Der FS-Bahnhof San Vito-Lanciano war ein richtiges Nadelöhr an der 800 km langen Hauptstrecke Bologna - Lecce. Es gab zwar noch bis in die jüngste Zeit andere einspurige Abschnitte, aber nördlich und südlich von San Vito war die 1864 eröffnete Strecke überdies besonders kurvenreich, was sich auf die Reisegeschwindigkeit auswirkte. In San Vito-Lanciano war ein langes Kreuzungsgleis vorhanden, dazu kamen zwei Stumpengleise für den Güterverlad. Bei Tageslicht gab es nur ein einziges Reisezugpaar, das in San Vito-Lanciano nicht angehalten wurde, das war der TEE 92/93 „Adriatico“ Mailand - Bari und zurück. Eine unbekannte E.444 fährt mit TEE 92 Bari - Mailand ohne Halt durch San Vito-Lanciano Richtung Norden. Auf Gleis 1 wartet Personenzug 5569 Pescara - Foggia auf die Weiterfahrt. Vor dem Aufnahmegebäude steht Badoni-Traktor 211.064, einer der über 200 Breuer-Traktoren, die von Antonio Badoni in Lecco (ABL) zwischen 1931 und 1952 in Lizenz für die italienische Staatsbahn FS gebaut wurden.
Ausfahrt frei für Personenzug 5569 Pescara - Foggia. An der Spitze ein unbekannter Triebwagen der Serie ALe 790/880 von 1939/40. Auf diese Triebwagen gehe ich später vertieft ein.
Zuerst möchte ich hier die italienischen Badoni/Breuer-Traktoren vorstellen, ausgehend von 211.064, der hier in San Vito-Lanciano vor dem Hintergrund des Adriatischen Meeres posiert.
211.064 gehört der kräftigsten Bauart an, ABL V NE. Der Fiat 366/45-Dieselmotor leistete 84 kW. Zwischen 1948 und 1949 wurden 50 Fahrzeuge mit den Nummern 211.025-074 in Betrieb genommen. Die Ausmusterung begann erst im Oktober 1984. Obwohl er hier noch ganz gut aussieht, gehörte 211.064 zu den ersten 8 Stück, die in die Schrottpresse wanderten.
1951 kamen fünf Traktoren 211.075-079 in Betrieb, welche für den Streckendienst vorgesehen waren und zu diesem Zweck geschlossene Führerstände (mit Schiebetüren) erhielten. 211.064 hatte wie fast alle Breuer/Badoni-Traktoren bis zum Schluss keine Türen.
Die 1945-46 gebauten 210.006-026 (Typ ABL V N) besassen einen Fiat 366-Motor mit 77 kW Leistung. 210.020 wartet in Faenza auf den nächsten Einsatz. Die bereits 1939 ausgelieferten Traktoren 210.001-005 unterschieden sich durch den etwas schwächeren Fiat 356-Motor (76 kW) von den Nachkriegsserie.
Beachtenswert sind die unauffälligen, senkrecht angebrachten Zylinder in den vier Ecken der Serie 210: Es handelt sich um druckluftbetätigte Sander. Die Druckluft-Bremsausrüstung und ein passender Streckengang ermöglichten den Reihen 210 und 211 planmässige Einsätze im leichten Streckendienst. 210.020 wurde im Dezember 1984 ausgemustert.
In Perugia Ponte San Giovanni (Danke @trainsorridente für die korrekte Identifizierung des Bahnhofes!) konnte ich meine einzigen Betriebsbilder eines Breuer/Badoni-Traktor anfertigen. Es handelt sich um den 1947 gebauten 208.040 mit Fiat 326-Motor (51 kW). Im Gegensatz zu den den Reihen 210 und 211 besassen die Reihen 206, 207 und 208 keine Druckluftausrüstung.
Typisch italienisch: ein Breuer/Badoni zwischen zwei Spitzdach-Güterwagen. Der linke trägt das Revisionsdatum 2.4.78! Im Oktober 1984 wurde 208.040 aus dem Bestand gestrichen.
Die Breuer/Badoni-Traktoren hiessen bei der FS offiziell „carello automotore“, auf deutsch sinngemäss „motorisiertes Fahrgestell“. Unter Eisenbahnfreunden waren sie als „sogliola“ (Flunder) bekannt. 206.001-010 (1931-32) entsprachen genau dem Breuer-Typ III. Die grosse Serie 207.001-071 (Typ ABL IV B) ermöglichte 1934/35 die flächendeckende Ablösung von unwirtschaftlichen Traktionsformen (Ochsen, Mulis, Dampfloks) auf kleineren Bahnhöfen in ganz Italien. Der ursprünglich eingebaute Benzinmotor wurde in der Nachkriegszeit durch einen Diesel (Brif D 65 N4L, 55 kW) ersetzt. In den Jahren 1937-39 kamen 42 Traktoren der späteren Baureihe 208 in Betrieb; der Fiat 355c-Diesel leistete 55 kW. Nur wenige überlebten den 2. Weltkrieg, mehrere blieben in Nordafrika zurück.
Zurück nach San Vito-Lanciano. Die 1934-43 abgelieferten Elektrolokomotiven der Baureihe E.428 haben mir immer mächtig Eindruck gemacht. Bis zur Ablieferung der Bo’Bo’Bo’-Reihe E.646 ab 1960 führten die grossrädrigen Loks praktisch sämtliche Schnellzüge auf dem mit 3000 Volt elektrifizierten Gleichstromnetz der FS. Bis etwa 1985 führten sie auf flachen Strecken wie Mailand - Venedig, Mailand - Bologna - Bari, Bologna - Venedig und Genua - Rom weiterhin Reisezüge, aber auch Langstrecken-Güterzüge. E.428.058 (Breda 1937) vor Zug 9828 Foggia - Ancona in San Vito-Lanciano. Die Zugskomposition zeigt Wagen verschiedenster Bauart: vierachsiger Postwagen Typ 1958 (UI 90-48 170 bis 189), Eilgutwagen Hcqs-uvy (mit beidseitigen Faltenbalg-Übergängen) auf Basis des UIC-Einheitsgüterwagens Gs, zweiachsiger Gepäckwagen Typ 1931R (DI 92.000ff), Seitengangwagen 1. Klasse Bauart 1921, Centoporti-Wagen 2. Klasse, Mitteleinstiegwagen 2. Klasse Typ Corbellini. Rechts angeschnitten ein Tw der Sangritana-Bahn.
Von diesem schönen Zug wollte ich weitere Bilder anfertigen. Ich stieg ein und fuhr mit: E.428.058 mit Zug 9828 in Giulianova.
Die 19 Meter lange und 136 Tonnen schwere E.428 leistet maximal 2800 kW. Sie besitzt die einzigartige Achsfolge (2’Bo)’(Bo2’)’. Das heisst, der Lokkasten ruht auf zwei Hilfsrahmen, in denen je zwei Treibachsen mit 1880 mm Durchmesser sowie ein zweiachsiges Lauf-Drehgestell gelagert sind. Die kurzen Vorbauten ruhen auf dem Hilfsrahmen, sind also gegenüber dem Lokkasten beweglich.
Unbekannte E.428 der ersten Bauform mit eckigen Vorbauten vor einem Güterzug in Pescara.
Weder aus der Erinnerung noch mit Hilfe meiner italienischen Freunde konnte ich den Aufnahmeort für diese E.428 näher eingrenzen. Klar ist, es handelt sich um einen Bahnhof an der „dorsale adriatica“ (Adria-Hauptlinie) Mailand - Bologna - Bari.
Die E.428 fuhren mit Langstreckengüterzügen von Bari oder Ancona über Bologna hinaus bis Mailand durch. E.428.080 (Ansaldo 1937) mit Kühlwagenzug (Früchte und Gemüse aus Apulien) in Reggio Emilia.
E.428.020 mit gemischten Langstrecken-Güterzug in Fidenza.
Kaum zu glauben, dass diese Lok ursprünglich für 130 km/h zugelassen war!
1980 wurde die Linie Bari - Taranto elektrifiziert. Für diese bis auf einen Kulminationspunkt von 355 m (in Gioia del Colle) ansteigende Querverbindung zum Ionischen Meer waren die E.428 sicher nicht prädestiniert. Deshalb staunte ich nicht schlecht, in Taranto E.428.081 (Ansaldo 1937) anzutreffen.
E.428.081 löste eine alte Diesellok vom Typ D.341 ab, welche den Nachtzug Reggio di Calabria - Bari/Brindisi bis hierher geschleppt hatte. Nun löste sich das Rätsel. Auch die flache, nur auf max. 139 m ansteigende Strecke von Taranto nach Brindisi war unter den Fahrdraht gekommen. Dafür war die E.428 natürlich schon eher geeignet.
E.428.081 beim Zurücksetzen an den Zug. Auf Gleis 1 stehen die Kurswagen nach Bari.
Die Morgensonne wirft lange Schatten. Erstaunlicherweise bleibt die Diesellok bis Brindisi am Zug.
E.428.081 fährt mit den Kurswagen Reggio C. - Brindisi an der Bahnsteigpalme vorbei in den sonnigen Tag hinaus.
In den Jahren 1939/40 wurden die Loks E.428.123-203 mit leicht „aerodynamischer“ Kastenform geliefert. Die Drehgestelle mit Aussenrahmen sollten einen stabileren Lauf bei 130 km/h ermöglichen. Auch diese Bauart war häufig auf der „dorsale adriatica“ anzutreffen: E.428.185 (TIBB 1940) fährt mit Zug 9828 in San Severo ein.
E.428.185 in San Severo.
E.428.126 (Breda 1939) wartet mit einem Langstrecken-Güterzug Mailand - Bari in Alseno, bis die schnelleren Reisezüge überholt haben.
Nur auf meiner allerersten Fahrt der Adria entlang Richtung Apulien begegnete mir eine E.428 der dritten Bauform. E.428.215 (TIBB 1941) fährt mit Zug 9791 (Foggia - Bari) in Bari Centrale ein, April 1974. Die eleganten E.428.204-242 traf ich in späteren Jahren nur noch nördlich von Bologna an.
Seit 2005 ist der Bahnhof San Vito-Lanciano, von dem ich heute ausgegangen bin, Geschichte. Die neue Doppelspurlinie führt durch viele Tunnels. Teile der alten, kurvenreichen Strecke werden zum Radweg umgebaut. Die Aussicht wird phänomenal sein.
meine früheren HiFo-Beiträge sind hier aufgelistet:
[
www.drehscheibe-foren.de]
Gruss Werner
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