über die man sich im Internet sehr gut informieren kann.
Ein Satellitenbild der Kurischen Nehrung aus Wikipedia – damit man sich was vorstellen kann.
So sieht die Nehrung am Ostseeufer aus: Blick Richtung Süden. (Der rosa Fleck ganz oben ist Klaipeda)
Das Abendessen in einem anderen Restaurant ist noch billiger als am Vortag.
Am Sonntag geht es dann weiter nach Kaunas. Da wir wieder einen sehr frühen Zug benützen, versäumen wir das Hotelfrühstück und bekommen stattdessen ein ausrechendes Lunchpaket mit auf die Reise.
Auf dem Bahnhof ist ein Denkmal für die ausgesiedelte bzw. vertriebene deutsche Bevölkerung. Das Denkmal wird vor allem von den deutschen Besuchern beachtet. Ich finde es bemerkenswert, daß man dieses Kapitel der Vergangenheit nicht unter den Teppich kehrt.
Unser Zug ist Nr. 14 „Pajuris“. Das Bild zeigt die Werbe-Gestaltung eines Waggons. Ich stelle jetzt erst so richtig fest, daß die Türen nur vom Schaffner bedient werden, so wie bei den Schlafwagen auch, denn die Klappen und Stufen sowie die Haltestangen müssen umständlich eingerichtet werden, damit man von den meist niedrigen Bahnsteigen überhaupt einsteigen kann. Das ist ja wohl auch der Grund, daß jeder Wagen einen Schaffner benötigt. Und es wird immer nur eine Tür je Wagen geöffnet. Unser Zug hat 7 Wagen. Zum „Frühstück“ aus unserem Lunchpaket bestelle ich diesmal bei der Schaffnerin einen Kaffee (es ist ein „türkischer“ Kaffee), der nur 1,90 Litai kostet und gut schmeckt. Das Zuckersäckchen und das Kaugummipäckchen tragen LG-Werbebedruckung. Zufällig haben wir wieder die gleichen Sitznummern wie bei der Herfahrt, also nicht direkt am Fenster. Diesmal funktioniert die automatische Ansage der Stationen, sie erfolgt auf Litauisch und Englisch. Ich merke, daß es sogar Schwierigkeiten bereitet, die auf Litauisch ausgesprochenen Ortsnamen zu verstehen. Sie werden etwas anders als erwartet ausgesprochen, es klingt wie ein Dialekt.
Umsteigen in Kaišiadorys
In Kaišiadorys müssen wir umsteigen. Es ist die Abzweigstation der zwei wichtigsten Hauptstrecken in Litauen. Zunächst müssen wir die Fahrkarte von hier nach Kaunas besorgen. Ich erwarte natürlich nicht, daß die Schalterbeamtin Fremdsprachen versteht und versuche es eben mit langsamem Minimal-Englisch und Händen, aber die Dame scheint sogar etwas Englisch zu sprechen. Sie lächelt sogar und schickt mich dann zu Gleis 12: „twelve, please go behind bridge“. Und sie zeigt mit der Hand in eine Richtung. Die Fahrkarte kostet 6,40 Litai (und das kommt mir für 37 km und 25 Minuten teuer vor, denn nach Trakai waren es 28 km in 33 Minuten, und der Preis war nur 3,40 Lt). Übrigens ist es ein Fahrschein 3. Klasse. Man sollte vielleicht auch in Österreich die dritte Klasse wieder einführen. ;-) Desiro und Talent = 3. Klasse, Reisezugwagen 2. Klasse… Als wir wieder auf den Bahnsteig zurückkommen, auf dem wir ausgestiegen sind, sehe ich dann, was die Schalterbeamtin gemeint hat: der Lokalbahnsteig ist einige hundert Meter weiter westlich. Der Bahnhof ist nämlich sehr interessant angelegt. Beim Aufnahmegebäude ist ein Hausbahnsteig für die Schnellzüge (für die Züge der Hauptstrecke Richtung Šiauliai-Klapeda). Für die Elektrischkas zwischen Vilnius und Kaunas gibt es den erwähnten Inselbahnsteig, den man erst nach einem Fußweg und über einen Steg erreicht. Nach Kaunas gibt es ja nur die Elektrischkas (außer dem Schnellzug nach Šeštokai), obwohl die Entfernung Vilnius-Kaunas 101 Kilometer beträgt. Nun gut, einige Elektrischkas halten wirklich sehr selten (der beste gar nur zwei Mal).
Die Abzweigung Richtung Klapeda befindet sich unmittelbar nach dem Hausbahnseig, aber von jedem der drei Gleise im Bereich des Aufnahmegebäudes gibt es Weichenverbindungen zu dieser Strecke, vom Hausbahnsteig kann man aber den Inselbahnsteig gleismäßig nicht erreichen. Die lange Wartezeit ist aber nicht eintönig, denn es kommen einige Güterzüge vorbei
Dieser ist bespannt mit einer 2M62, er kommt aus Richtung Abzweigung, also Šiauliai.
Auch ein Korridorzug von Moskau nach Kaliningrad (Königsberg), bespannt mit einer TEP70 kommt vorbei. Der alte Wasserturm schaut sehr nach Reichsbahn aus und bildet ein willkommes Hintergrundmotiv.
Genau in dem Moment, als unser Zug ankommt, können wir den Schnellzug von Riga nach Truskavec sehen, mit dem wir vor vier Tagen nach Litauen gekommen sind.
Kaunas
In Kaunas staune ich wieder einmal über den renovierten Bahnhof. Hier ist das Bahnhofsgebäude noch nicht ganz fertig, eine Fußgängerunterführung unter eine Hauptstraße ist schon eröffnet, der durchgehende Gang unter dem Bahnhof und den Bahnsteigen ist noch nicht ganz fertig.
Beeindruckend finde ich die Anzeigetafel, vor allem die Uhr: Rund um die digitale Anzeige füllt sich ein Viereck mit weißen Punkten – Symbol für den Sekundenzeiger.
Bevor wir unser Hotel aufsuchen, wollen wir gleich die Fahrkarte nach Warschau kaufen. Dazu werden wir zu einem Auslandsschalter gebeten, eigentlich eine Art Mini-Reisezentrum. Hier bekommt mein mitreisender Freund die Fahrkarte bis zur Grenze, denn für Polen hat er einen Fahrschein. Ich hingegen bekomme zwei Fahrscheine: einen Inlandsfahrschein 3. Klasse nach Šeštokai, der kostet für 94 Kilometer 12,40 Lt (etwa 4 Euro) und sieht gleich aus wie der oben schon abgebildete Fahrschein.
Dazu bekomme ich eine Buchfahrkarte, in der der Ausdruck „Bettkarte“ mit „Warszawa special“ überschrieben ist. Kostenpunkt 43,20 Lt. oder 12,50 Euro (auch das ist angegeben!). Es ist sogar die Aufteilung LG-PKP angegeben: LG: 1,10 EUR, PKP 11,40 EUR. Das ist also wirklich einmal eine billige Bahnfahrt! Immerhin 471 km insgesamt! Das ganze wird in einen Umschlag gesteckt:
Auf Wikipedia steht, daß es ein EU-Projekt einer Rail Baltica gibt, das 2016 fertig sein soll. Geplant ist demnach eine Hochgeschwindigkeits-Bahnverbindung von Warschau über Kaunas und Riga nach Tallinn. Ganz kann ich das noch nicht glauben, aber schön wäre es natürlich.
Wir müssen eine längere Strecke bis zum Hotel gehen, denn hier ist der Bahnhof etwas weiter vom Stadtzentrum entfernt. Das Hotel ist in einer Seitenstraße.
Wir gehen dann durch die Fußgängerzone und besichtigen einmal die Innenstadt. Am Übergang von der Neustadt (19. Jahrhundert) zur Altstadt (viel älter) überqueren wir eine verkehrsreiche Straße, auf der moderne O-Busse unterwegs sind. Für die O-Bus-Freunde hier zwei Bilder von älteren und einem neuen Modell:
Uns fällt auch auf, daß man in Litauen wieder „Telefonas“ sagt und nicht „Taksofonas“ wie in Lettland. Vielleicht weil heute Sonntag ist, ist es außergewöhnlich ruhig hier. Man sieht wenige Menschen auf der Straße, auch Touristen gibt es hier im Gegensatz zu Klaipeda nicht viele. Die Öffnungszeiten werden auf eine interessante Art und Weise ohne Worte angeschrieben: Lauter Ringe für Tage, an denen geöffnet ist, für Sonntag (geschlossen) ein gefüllter Ring, für Samstag eine Art Halbmond, ein Ring halb gefüllt.
Bekanntestes Motiv in Kaunas ist das Rathaus, oft „Weißer Schwan“ genannt, das seinen gotischen Ursprung in klassizistischer Umgstaltung versteckt hat.
Auf der anderen Seite des Flusses und der Altstadt ist eine Standseilbahn auf den „Grünen Berg“. Sie verkehrt aber nicht mehr, wir können nur noch die zwei auf der Strecke stehenden alten Wagen fotografieren:
In Litauen gibt es keine höheren Berge als 300 m, daher ist es umso erstaunlicher, daß in Kaunas gleich zwei Standseilbahnen (die einzigen in Litauen) existier(t)en. Die zweite verkehrt noch, wir besuchen sie am nächsten Tag (Montag). Und diese ist noch in Betrieb.
Wir fahren um 50 Centai hinauf und sind die einzigen Fahrgäste. Nach einigen weiteren Besichtigungen kommen wir schließlich zum Bahnhof. Wir fahren nun mit dem Zug nach Šeštokai, der von Vilnius kommt. Am Bahnhof stelle ich fest, daß die Leute fleißig über die Gleise gehen, auch wenn deutlich geschrieben steht, daß dies verboten ist. Aber es ist verständlich: der Übergang ist 200 Meter entfernt und der Durchgang ist ja noch nicht eröffnet. Kaunas ist eher ein beschaulicher Bahnhof. Die Güterzüge und die Russenzüge (Korridorzüge) fahren ja außen vorbei und nicht durch die Stadt. Die Stadtstrecke führt auch durch einen Tunnel. Die Bahnsteige hier sind sehr niedrig und erinnern an Österreich. Schließlich kommt unser Zug mit drei Wagen, gezogen von einer TEP60. Das folgende Bild ist zwar kein Eisenbahnbild, aber es soll zeigen, wieviel bei diesem Zug los war. Das läßt darauf schließen, daß mehrere durchgehende Züge nach Polen (ohne Spurwechsel) vermutlich schon noch mehr Fahrgäste anziehen könnten.
Die Fahrkarten werden wieder beim Einstieg kontrolliert bzw. eingerissen. Es sind diesmal alte Wagen (sie gelten als 3. Klasse), aber die Sitze sind einigermaßen bequem, wenn auch nicht so modern im Schnellzug nach/von Klaipeda. Von unserem Zug schreibe ich mir auch die Wagennummern auf: 57 24 27-38 702 (3. Klasse), 57 24 44-38 720 (2. Klasse) und 58 24 70-78 332. Wie die anderen beiden Wagen innen aussehen, weiß ich nicht.
Irgendwie fühle ich mich sehr wohl hier drin, obwohl mein Freund und ich wegen des Andranges nicht nebeneinander sitzen können. Es dürften zahlreiche Interrailer hier sein oder jedenfalls jugendliche Tramper. Der Zug ist noch immer gut gefüllt, denn in Kaunas sind zwar etliche Leute ausgestiegen aber anscheinend noch mehr eingestiegen. In Kazlu Ruda kommt uns ein Russenzug entgegen: TEP70BS mit dem Zug von Königsberg nach Sankt Petersburg. Das Bild durch die Scheibe ist nicht gut geworden, aber das Bahnhofsgebäude ist hübsch und daher will ich es hier zeigen:
Auch der Bahnhof Mariampole sieht sehr interessant aus. Eigentlich ein Architekturdenkmal!
Grenzbahnhof Šeštokai
Bei der Ankunft in Šeštokai müssen wir fünf Stufen hinuntersteigen, bis wir den niedrigen Bahnsteig erreichen! Das ist direkt etwas anstrengend! Das eigentliche Bahnhofsgebäude von Šeštokai liegt abseits, wir halten an einem neuen Mittelbahnsteig, einige Meter weiter südlich.
Hinter der Lok, die uns hierhergebracht hat, sieht man das Bahnhofsgebäude. Rechts ist die litauische V120 für 1435mm-Spur zu erkennen, die ich schon bei der Einfahrt fotografiert habe, das Bild durch die schmutzige Scheibe ist aber nichts geworden. Die Lok dient zum Verschub der polnischen Wagengarnitur, denn eine polnische Verschublok ist ja keine hier. Die Lok ist übrigens wirklich mit „V120“ beschriftet!
Und hier das hübsche Gebäude in seiner Pracht.
Das ist die Beschriftung auf dem Bahnsteig, sehr interessant die litauischen Formen für die polnischen Städte. Fast alle Leute unseres Zuges fahren weiter Richtung Polen.
Der PKP-Schnellzug ist noch nicht da und er wird auch länger nicht kommen, denn er hat ziemlich viel Verspätung. Erst um 15 Uhr kommt er mit einer Lok der Reihe SU45.
Nun sind beide Gleise besetzt und es ist kein Gleis frei, damit die polnische Lok umsetzen kann. Links sind mehrere Gütergleise, die alle besetzt sind. Ich bin also neugierig, wie das bewerkstelligt wird. Das Normalspurgleis mündet einige Meter nach dem Bahnsteig in ein zweites Normalspurgleis, das von den östlichen Gütergleisen kommt. Nennen wir unser Gleis 1 und das erste Gütergleis 2. Alle Gütergleise sind mit Wagen besetzt. Nun gibt es eine Menge Schritte, um den Zug, der noch dazu zwei Sonderwagen hat (einen modernen A und einen WR, die für irgendeine großkopferte Delegation nach Mockava benötigt worden waren), umzudrehen:
1. Die PKP-Lok (SU45) fährt auf Gleis 2 (hier ist neben Güterwagen noch etwas Platz).
2. Die LG-Lok (V120) holt die zwei Sonderwagen und zieht sie nach Norden.
3. Die zwei Sonderwagen werden an die PKP-Lok auf Gleis 2 gekuppelt.
4. Die LG-Lok holt den restlichen Wagensatz (AB-B-BD) und kuppelt ihn an die Sonderwagen.
5. Die LG-Lok zieht die ganze Garnitur samt PKP-Lok von Gleis 2 nach Norden und schiebt alles auf Gleis 1 zurück.
Zwei Minuten später fährt unser Zug auch schon ab. Aber das Manövrieren hat natürlich fast eine halbe Stunde gedauert. Statt um 15.08 Uhr verlassen wir den Bahnhof erst um 15.32 Uhr. Nach MESZ ist das 14.32 Uhr.
Nach sechs Minuten Fahrt auf einem Vierschienengleis erreichen wir Mockava (hat nichts mit Moskva zu tun, sondern spricht sich „Motzkawa“), den eigentlichen Grenzbahnhof. Denn hier steigen die Zöllner zu. Zwischen Šeštokai und Mockava gibt es das Vierschienengleis. Ab Mockava dann nur mehr Normalspur.
Das Bahnhofsgebäude in Mockava ist nigelnagelneu und steht einsam in der waldigen Gegend. Ein Bild gelingt nicht, weil ein Zug davor steht, obwohl keiner im Fahrplan steht. Er ist bespannt mit der TEP70BS-002 und mit drei besonderen Wagen. In der Schnelle kann ich die Nummern nur in Kurzform notieren: 99-39, 88-39, 99-69. Bis auf den mittleren Speisewagen also Sonderwagen. Da war wohl irgendwas los hier, eine Feier oder sowas, daher also die Verspätung und die Sonderwagen in unserem Zug, die aber während der Fahrt versperrt bleiben. Die Grenzkontrolle ist unspektakulär. Ich suche vergeblich Anzeichen einer ehemaligen Spurwechselanlage. Sollte es doch hier irgendwo gegeben haben, auch wenn der Grenzübergang erst neu angelegt werden mußte. Ich bin nicht sicher, ob es hier zu Sowjetzeiten eine grenzüberschreitende Bahnlinie gegeben hat. Allenfalls vorher. Die neue Strecke wurde erst errichtet, damit Polen mit Litauen überhaupt einen Schienen-Grenzübergang bekommen hat. Nach Vilnius fuhr man früher über das weißrussische Hrodna (damals noch russisch Grodno geschrieben). Nach zwei Minuten Aufenthalt in Mockava geht es weiter Richtung polnische Grenze. Um 15.01 Uhr passieren wir die polnische Grenze, den Grenzpflock kann ich sogar fotografieren.
Der Grenzstreifen ist noch gut zu sehen, ein Weg führt entlang. Zäune gibt es natürlich nicht mehr.
Um 15.18 Uhr kommen wir in Trakiszki an. Auch das ein völlig neuer Bahnhof, scheinbar nur für den Zoll. Der Fahrplan für diese Station ist wahrlich sehr kurz. Ich kann den Zettel, der hinter die Scheibe einer Bahnhofstür geklebt ist, fotografieren.
Darauf steht:
Abfahrt nach Bialystok um 14.49 Uhr. Nach Suwalki ebenfalls 14.49, nach Warszawa Zach. 14.49 Uhr, nach Sestokai um 13.12 Uhr. Es steht „Sestokai“ und nicht „Šeštokai“! Der Fahrpreis von hier nach Warschau würde 47 Zloty kosten. Es sind auch die Ermäßigungen zu 37%, 78% und 95% (!) angegeben! Wer 95% Ermäßigung genießt, würde mich interessieren!
Ab nun verzichte ich auf Bilder, die ohnedies alle aus dem Zug gemacht wurden. Polen ist den meisten ja doch besser bekannt als das Baltikum. Für eine echte Reportage reicht die Ausbeute nicht.
Um 15.20 Uhr verlassen wir Trakiszki, mit 28 Minuten Verspätung. Bei der Ausfahrt fällt mir ein altes Bahnhofsgebäude aus Holz auf, das früher mal auf dieser Nebenstrecke genügte. Wer weiß, wie lange es hier eigentlich früher Verkehr gegeben hat. Die Weiterfahrt ist zunächst eine elende Schleicherei. In Suwalki werden noch 6 Wagen hinten an unseren Zug angehängt. Unsere Lok umfährt den Zug und setzt sich ans andere Ende. Um 15.48 fahren wir von hier ab. Nun ist für mich geklärt, warum die zwei Sonderwagen bei der Abfahrt von Šeštokai hinter der Lok sein mußten, sie wären jetzt mitten im Zug gewesen, das wäre unpraktisch gewesen! Unser Zug hat also jetzt 9 Wagen plus zwei gesperrte Sonderwagen. Und der Zug scheint voll zu sein. Die Abteile mit jeweils 8 Sitzplätzen sind ziemlich voll.
Wenigstens geht es ab jetzt schneller dahin, es dürfte eine Hauptstrecke sein. Die Landschaft ist recht nett, immer wieder sieht man kleine Seen, es ist wohl der Rand der masurischen Seenplatte. Ab Sokólko fahren wir mit unserer Diesellok unter dem Fahrdraht weiter. Wir haben schon 10 Minuten unserer Verspätung eingeholt. Unterwegs sehe ich eine PCC-Privatlok Reihe 181, offensichtlich ex ZSSK. Ab Bialystok geht es noch schneller und mit sehr wenigen Halten dahin, allerdings beginnt der Zug 25 Kilometer vor Warschau wieder zu schleichen. Der Bahnhof Warszawa Centralna ist unterirdisch und entsprechend häßlich. Irgendwie erinnert er mich an Bruxelles Central. Die Bahnsteige sind eher altertümlich, aber oben ist die Umgebung top-modern. Sind wir hier in Manhattan oder Mainhattan? Na, wohl in Wislahattan. Lauter Glas-Hochhäuser, eigentlich ein sehr eigenartiger Anblick, auf jeden Fall total unerwartet! Wir gehen zu unserem Hotel.
Der Rest der Reise besteht in einer kleinen Innenstadtbesichtigung am folgenden Vormittag und der Heimfahrt mit dem Eurocity 105. Etwas ärgert mich, daß der Zug Berlin-Warschau-Express auf Polnisch, Deutsch, Russisch und Englisch (in dieser Reihenfolge) angesagt wird, der EC105 nach Wien hingegen nur auf Polnisch. Die ausschließlich polnische Ansage unseres Zuges bedeutet natürlich, daß man kaum etwas versteht, das Abfahrtsgleis wird sehr knapp vor der Abfahrt erst bekanntgegeben und nur meine rudimentären Slawischkenntnisse sowie die genaue Beobachtung der Zuganzeigen helfen, daß wir am richtigen Bahnsteig landen. Und wie zu erwarten, ist der Zug ziemlich voll. Die ersten 300 km über die Schnellfahrtstrecke fahren wir wirklich schnell, in der Gegend von Katowice geht es extrem langsam dahin. In Zebrzydowice haben wir nur zwei Minuten Aufenthalt, drei Minuten später passieren wir die Staatsgrenze nach Tschechien. Weitere drei Minuten danach kommen wir in Petrovice u Karviné an. Hier wird die Lok gewechselt. Auch ein EN57 kommt bis hierher. Unsere EP09-020 wird gegen eine CD-Lok gewechselt, ich kann jedoch die Baureihe nicht erkennen. In wenigen Monaten wird es hier keine Kontrolle mehr geben (Schengenraum) und in Petrovice wird nicht mehr gehalten werden. Der tschechische Schaffner gibt Ansagen in drei Sprachen durch: Tschechisch, Englisch (etwas weniger detailliert) und Deutsch (noch weniger) – in dieser Reihenfolge. Nach 2 Stunden zügiger Fahrt lassen wir Tschechien hinter uns. Der österreichische Schaffner macht seine Ansagen neben Deutsch und Englisch sogar auf Tschechisch. Angeblich ist er der einzige Schaffner, der das aus eigenem Antrieb und wohl mit etwas Stolz macht. Und seine Aussprache ist recht gut! So endet eine hochinteressante Reise durch einen Teil der EU, den ich vorher nicht gekannt hatte. Wenn sich bei den dortigen Bahnen in Hinkunft etwas ändern sollte, würde ich gerne wieder dort hinauf fahren!
Ich hoffe, die Reportage hat Euch gefallen!
1-mal bearbeitet. Zuletzt am 2008:02:14:13:42:29.