Bis zum 8. November 1989 durfte die Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) nur mit einem gültigen Visum übertreten werden. Für Züge aus der Bundesrepublik Deutschland nach Westberlin galten Sonderregelungen, weil die Züge ohne Verkehrshalt in der DDR verkehrten und das Transitvisum im Zug ausgestellt wurde.
Die Zahl der Reisezüge zwischen der BRD und DDR nutzten vor allem DDR Rentner, die leichter eine Reisegenehmigung erhielten, wenn sie Verwandte im Westen besuchten.
Die Bevölkerung in der DDR forderte energisch Reisefreiheit. Überraschend wurde am 9. November 1989 die Reisefreiheit für DDR Bürger eingeführt.
Auszug aus dem
Transportbericht der Zentralstelle Produktion der DB über das erste Wochenende nach der Grenzöffnung Freitag 10. November bis Montag 13. November 1989:
„Die Betriebsführung der DB war nach Öffnung der Grenzen durch die DDR in der Nacht vom 09./10.11. stark gefordert. Die teilweise, besonders im "Kleinen Grenzverkehr"', enorm gestiegenen Reisendenzahl, erforderte im Fernverkehr
über 40 Sonderzüge. Der grenznahe Verkehr wurde teilweise mit Pendelfahrten im gegenseitigen Benehmen der Grenzbahnhöfe geregelt.
Z U G F Ö R D E R U N G S D I E N S T (allgemeine Lage)
Die verfügbaren Tf- und Tfz-Kapazitäten wurden am Wochenende voll genutzt. Die
kurzfristig eingelegten Reisesonderzüge zur Beförderung von Reisenden aus der DDR konnten zugförderungsseitig durch zusätzlichen Einsatz von Tf und Tfz
ohne größere Störungen durchgeführt werden. In den BD Hamburg, Hannover, Frankfurt/M und Nürnberg wurden
am Samstag und Sonntag insgesamt 30 Tf-Dienstbereitschaften zusätzlich gebildet und eingesetzt.“
Die Eisenbahner rechneten sofort mit einem großen Andrang auf die wenigen grenzüberschreitenden Züge. Deshalb fuhr ein Fahrpansachbearbeiter der Zentralstelle Produktion (ZZP) der DB am 13. November 1989 nach Ostberlin, um mit der DR zusätzliche Züge zu vereinbaren. Das Problem waren die fehlenden Telefonverbindungen zwischen West und Ost. Am Montag 13. November 1989 begann sofort die Fahrplanbearbeitung. Eine Standtelefonverbindung zwischen der DR in Ostberlin und der DB in Mainz zur ZZP diente zur Abstimmung. Die neuen Züge mussten im laufenden Jahresfahrplan 1989/90 in das Netz eingefügt werden. In den Grenzbahnhöfen der DDR mussten die Züge 40 Minuten zur Kontrolle halten, so dass die Züge nur in gewissen Zeitabständen durch diesen Engpass geführt werden konnten.
Die Fahrplansachbearbeiter der DB und die Fahrplantechnologen der DR bearbeiteten in einem Stafettenverfahren die Fahrpläne von Direktionsgrenze zu Direktionsgrenze und übermittelten die Übergangszeiten an die Nachbardirektion und die Zentrale. Parallel wurde der Einsatz der Triebfahrzeuge, Wagen, Personal, Gleisbelegung der Knotenbahnhöfe und Abstellmöglichkeiten geplant. Die Züge sollten bereits ab
16. November 1989 anlaufen. Diese schnelle Realisierung über die Systemgrenzen hinweg war eine besondere Leistung. Ich betone besonders, dass die Arbeiten noch ohne Computer erledigt wurden und deshalb so schnell zu erledigen waren, weil auf lästige Dateneingaben verzichtet werden konnte. Innerhalb der DB wurden die Fahrzeiten mit Fernschreiben bekanntgegeben.
Am 15. November 1989 übergab der Fahrplansachbearbeiter der BD Köln die handschriftlich 11 Fernschreibseiten an die
Fernschreibstelle, die für den Versand der Fernschreiben sorgte.
Weil damals Internet nicht zur Verfügung stand und Faxgeräte nur sehr selten vorhanden waren (nach meiner Erinnerung nur 1 Faxgerät für alle Mitarbeiter im Gebäude der Bundesbahndirektion Köln in der Eingangsstelle). Deshalb konnten dringliche Mitteilungen nur telefonisch oder als Fernschreiben versandt werden.
Im Fernschreiben der BD Köln wurden nicht nur die sonst üblichen Empfänger angeschrieben, sondern alle Fahrkartenausgaben (Fka) und DB Verkaufsagenturen (d.h. Reisebüros) im Bezirk der BD Köln, sowie die Fka und Bahnhöfe mit Halten der zusätzlichen Züge auf dem Gebiet der DB außerhalb der BD Köln, damit die Eisenbahner die Reisenden schon ab Einsatz der zusätzlichen Züge über den Fahrplan informieren konnten, ehe die „normale“ Informationskette anlief.
Sonst wurden im allgemeinen die Fernschreiben nach dem handschriftlichen Eintrag in die Telegrammvordrucke durch den Fahrplansachbearbeiter Schreibkräften zur Übertragung auf Schreibmaschine übergeben und mußten anschließend korrekturgelesen werden. Dazu war jetzt keine Zeit.
4 Seiten des insgesamt 11 seitigen Fernschreibens der BD Köln Fplo 30:
Anschließend übernahmen die Buchfahrplansachbearbeiter die Daten und übertrugen sie ins für das Zugpersonal gewohnte Fahrzeitenheftformat. Diese wurden bei der BD Köln als Fplo 30 gedruckt und verteilt.
Die Zugbildung der vereinbarten Züge:
D 464/465 Dresden- München: 2 Am + 1 A+ 6 B DR
D 1100/1101 München- Berlin- Lichtenberg: 2 A+ 1 ABm + 6 Bm DR
D 1102/1103 Stuttgart- Leipzig: 3 ABm +7 Bm DB
D 1132/1133 Rostock- Hamburg- Altona: 1 ABm+ 6 Bmh DR
D 1136/1137 Dresden- Hamburg: 1 Am + 8 Bm DB
D 1138/1139 Berlin- Lichtenberg- Hamburg : 2 ABm + 6 Bm DB
D 1150/1151 Dresden- Frankfurt (M):2 Am+ 9 Bm+ 1 BDms DB
D 1152/1153 Karl-Marx Stadt- Düsseldorf: 2 A+ 1 AB+ 6 B DR
D 1154/1155 Erfurt- Duisburg: 1 Am+ 4 Bm DB
D 1158/1159 Berlin- Schöneweide- Frankfurt (M): 1 Am+ 8 Bm+ 1 BDms DB
D 1444/1445 Magdeburg- Köln: 1 Am+ 8 Bm DB
D 1448/1449 Berlin- Schöneweide- Köln: 1 Am+ 1 ABm+ 9 Bm+ 1 BDms DR
E 2003/2006 Rudolstadt- Lichtenfels: 5 Bmh DR
E 2030/2031 Schwerin- Hamburg: 8 Bmh DR
E 2040/2049 Magdeburg- Braunschweig: 9 Bmh DR
E 2064/2065 Zwickau- Hof: 6 Bm DB, davon 2 Kurswagen Zwickau- Würzburg
E 2143/2142 Braunschweig- Stendal: 5 Bmh DR
E 2145/2144 Hannover- Stendal: 5 Bm DB
E 2656/2657 Nordhausen- Northeim: 5 Bmh DR
E 2654/2655 Nordhausen- Northeim: 5 Bmh DR
Außerdem wurden die Zugbildung der bestehenden D- Züge verstärkt.
Besonders an den ersten Wochenenden waren die Züge hoffnungslos überfüllt.
Deshalb wies die Betriebsleitung (BL) Köln in einem Fernschreiben das Zugpersonal und die Zugaufsicht an den Bahnhöfen an, wie bei starker Überbesetzung mit Rücksicht auf die Federung der Wagen zu verfahren ist:
89.12.18 O9.5O
-
B 2474 VON KOELN 15 12 15OO
ZUGBEGLEITERBFE DER BD KDELN
BF KOELN HBF, NEUSS, DUESSELDORF, DUISBURG SOLINGEN OHLIGG, WT ELBERFELD, HAGEN HBF
RA KOELN 1 BIS 5
` BL ESSEN
BD KOELN: PR LA, HAL PPA, MW, PIA 1, PPA 3, PN 4, MW 3 BL, ZL KOELN
UEBERBESETZUNG VDN REISEZUEGEN
IM VERKEHR MIT DER DR
AUS LAUFTECHNISCHEN GRUENDEN IST BEI DB-WAGEN EINE BESETZUNG VON 200 PROZENT (ANZAHL DER SITZPLAETZE MAL 2)
OHNE GESCHWINDIGKEITSREDUZIERUNG
ZULAESSIG BEI EINER BESETZUN8 UEBER 2OO PROZENT
BIS HOECHSTENS 25O PROZENT IST EINE ERMAESZIGUNG DER GESCHWINDIGKEIT AUF 80 KM/H ERFORDERLICH.
LAESZT SICH EINE UEBERBESETZLPIG VON MEHR ALS 250 PROZENT
NICHT VERHINDERN, IST EINE ERMAESZIGUNG DER GESCHWINDIGKEIT
AUF 4O KM/HERFORDERLICH, UM BESCHAEDIGUNGEN DER wIEGENFANGEINRICHTUNG ZU VERRINGERN.
EINE BESESTZUNG VON MEHR ALS 3OO PROZENT IST WEGEN DER UNWIRK EIT DER PRIMAERFEDERUNG UND NICHT MEHR GEGEBENER LAUFSICH6gMEIT NICHT ZULAESSIG.
VORSTEHENDE REGELLUNGEN SIND AUCH BEI REISEZUKGWAGEN ANDERER BAHNEN ANZUWENDEN.
DER ZUGFUEHRER SCHAETZT DIE ZAHL DER REISENDEN,
DIE ZUGAUFSICHT INFORMIERT DIE BETRIEBSLEITUNG,
DER TRIEBFAHRZUGFUEHRER WIRD MIT FAHRPLANABWEICHUNG NR 3 SOWIE ANGABE DER UEBERBESETZUNG IN PROZENT UNTERRICHTET.
SOWEIT IM BEREICH DER BD KOELN DIE IN BEZUG GENANNTEN UEBERBESETZUNGEN AUFTRETEN SOLLTEN, SIND FAHRPLANABWEICHUNGEN BEI DER BD KOELN ANZUFORDERN.
BL KOELN
Am Wochenende Freitag 15.12.89 bis Sonntag 17.12.89
Musste die Geschwindigkeit im Bereich der Deutschen Bundesbahn wegen Überbesetzung ermäßigt werden:
Am 15.12.89 5 Reisezüge auf 80 km/h 1 Reisezug auf 40 km/h
Am 16.12.89 7 Reisezüge auf 80 km/h 3 Reisezüge auf 40 km/h
Am 17.12.89 2 Reisezüge auf 80 km/h
Wegen des erhöhten Verkehrsaufkommens wurde das Zugangebot über den auf der Besprechung in Berlin vereinbarten Umfang hinaus bei einer Fahrplanbesprechnung DB/DR vom 19. bis 21. Dezember 1989 in Mainz ausgedehnt. Ab Januar 1990 wurden neue Tagesrandverbindungen mit der Aufhebung der Visumspflicht für Bürger der Bundesrepublik Deutschland eingerichtet.
Neue Zugverbindungen ab Januar 1990:
E 2034/2035 Rostock - Hamburg Hauptbahnhof
D 18684/18685 Rostock – Lübeck
P 5350/28687 Wismar – Lübeck
P 28702/28703 Rostock – Lübeck Mo-Fr
E 2033/2032 Wismar – Lübeck
E 2542/2543 Stendal- Wolfsburg – Braunschweig Sa+ So
E 3892/9894/9896/9893/3895/9897 Oebisfelde – Wolfsburg
D 1346 Sa/1345 So Berlin - Wannsee - Braunschweig = Autoreisezugpaar
E 2041 Helmstedt – Magdeburg Sa+ So
E 2542/2045 Magdeburg – Hannover
E 2046/2049 Magdeburg – Braunschweig
E 2048/2047 Magdeburg – Helmstedt
E. 2650/2651 Nordhausen - Northeim
D 1156/1157 Weimar – Kassel
D 1458/1457 Erfurt - Frankfurt (Main) Fr-So
D 1403/1406 Gera – Nürnberg
E 2009/2002 Saalfeld – Lichtenfels Sa+So
E 2004/2005 Kronach – Saalfeld
E 2007/D 1400 Jena Saalbf – Nürnberg
D 1464/1465 Görlitz – Hof –Nürnberg
D 10464/10473 Plauen – Hof (10473 nur W)
Über den Grenzübergang Herrnburg - Lübeck verkehrten auch DR Doppelstockwagen.
Die Pendelzüge zwischen Oebisfelde und Wolfsburg waren vierteilige VT 624.
Über die Grenzübergänge Herrnburg/Lübeck, Helmstedt/Marienborn und Hof- Gutenfürst wurden auch DB Byg Wagen bei einzelnen Zügen eingestellt.
Bei den zusätzlichen Zügen ab Januar 1990 wurde mehr der grenznahe Nahverkehr mit zusätzlich Halten berücksichtigt.
Bald normalisierte sich der Reisezugverkehr und ab 1. Juli 1990 waren an den Grenzbahnhöfen keine Kontrollhalte mehr nötig.
Gruß Ulrich