Bereits vor fast drei Jahren hatte ich im DAF einen kurzen Beitrag den 20-Pfennig-Wertmarken der Städtischen Straßenbahn Dresden, die hin und wieder auch auf einer bekannten Versteigerungsplattform auftauchen, gewidmet. Ich würde dennoch gern die Gelegenheit nutzen, mich dem Thema erneut zuzuwenden und neue Erkenntnisse und Vergleichsmotive mit einfließen zu lassen. Dabei verzichte ich bewusst auf ein Recyclen des Ursprungstextes…
Das genaue Prozedere der Verwendung der wohl zum Ende des Ersten Weltkrieges ausgegebenen Notmünzen scheint mir immer noch etwas rätselhaft. Vielleicht kann ja jemand etwas Erhellendes dazu beitragen? Offenbar wurden sie jedoch im direkten Kundenkontakt als Wertmarken verwendet, denn die rückseitig aufgebrachten Werbungen wären ohne einen solchen wohl eher unnötig gewesen.
Zeitlich einordnen lassen sie sich auf die Jahre 1918 bzw. 1919. Damals galt ein Streckeneinheitspreis von 20 Pfennig, was dem Nennwert der Münzen entspricht, für Teilstrecken waren 15 Pfennige zu zahlen. 1920 waren es bereits 30 Pfennige ohne Teilstrecken (Angaben in den entsprechenden Adressbüchern).
Die Münzen bestehen aus Zinn, haben einen Durchmesser von 21 Millimetern und weisen einen geprägten Avers mit dem einheitlichen Nennwert 20 Pfennige auf, umgeben von einer kranzförmigen Inschrift „Städtische Straßenbahn“ bzw. „Wertmarke“ im unteren Bereich. Rückseitig eingekapselt ist eine Pappscheibe mit insgesamt 11 unterschiedlichen Werbebedruckungen, die ihrerseits unschätzbare Einblicke in die Wirtschaftsgeschichte der 1945 weitgehend verlorenen alten Stadt ermöglichen.
Nummer 1: Kaufhaus Esders (Prager Straße/Waisenhausstraße)
Das Esders eröffnete 1894 und war eine veritable Dresdner Institution, die den Ruf der Prager Straße als mondäne Einkaufsstraße entscheidend mitprägte. Die alten Gebäude aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wichen 1908 einem damals hochmodernen Neubau aus Stahlbeton, der selbst der Deutschen Bauzeitung einen eigenen Artikel wert war.
Deutsche Bauzeitung, VI. Jahrgang, 12. Ausgabe.
Postkarte aus den zwanziger Jahren mit Blick in die Prager Straße.
Die Ruine überdauerte aufgrund der massiven Bauweise die Zerstörungen und war wohl zunächst zum Wiederaufbau vorgesehen. Leider wurde sie Jahre später endgültig beseitigt. Seit 1998 nimmt ein Neubau das bis dahin jahrzehntelang leerstehende Grundstück ein. Von seinem Vorgängerbau übernahm es die Schrägstellung der Eckfassade zur Waisenhausstraße.
Nummer 2: Café Hülfert (Prager Straße/Sidonienstraße)
Wir bleiben auf der Prager Straße, gehen aber weiter Richtung Hauptbahnhof zur Kreuzung mit der Sidonienstraße. Das Hülfert war eines der bekanntesten Caféhäuser der Stadt und Anlaufstelle vor allem für eine betuchtere Kundschaft. Die Prager Straße ist heute an dieser Stelle nicht mehr wiederzuerkennen und öffnet sich zu einem breiten Fußgängerboulevard. Wir blicken kurz nach der Jahrhundertwende Richtung Norden, denn der „gelbe“ Triebwagen trägt noch keine Liniennummer. Die Esders- und Hülfert-Versionen sind die mit Abstand häufigsten Vertreter unserer Zahlmarken-Serie.
Nummer 3: S. Jungnitsch Pelze (Kleine Plauensche Gasse 11)
Die Pelzhandlung Jungnitsch lag versteckt im dichten Häusergewirr der Seevorstadt in der Kleinen Plauenschen Gasse, die von der Ammonstraße nach Am See führte. Seit Anfang der 1970er Jahre heißt die ehemals enge Gasse Budapester Straße und durchschneidet, teilweise zur Hochstraße ausgebaut, vierspurig die Seevorstadt. Die Postkarte zeigt mangels Bild nicht die Pelzhandlung, sondern die Einmündung Am See etwa dort, wo heute das Hochhaus an der Marienstraße steht, mit der Kleinen Plauenschen Gasse zur Rechten. Die Nummer 11 befand sich unweit hiervon zwischen Seilergasse und Weinligstraße.
Nummer 4: MARA Schuh G.m.b.H. (Wettinerstraße/Amalienstraße)
Die MARA Schuh-Handlung hatte ihren Stammsitz in der Amalienstraße, heute in der Sankt-Petersburger Straße aufgegangen, mit Adresse Serrestraße 1 an der Ecke der Amalienstraße zu besagter, heute vollständig verschwundener Nebenstraße. Zum Bewerben nutzte man natürlich die weit bekanntere Amalienstraße, die sich einst zwischen Pirnaischem und Amalien- (Rathenau-)platz erstreckte und die „gelbe“ Straßenbahnstrecke zur Pillnitzer und Mraschallstraße beherbergte.
Blick vom Pirnaischen Platz mit dem Kaiserpalast in die Amalienstraße. Heute herrscht hier städtebaulich gähnende Leere und weite Rasenflächen in Begleitung der zur Stadtautobahn ausgebauten St.-Petersburger Straße.
Nummer 5: Mercedes Schuhgesellschaft (Altmarkt)
Bleiben wir im Schuhgeschäft und begeben uns diesmal zum Altmarkt. Die Mercedes-Schuhgesellschaft hatte ihren Sitz im Haus der Arnoldschen Buchhandlung an der Ecke zur Webergasse (Adresse Webergasse 2). Wir sehen besagtes Eckgebäude rechts der Bildmitte hinter dem regen Markttreiben mit der Einmündung der Webergasse oberhalb des Germania-Denkmals.
An derselben Stelle befindet sich heute der überwölbte Eingang zur Webergasse aus den 1950er Jahren, die seit der Jahrtausendwende durch die Altmarkt-Galerie verläuft.
Offenbar jedoch besaß Mercedes vorher eine andere Adresse am Altmarkt, denn die Postkarte aus der Zeit kurz nach der Jahrhundertwende zeigt das Geschäft an der Ecke zur Schlossstraße.
Nummer 6: Gustav Tuchler Nachf. Konfektionsbekleidung (König-Johann-Straße 2)
Der ehemalige Hoflieferant bewirbt sein „Simplex“-Hemd mit festen auswechselbaren Manschetten für den Herrn von Welt. Das Gebäude, das auch das bekannte Resident-Café beherbergte, wurde Ende der zwanziger Jahre im Art-Déco-Stil umgestaltet und wie die gesamte Altmarkt-Bebauung 1945 zerstört. Heute steht hier das „Haus Altmarkt“ mit einer Filiale eines bekannten Burgerbraters.
Nummer 7: Thiemer-Reklame (Annenstraße 42)
Im Schatten des Chores der Annenkirche residierte die Reklamefirma Thiemer in der Wilsdruffer Vorstadt.
Zum Vergleich der damaligen und der heutigen Situation die Annenkirche aus Richtung Sternplatz gesehen mit der 1945 eingestellten Straßenbahnstrecke nach Plauen. Die Annenstraße 42 befand sich links gleich außerhalb des Bildes in der platzartigen Erweiterung der Straße südwestlich der Annenkirche. Heute dominieren hier vorstädtische Wohnzeilen aus den frühen 60er Jahren.
Nummer 8: Treuhand-Bank Sachsen (Ringstraße 64)
Die Treuhand-Bank hatte ihren Hauptsitz an der Ringstraße, bzw. Maximiliansring, in der Nummer 64. Die Luftaufnahme vom Rathausturm aus zeigt den Verwaltungsbau im Schatten des hell leuchtenden Hochhauses der Girozentrale, was Ende der zwanziger Jahre wohl durch Aufstockung des gründerzeitlichen Vorgängers entstand. Heute befindet sich hier der Parkplatz zwischen Straßenbahnhaltestelle Pirnaischer Platz der Nord-Süd-Verbindung und St.-Petersburger Straße.
Nummer 9: Dresdner Volkszeitung (Wettiner Platz 10)
Wir begeben uns in die Wilsdruffer Vorstadt an den Wettiner Platz. In der heute noch vorhandenen Nummer 10 hatte die 1908 gegründete sozialdemokratische Dresdner Volkszeitung ihren Sitz. Nach dem Verbot 1933 wurde sie als Volksstimme 1945 wiedergegründet und 1946 zur „Sächsischen Zeitung“ zwangsfusioniert. In der ehemaligen Druckerei im Hinterhof empfängt das Kabarett „Breschke und Schuch“ seine Gäste.
Und nun ins Umland.
Nummer 10: Elektrische Installationsartikel E. Max. Haufe (Großröhrsdorf)
Auch kleinere Unternehmen aus dem Umland, wie besagte Elektrohandlung aus Großröhrsdorf, warben bei der Dresdner Straßenbahn.
Nummer 11: Lößnitzer Automobil-Haus (Kötzschenbroda?)
Über das hier werbende Automobilhaus, gelegen im Amt Kötzschenbroda, konnte ich noch nichts Näheres in Erfahrung bringen. Auf jeden Fall dürften sich hier die Kunden der damals noch meterspurigen Lößnitzbahn besonders angesprochen gefühlt haben.
Das soll es gewesen sein mit einem eher etwas ungewöhnlichen Einblick in die Dresdner Stadt- und Nahverkehrsgeschichte. Weitere Versionen der Wertmarken scheint es nicht gegeben zu haben – wobei ich dies auch nicht ausschließen möchte.