Da unsere Sprache nicht ausreicht, den unvergeßlichen Eindruck der Dreizylinder-Maschinen der Baureihen 01.10 oder 03.10 angemessen zu beschreiben, ist er oft mit dem Grollen eines heranziehenden Gewitters verglichen worden, zuletzt
beispielsweise hier.
Ich möchte heute von einem Tag berichten, der nicht nur einen Zusammenfall dieser beiden akustischen Großereignisse, sondern auch fast das Ende meines noch jungen Leben und das meines Mitreisenden Hubertus S. im Gepäck hatte: der 19. April 1980 – im übrigen auch ein besonders gelungenes Beispiel dafür, wie wenig oft die nackten Zahlen in Reiseaufzeichungen besagen:
Zur Deutung dieses Notizbuchauszuges muß man wissen, daß wir uns auf einer längeren DDR-Reise inzwischen im Einsatzgebiet der Stralsunder 03.10 befanden, der wir mit unserem R4 nachstellten. Am 18. April herrschte, wie das Bild mit 03 0080 und D 813 vor Burg Stargard zeigt ...
... bereits eine düstere Wetterstimmung mit tiefverhangenen Wolken, aber sehr wenig Wind. Nachdem wir nach einem kurzen Besuch des „Rasenden Rolands“ am 19. April wieder auf das Festland fuhren, war es immer noch sehr dunkel, der Wind aber hatte zugenommen. Meine Notizen besagen, daß wir um 8.15 Uhr im Bw Stralsund im Schuppen 3 wieder 03 0080 erspäten und 03 0010 defekt war. Weil der D 813 an diesem Tag wegen Streckenarbeiten erst in Neubrandenburg begann, steuerten wir die F 96 an. Und dort, irgendwo südlich von Greifswald, ist es dann meiner Erinnerung nach passiert: Die frische Brise hatte sich zuerst zu einem kräftigen Sturm und dann mit Urgewalt zu einem plötzlichen Orkan entwickelt, so stark, daß, von Blitz und Donner begleitet, unmittelbar über uns von einem Baum ein oberschenkeldicker Ast abbbrach und mit voller Wucht und lautem Aufprall auf das Dach unseres R4 krachte. Nach einer Vollbremsung fuhren wir sofort rechts heran, begutachteten geschockt den Schaden und stellten fest, mit wieviel Glück wir gesegnet waren: Dort, wo die Windschutzscheibe in das Dach übergeht, waren links und rechts starke Eindellungen nur wenige Zentimeter von der Glasscheibe entfernt. Ein Einschlag etwas weiter vorne ...
Nun, der Wagen war noch fahrtauglich, und zur Ablenkung schien jetzt erst recht die 03.10 willkommen. An der Unglücksstelle war inzwischen Volkspolizei erschienen und hatte die durch etliche entwurzelte Bäume unpassierbar gemachte Fernstraße gesperrt; als provisorische Umleitung waren die die Straße säumenden Äcker freigegeben. Wir erreichten rechtzeitig Neubrandenburg, um im dortigen Bahnhof eine Standaufnahme von D 813 und 03 0058 anzufertigen:
Nach diesem Bild machten wir uns an die Verfolgung des D-Zuges, wobei uns ein gewisser Ehrgeiz zu einem Vergleich zwischen einer 03.10 und einem R4 antrieb. Von ständiger Gewitterstimmung begleitet fielen wir zunächst in Düsterförde ...
... und dann in Gramzow aus dem Wagen, um in letzter Sekunde den Auslöser zu betätigen:
Anschließend gaben wir die Verfolgung auf (eindeutiger Punktsieg für die 03.10; man kann nun einmal nicht mit 130 Sachen durch Dörfer und Städte rasen) und fuhren an die KBS 920. Dort, zwischen Chorin und Serwest, begegnete uns zunächst 50 0040 aus Angermünde ...
... und etwas später eine weitere 50 Öl.
Unser eigentliches Ziel war es, an der Blockstelle Serwest den Rückzug für den D 813, den D 914, abzupassen. Es sagt einiges über das Wetter dieses Tages, daß es (in meinem Notizbuch mit Ausrufezeichen vermerkt) bis 18.12 Uhr dauerte, als 03 0058 gewittergleich – und leider nicht bei um Sekundenbruchteile verpaßter Sonne, in deren Erwartung ich zu einem Diafilm gegriffen hatte – durch Serwest dröhnte. Planmäßig hätte es ca. 17 Uhr sein müssen.
Kurze Zeit später, die Sonne schien wieder, kam es an der Blockstelle noch zu dieser, wie ich damals fand, außergewöhnlichen Betriebssituation:
Wer kann sie erklären, und war sie wirklich ungewöhnlich?
Im übrigen hatte das Wetter an diesem Tag noch nicht seinen Höhepunkt erreicht. Auf der Fahrt nach Guben brach gegen 20 Uhr ein unglaublicher Sturm aus, der in wenigen Minuten alles mit Schnee überdeckte und schier nicht aufhören wollte. Die Sicht war so schlecht, daß ein Anhalter, den wir kurz vor Guben aufgabelten, sich als uniformierter Soldat der NVA entpuppte – und das in einem Westwagen! Weder hatte der arme Kerl am Straßenrand unseren R4 als „Westwagen“ identifiziert noch wir ihn als Soldaten. Er war jedoch äußerst dankbar, mitgenommen zu werden, und bat lediglich darum, ihn einige hundert Meter vor der Kaserne abzusetzen.