Hallo liebe Eisenbahnfreunde!
In unserer Dokumentation zur "Zeitgeschichte" berichten wir heute über eine Erfindung, auf die wir nur zufällig bei Recherchearbeiten gestoßen sind. Vielleicht auch für viele DSO-User eine Neuigkeit?
Das dem Erfinderreichtum speziell im Betrieb der Eisenbahn keine Grenzen gesetzt sind, dass wurde in der einschlägigen Fachliteratur schon des Öfteren beschrieben. Somit ist es auch nicht verwunderlich, dass wir uns in diesem Beitrag mit einer zur damaligen Zeit ungewöhnlichen Erfindung beschäftigen. Uns allen sind Drehscheiben in den verschiedensten Bauformen, so wie sie in Bahnbetriebswerken und auf Bahnhöfen eingesetzt werden hinreichend bekannt. Ebenso interessant sind aber auch die Waggondrehscheiben, die sich überwiegend in Gleisanschlüssen bei vielen Firmen befinden. Gerade zu diesen Drehscheiben gab es auch eine Besonderheit in der Bauform, die vermutlich nur wenige von uns kennen.
Dabei handelt es sich um eine "Zweigleisige Drehscheibe", die sich Anno 1899 auf dem Betriebsgelände der Firmen August Klönne, C. H. Jucho und E. Willmann in Dortmund befand und die nach 1900 auch bei anderen Betrieben ihre Verwendung fand.
Bild 1 - Rekonstruktionszeichnung und Originalzeichnung
Über den Sinn und Zweck dieser besonderen Drehscheiben wird erstmals um die vorletzte Jahrhundertwende im "Centralblatt der Bauverwaltung" eingehend berichtet. Doch zurück in die Vergangenheit des Jahres 1899. Durch den in den letzten Jahren entstandenen Aufschwung der heimischen Industrie sind nach und nach sehr viele Gleisanschlüsse in ihrer Größe nicht mehr ausreichend, um die Masse an Güterwagen aufnehmen zu können. Erschwerend kommt hinzu, dass wegen der Bebauung der Nachbargrundstücke auch eine Erweiterung der Gleisanlagen mit neuen Weichenverbindungen kaum noch realisierbar ist. Aus diesem Grund hat die Fa. Jucho in den Jahren 1898/99 eine zweigleisige Drehscheibe entwickelt und den Prototyp auf dem eigenen Fabrikgelände an der Weißenburger Straße gelegen, eingebaut. Durch die Sonderbauform dieser Drehscheibe war es nun möglich, auch auf eingeschränktem Gelände brauchbare Gleisanlagen zu schaffen.
Bild 2 - Auszug aus dem Gleislageplan
Infolgedessen konnte auf mehrere Meter lange Weichenverbindungen verzichtet werden und selbst die kleinste, noch freie Werksfläche konnte zweckmäßig ausgenutzt werden. Die Drehscheibe mit zwei parallelen Gleisen bot zugleich auch eine enorme Flexibilität bei der Zustellung und der Abholung der Güterwagen. Die von den Firmen Klönne, Jucho und Willmann gemeinschaftlich genutzte zweigleisige Drehscheibe auf dem Firmengelände ist zugleich ein Paradebeispiel für die zu erwartende Vermarktung einer solchen Anlage. Die zuvor noch mit Weichenverbindungen versehenen Gleise genügten schon seit Jahren nicht mehr den Verkehrsbedürfnissen und zwang die Eisenbahn zu teilweise komplizierten Rangierbewegungen und diese wiederum verlangten den Anschlussinhabern erhebliche Mehrkosten ab. Dem Wunsch der Anschlussinhaber nach einer günstigen Rangierpauschale konnte die Eisenbahnverwaltung nur nachkommen, wenn eine Erweiterung der Gleisanlagen durchgeführt wird.
Das war die Zeit der Fa. Jucho, die dann auf Teile ihrer Weichenverbindungen verzichtete und auf ihrem schmalen Grundstück an der Weißenburger Straße eine zweigleisige Drehscheibe erbaute. Mit einem ungewöhnlichen Grubendurchmesser von 12,6 Metern entsprach sie auch den langen Wagen für die Beförderung von Brückenteilen der eigenen Brückenbauanstalt.
Die erste von Jucho gebaute Drehscheibe war bequem von vier Mann mit zwei in Hülsen eingelassenen Bäumen zu bedienen. Aufgrund von Profileinschränkungen mussten die Bäume sehr oft diagonal gewechselt werden. Das Verfahren war jedoch sehr umständlich und zeitaufwändig. Abhilfe verschaffte eine mechanische Drehvorrichtung in Form von vier Handwinden, die nachträglich eingebaut wurden. Nur wenige Jahre später erfolgte die Umstellung auf elektrischen Antrieb.
Bild 3 - Ansichten
In dem folgenden Lageplan der Fa. Jucho aus dem Jahre 1940 ist die Vielseitigkeit der Drehscheibe zu erkennen. Um die Funktionsweise genauer erklären zu können, haben wir in dem Lageplan die entsprechenden Gleise mit den Zahlen 1, 2, 3 und 4 versehen.
Bild 4 - Rangierbeispiel
Rangierbeispiel:
Die Grundstellung der Drehscheibe ermöglicht das Drehen eines Wagens um 180 Grad aus Gleis I nach Gleis II zu rangieren und umgekehrt.
Eine Wendung um 90 Grad vorwärts das Rangieren aus Gleis I nach Gleis III und aus Gleis II nach Gleis IV oder umgekehrt.
Eine Wendung um 90 Grad rückwärts die Verschiebung aus Gleis I nach Gleis IV und aus Gleis II nach Gleis III oder umgekehrt.
Alle Bewegungen waren auf kürzestem Weg mit geringem Kraftaufwand möglich.
Diese Technik wurde überzeugend auch von anderen Gleisanschlussinhabern aufgenommen, insbesondere von den Brauereien. Diese verlangten jedoch nach zweigleisigen Drehscheiben für Wagen mit einem Radstand von 4,5 und 5,0 Metern. Die ersten Entwürfe zu diesen Drehscheiben verzeichneten eine Bemessung der äußeren Schiene auf 5,0 Metern, bzw. auf 5,5 Meter. Daraus ergibt sich nach der mathematischen Formel ein Halbmesser von 3,867 Meter.
In den ersten Verkaufsprospekten der Fa. Jucho werden die zweigleisigen Drehscheiben zum Preis zwischen 5.660 Mark bis 5950 Mark angeboten. Zur Ausstattung gehören weiterhin die Riffelblechabdeckung, die Fahrschienen mit vier Hülsen für die zwei Bäume zum Drehen, also ohne mechanische Drehvorrichtung und die Montage. Das Ausheben der Drehscheibengrube und das Erstellen der Grundmauern wurden nicht von der Fa. Jucho angeboten.
Bild 5 - Konstruktionszeichnung
Die Dortmunder Drehscheibe war nachweisbar ab 1899 in Betrieb und wird in einem unserer Gleislagepläne bis in das Jahr 1940 verzeichnet. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist sie aber darüber hinaus noch einige Jahre länger in Betrieb gewesen. Die Vermarktung der zweigleisigen Drehscheibe war damals sicherlich Erfolg versprechend. Es ist uns allerdings kein weiterer Anschluss bekannt, der diese Technik auch noch verwendet hat.
Vielleicht können uns DSO-Leser dazu weitere Hinweise geben.
Ein Foto dieser Drehscheibe konnten wir trotz intensiver Recherchen bislang nicht finden. Auch im I-Net sind wir nach Durchsicht zahlreicher Seiten nicht weiter gekommen.
Bautechnische Handbücher führten ebenfalls nicht zum Erfolg.
In einem Gleislageplan aus dem Jahre 1950 ist die Drehscheibe nicht mehr vorhanden. An deren Stelle befand sich nun wieder eine Weichenverbindung ähnlich der, die sich Anno 1898 dort auch schon befunden haben muss, da sich die Standorte der großen Werkshallen kaum verändert haben.
Bild 6 - Gleislageplan
Die ehemaligen Gleisverbindungen werden schon seit vielen Jahren nicht mehr benutzt.
Mit dem Rückgang des Gütertransportes auf der Schiene und der Auflassung großer Rangierbahnhöfe ist eine Beförderung der Güter mit der Eisenbahn fast unmöglich geworden.
Heutzutage hat der LKW sich eine Monopolstellung geschaffen, die es der Eisenbahn nur sehr schwer macht ihre einstige Stellung als ideales Transportmittel zu behaupten.
Mit der Gründung der Bahn AG ist auch der Güterverkehr im Raum Dortmund erheblich eingebrochen. Die großen Bahnhöfe Dortmund Gbf, Dortmunderfeld, Eving und Hörde sind zu Brachflächen verkommen, welche sich mittlerweile zu Biotopen mit teilweise exotischen und längst vergessenen heimischen Pflanzen eindrucksvoll entwickelt haben.
Ergo: Es gab bei der Eisenbahn also nichts, was es nicht doch gab!
Gruß
Der Dortmunder
Michael
Sachliche Kritiken zum eigentlichen Thema sind ausdrücklich erwünscht.
1-mal bearbeitet. Zuletzt am 2014:03:25:18:14:36.