Teil 4 - Die Waffenstillstands- ("Armistice") Loks
Die Lokomotiven dieses Teils werden uns alle sehr bekannt vorkommen - es sind halt die alten Preußen.
Aber zunächst die Links zu den bisherigen Teilbeiträgen:
- Teil 1:
Lokomotiven aus belgischer Entwicklung - die ganz alten
- Teil 2:
Lokomotiven aus belgischer Entwicklung - die modernen Bauarten
- Teil 3:
Aufbauhilfe aus Amerika
Der maßgeblich vom deutschen Kaiserreich angezettelte erste Weltkrieg endete für Deutschland schmählich mit der totalen Kapitulation im Waffenstillstands-Abkommen von Compiègne vom 11.11.1918. Der 1919 abgeschlossene Friedensvertrag von Versailles setzte auf dieses Abkommen auf.
Bereits in dem Waffenstillstandsabkommen von 1918 wurde festgelegt, dass Deutschland 5000 Lokomotiven an die Siegermächte abzugeben hatte. Von den 2205 an Belgien abzutretenden Maschinen hatte die preußische Staatsbahn mit 2064 Loks den Löwenanteil zu bewältigen, während die Länderbahnen aus Baden, Bayern, Mecklenburg, Oldenburg und Sachsen nur mit kleinen Stückzahlen vertreten waren.
Viele der Waffenstillstands- (franz. "Armistice") Lokomotiven kamen aufgrund der fremdartigen Technik, ihres Alters, ihrer geringen Stückzahl oder aus anderen Gründen nur für kurze Zeit in Belgien zum Einsatz. Langlebig erwiesen sich nur die Typen, die auch in Deutschland als unverzichtbar und unverwüstlich galten – ausnahmslos preußische Bauarten; wen wundert’s.
Von den alten Preußen waren 1959 in Belgien noch folgende Baureihen im aktiven Dienst anzutreffen:
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Reihe 64, ehem. P8
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Reihe 81, ehem. G8.1
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Reihe 93, ehem. T9.3
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Reihe 97, ehem. T14
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Reihe 98, ehem. T16 bzw. T16.1
Es geht los mit der guten alten P8, DRG Baureihe 38.10, zu deren Technik und Geschichte hier wohl nicht mehr viel gesagt werden muss. Mehr als 3500 Exemplare wurden ab 1906 für die KPEV, DRG und in geringer Stückzahl auch für andere Länderbahnen gebaut. Mit der P8 war der KPEV ein überaus guter Wurf gelungen: Die Maschine war nicht nur (wie vorgesehen) für Personenzüge zu gebrauchen, sondern konnte darüber hinaus geradezu universell eingesetzt werden - vom Fernschnellzug bis zum Güterzug wurde alles gefahren. Nicht von ungefähr erwarb sie sich schnell den Ruf als "Mädchen für alles". Das galt offensichtlich auch für Zwangs-Auswanderer in Belgien. Bezeichnenderweise war die letzte SNCB Dampflok eine P8: 64.045, letzter (Sonderzug-)Einsatz am 10.06.67.
Gemäß Waffenstillstands-Abkommen musste die KPEV
168 Maschinen an Belgien abgeben. Zusammen mit drei baugleichen P8 aus Oldenburg bildeten diese die
Reihe 64 bei der SNCB. Dem Abgabezeitraum zwischen 1919 und 21 entsprechend handelte es sich dabei ausschließlich um P8 der ersten Lieferserien, äußerlich erkennbar an dem runden Führerhausdach ohne Lüfteraufsatz. Sogar einzelne Loks mit Hängeeisen-Steuerung waren dabei.
Bild 47
Eine solche ganz alte P8 mit Hängeeisen-Steuerung fuhr HS mit
64.034 am 05.09.59 in Brüssel-Midi vor die Linse. Die ehemalige "Königsberg 2434" gehört zu einer Lieferung von 15 Maschinen der Fa. Schwartzkopff aus dem Jahr 1912 an die KPEV.
Ungewohnt, aber durchaus der Originalausführung entsprechend, ist das Fehlen von Windleitblechen. Typisch belgische Accessoires sind dagegen die Kamin-Abdeckklappe, die Sicherheitsventile, die Puffer und die andere Anordnung des Bremsluftschlauchs an der Pufferbohle. Bemerkenswert ist ferner die Anordnung des Spitzensignals, die etwas provisorisch erscheint; aber das hatten wir auch schon bei anderen Maschinen.
Bild 48
Im Bahnhof von Gent präsentiert sich
64.072 am 03.09.59 vor einem der vielen großartigen Gebäude, die diese Stadt zu bieten hat.
Mit dem klassischen Steuerungsträger für die Kuhn'sche Schleife und "deutscher" Anordnung des Spitzensignals sieht die Lok auch ohne Windleitbleche gar nicht mehr so fremd aus, zumal sie den preußischen Sandkasten trägt. Ein Kennzeichen älterer P 8 ist das in der Kesselmitte liegende Speiseventil.
Die gut sichtbare Steuerstange zeigt an , dass der Platz des Lokführers nach wie vor auf der rechten Seite ist, obwohl in Belgien links gefahren wird. Anscheinend bereite das dem Lokpersonal aber keine Schwierigkeiten.
Bild 49
Wie alle Maschinen dieser Baureihe ist auch die
64.104 mit den SNCB-typischen Ausstattungen versehen, wie zum Beispiel den Details an der Pufferbohle, des Kamins und dessen Abdeckung, den Sicherheitsventilen usw. Zusätzlich hat man dieser Lok aber auch noch einen A.C.F.I.-Mischvorwärmer zugestanden. Nach damaliger Beobachtung dürfte sie eine der ganz wenigen Maschinen dieser Baureihe gewesen sein, die mit diesem Bauteil ausgerüstet war. Mechelen, 04.09.59.
Bild 50
Eine P8 mit Kranzschornstein – das war auch in Belgien nicht die übliche Ausführung. Ansonsten sehen wir mit
64.115 eine Lok, die dem konstruktiven Endstadium der P 8 wieder ein Stück näher gerückt ist, denn die Kesselspeiseventile befinden sich jetzt an der gewohnten Stelle [edit] oben am Kesselscheitel.
Wie man gut an der Wand des großen Gebäudes im Hintergrund ablesen kann, entstand die Aufnahme im Bahnhof von Dendermonde, und zwar am 04.09.59.
Bild 51
Was sich auf der letzten Aufnahme schon andeutete, wird beim Blick spitz von vorn in voller Schönheit sichtbar: Der herrlich alte, beinahe nostalgisch zu nennende Wagenpark hinter
64.115. Eine Zugaufnahme dieser Garnitur wäre auch in der sonst eher faden Landschaft dieser Region sehr reizvoll gewesen.
Bild 52
Ein letztes Bild der Reihe 64 zeigt noch einmal ein klassisches Motiv aus Antwerpen, wo
64.038 mit einem Personenzug gerade aus dem Dunkel der Ruß verschmierten Bahnhofshalle ins helle Sonnenlicht fährt. Antwerpen Central, 04.09.59.
Man beachte auch die kunstvoll am hinteren Rand des Kohlekastens aufgestapelten Briketts.
Mit
583(!) Maschinen der
Reihe 81 bildete die ehemalige preußische G8.1, DRG Baureihe 55.25, die stückzahlmäßig größte Baureihe innerhalb der "Armistice"-Lokomotiven, möglicherweise sogar unter den belgischen Baureihen überhaupt.
Auf den ersten Blick sehen die belgischen 81 den deutschen 55.25 sehr ähnlich. Bei genauerem Hinsehen stellt man aber fest, dass der neue Eigentümer auch diesen Maschinen seinen Stempel aufgedrückt hat. Typisch belgisch sind z. B. die Schornsteinabdeckklappe, die Sicherheitsventile und die Ausstattung der Pufferbohle; außerdem wurden die Maschinen mit einer Doppelverbund-Luftpumpe ausgestattet.
Bild 53
Am 05.09.59 ist
81.075 im Bahnhof Enghien mit Rangierarbeiten beschäftigt. Ob die Güterzugpackwagen im Doppelpack bereits zur endgültigen Zugbildung gehören, ist nicht klar, ungewöhnlich wäre so etwas auch damals schon gewesen.
Gar nicht ungewöhnlich, zumindest in Belgien, war das Fehlen einer Speisepumpe. Dafür ist die Lok mit einem Metcalf-Injektor unter dem Führerhaus ausgerüstet.
Bild 54
Irgendwie ein vertrautes Bild. Wären da nicht die kleinen typisch belgischen Details, könnte man fast meinen, die Aufnahme wäre in Gremberg entstanden. Aber nein, wir sind natürlich in Belgien. Und zwar im Bw Herbesthal, wo
81.247 am 14.05.66 vor sich hin räuchert. Rechts steht 29.238, die wir schon in Bild 46 gesehen haben.
Bild 55
Wie bei der Reihe 40 gab es auch bei den 81ern zwei Maschinen, die mit einem Giesl-Ejektor ausgerüstet waren; die "Quetschesse" besitzt sogar eine Kaminabdeckung, die hier als Sonderkonstruktion in Form eines Schiebers ausgeführt ist.
Als sich
81.464 am 25.06.60 im Bw Antwerpen-Berchem dem Fotografen stellt, ist das Wetter leider immer noch so trist wie kurz zuvor bei 7.003 (s. Bild 20). Trotzdem gut zu sehen: Die “Blumenerde“ im Tender, die dem Heizer sicher "viel Spaß" bereitet haben dürfte.
Die preußische T9.3 war in Belgien mit 84 Loks vertreten, die die
Reihe 93 bildeten. Wie in Deutschland, waren auch in Belgien nach dem Krieg noch zahlreiche Maschinen im Einsatz, der sich noch bis in die frühen 60er Jahre hinzog. Im Gegensatz zu den anderen Preußen behielten die 93er ihre Ramsbottom Sicherheitsventile; die sonstigen belgischen Zutaten hielten sich im üblichen Rahmen.
Bild 56
Vor einer, wie ich finde, typisch belgischen Hintergrundkulisse in Lier, westlich von Antwerpen gelegen, präsentiert sich
93.047 am 04.09.59 in einem Topzustand. Die blanken Kesselringe glänzen in der Sonne.
Bild 57
Im Vorfeld des Bahnhofs Herentals stillt
93.002 ihren Durst. Drei Mann Personal sind mehr oder weniger mit dem Vorgang des Wassernehmens beschäftigt – der Dampfbetrieb war schon personalaufwendig. 04.09.59.
Bild 58
Und noch ein Bild vom 04.09.59. Es zeigt
93.061 beim Rangiergeschäft am Außenbahnsteig des Bahnhofs Antwerpen Central. Der Standort des Rangierers ist vermutlich nicht ganz vorschriftsmäßig.
Bild 59
Zum Abschluss noch ein Buntbild aus dem Antwerpen-Berchem, wo alle der gezeigten 93er beheimatet waren.
Ein bisschen Farbe scheint bei
93.073 ja noch durch, aber eine gründliche Behandlung mit dem Dampfstrahl wäre dem äußeren Erscheinungsbild bestimmt zuträglich.
Die letzte preußische Baureihe, die wir hier zeigen können, ist die
Reihe 97, ex pr. T14. Von diesem Typ verschlug es 56 Maschinen nach Belgien, während von der neueren T14.1, DRG 93.5, erstaunlicherweise keine einzige abgegeben werden musste.
Bild 60
Der reichliche Gebrauch von Dosiermittel hat deutliche und unschöne Spuren auf
97.041 hinterlassen, die am 06.09.59 in Herbesthal den Rangierdienst verrichtet.
Bei dieser Lok handelt es sich übrigens um die ehemalige KPEV T14 Breslau 8524.
Bild 61
Ganz anders dagegen der Zustand von
97.028, die sich wie "frisch aus der Packung" am 03.09.59 im Bahnhof Verviers sonnt. Auch diese Maschine gehört zum Bestand des Bw Herbesthal.
Die Lok hat schon ein Dreilicht-Spitzensignal; die Domverkleidung ist ein belgischer Eigenbau.
Die Lok hat bereits ein bewegtes Leben hinter sich: Mit der preußischen Nummer
Elberfeld 8527 ging sie 1919 nach Belgien und erhielt dort die Nr.
9728; während der deutschen Besetzung kam sie als sog. Leihlok “heim ins Reich“ und wurde in
93 432 umgezeichnet. 1945 musste sie nach Belgien zurückgegeben werden, wo sie zunächst wieder ihre alte Nr. 9728 erhielt. Mit dem im Jahr 1946 eingeführten Nummernschema erhielt unsere T14 als nunmehr vierte Fahrzeugnummer die
97.028, unter der wir sie hier sehen.
Die
Reihe 98, in der 17 Loks T16 und 36 Loks T16.1 zusammengefasst waren, kann leider nicht mit einer Aufnahme vorgestellt werden, nur in Bild 45 (Teil 3) ist sie einmal im Hintergrund zu sehen.
Damit ist unser kleiner Rundgang durch die belgische Dampflokszene der späten 50er Jahre beendet. Wir hoffen, der Blick über den Zaun war nicht zu speziell und hat euch gefallen. Beim nächsten Mal geht es dann wieder mit deutschen Themen weiter.
Zum Abschluss unserer kleinen Beitragsserie möchte ich mich, auch im Namen von Herbert S., schon einmal herzlich bedanken für die vielen netten Zuschriften und Ergänzungen, die doch teilweise interessante und wirklich wichtige zusätzliche Informationen enthielten. So macht das HiFo Spass.
Schönen Tag noch,
Herbert und Ulrich
Edit: Hinweis von 03 1008 zur Lage des Kesselspeiseventils (Bild 50) eingepflegt.
3-mal bearbeitet. Zuletzt am 2011:03:11:17:20:29.