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Die Züge des Ole Reuter - Teil 1

geschrieben von: Mengede

Datum: 18.09.22 17:58

Finale
Teil 7
Teil 6
Teil 5
Teil 4
Teil 3
Teil 2

Einführung

Ole Reuter ist der fiktive Erzähler im Roman „Netzkarte“ von Sten Nadolny. Nadolny, bekannt geworden mit der „Entdeckung der Langsamkeit“, lässt seinen Helden mit DB-Netzkarte und ­Kursbuch in den Jahren 1976 bis 1980 kreuz und quer durch die Bundesrepublik fahren; auf der Suche nach sich selbst und nach amourösen Abenteuern. Die Wahl seiner Etappenziele ist meist zufällig, manchmal interessieren ihn Ortsnamen, oder es sind Orte seiner Vergangenheit. Der Verlag nennt das Buch ein „Roadmovie auf Schienen“. Mein Exemplar ist ein Taschenbuch von R. Piper GmbH & Co. KG, München, 5. Auflage Februar 1997.

Auf DSO ist das Buch häufig empfohlen worden. Was ich bislang nicht gefunden habe, sind die Züge, mit denen der Romanheld seine Kreuzfahrt unternimmt. Deshalb erlaube ich mir, die „Züge“ des Romanhelden anhand seiner Aufzeichnungen nachzuvollziehen. Ich fahre mit dem Finger durch Kursbuchtabellen, blättere im Kurswagenverzeichnis und recherchiere im Netz. Fundstellen habe ich verlinkt und hoffe auf deren Ewigkeit. Zitate aus dem Roman sind in kursiv hervorgehoben und mit Seitenzahlen – nicht bei gleichen Seiten – angegeben.

Für die Auszüge aus meinem Kursbuch und Kurswagenverzeichnis habe ich Handyfotos gewählt. Der zuvor getestete Handscanner machte keine besseren Abbildungen. Ich habe die Fotos nicht klein bekommen. Deshalb platziere ich sie in selbstgegebenen Antworten, auf die ich im Text verlinke. Ich hoffe, das macht es übersichtlicher.

Ich freue mich über Anregungen und insbesondere über Fotos und weitere Quellen zur Bebilderung. An dieser Stelle sei allen gedankt, die Informationen, Fotografien und vieles mehr in Datenbanken und Foren öffentlich zur Verfügung stellen. Ein besonderer Dank für seinen wunderbaren Eisenbahnroman geht an Sten Nadolny, der in diesem Jahr seinen 80. Geburtstag feierte.

Teil 1

Ole Reuter startet in Berlin. „ … sitze ich jetzt im Zug Berlin-Hannover und studiere das Kursbuch“ (S. 10). Zuvor hat er einem Kollegen schöne Osterferien gewünscht. Die beginnen in Berlin am 29. März und enden am 20. April. Sein erstes Studienobjekt muss demnach das Kursbuch Winter 1975/76 sein.

„ … wenn ich in diesem Zug bleibe, bin ich morgen um 7 h 45 in Aachen“. D340 Berlin – Aachen, fährt um Berlin 22.03 ab Friedrichstr. und Zool. Garten ab 22.28. Allerdings ist die Ankunft in Aachen 7.46! Ab Dortmund nimmt er die Köln-Mindener Stammstrecke und gelangt über Krefeld zur Kaiserstadt im Westen. „Zwischen Dortmund und Wanne-Eickel müsste in etwa die Sonne aufgehen.“ Im Zeitfenster zwischen 5.42 und 5.57 ist das Anfang April bei Dortmund-Mengede ;-) möglich.

Zwei Uhr. Braunschweig ist durch. Vielleicht hätte ich dort schon in irgendeinen anderen Zug umsteigen können. Nein, nur zurück nach Berlin um 2 h 30. Oder nach langem Warten um 5 h 58 nach Jerxheim. Aber es taucht die Frage auf: Was mache ich um 6 h 46 früh in Jerxheim“ (S. 12)? Ob Jerxheim über sein „x“ hinaus ein lohnendes Ziel ist, wird Ole Reuter später erfahren. Hier im Forum ist die Meinung zu Jerxheim eindeutig.

Das Kursbuch verzeichnet eine noch frühere Möglichkeit. Bereits um 5.18 geht 5704 nach Hameln (KBS 265), allerdings nur werktags außer Samstag. Daraus ist zu schließen, Ole Reuter hat am Freitag- oder Samstagabend seine Reise begonnen. Der Zug zurück nach Berlin um 2.30 ist übrigens der Gegenzug D341. Ole Reuter verbleibt im D340.

In Hannover weckte mich der Schaffner, nachdem mein Waggon schon mindestens zehn Minuten einsam auf dem Gleis gestanden hatte. Ich bin abgekoppelt.“ In Hannover tauschen D340 und D440 Zwickau-Köln Kurswagen, weil D340 durch das nördliche Ruhrgebiet und D440 über Hagen und Wuppertal ins Rheinland eilt. D340 erreicht Hannover um 2.42 und D440 2.52 mit Abfahrt 3.04, was die Standzeit halbwegs plausibel macht (Anmerkung am 19.09.2022: Nichts ist plausibel. Dank an Klaus aus FG). Ole Reuter verläßt den Bahnhof und vertreibt sich die Zeit mit einem nächtlichen Stadtbummel. „Jetzt sitze ich im Zug nach Göttingen, Abfahrt 5 h 25“ (S. 13) Es ist 5541, ab Elze Eilzug, der Göttingen um 7.18 erreicht (KBS 250).

Am nächsten Tag geht es weiter. „Ich befinde mich im IC »Mercator« nach Freiburg und Basel. Er führt nur die erste Klasse, deshalb bezahle ich einen Zuschlag bis Freiburg“ (S. 18). Die DB listet 1977 den IC173 Mercator Hamburg-Basel als zehntschnellsten Zug mit einer Reisegeschwindigkeit von 111 km/h. „Ab 17h 22 sitze ich im Zug Richtung Titisee … Der Zug fährt an einem gefrorenen See entlang. Steiniges Ufer mit riesigen Findlingen. Schluchsee. Ich steige hier einfach aus“ (S. 26). Direktverbindungen Freiburg-Seebrugg sind spärlich (KBS 727). Um 16.53 wäre das mit 4579 möglich gewesen. So geht es um 17.22 mit 4581 ab Freiburg Hbf nach Neustadt. Das Umsteigen in Titisee in 6491 (KBS 728) unterschlägt Ole Reuter.

Die weitere Bahnreise beginnt erst wieder in Donaueschingen. „Eigentlich wollte ich mit der »Höllentalbahn« dahin fahren, aber die ist so gut wie stillgelegt“ (S. 27). In der Tat ist der Zugverkehr zwischen Neustadt und Donaueschingen vormittags und mittags stark ausgedünnt. Ab 8.33 klafft eine fünfstündige Lücke bis 13.31, nachmittags sieht es wieder besser als. Es geht mit dem Bus nach Donaueschingen. „11 h 15. Wie komme ich von Donaueschingen nach Tübingen? Ich wälze ratlos das Kursbuch, denn ich bin noch keineswegs kapitelfest. Den E 3706 der Linie Singen (am Hohentwiel)-Stuttgart brauche ich nicht erst durch Umsteigen in Rottweil um 13 h 45, sondern kann ich bereits in Villingen nehmen, wo ich um 12 h 51 dem Zug aus Donaueschingen entsteige“ (S. 28).

Folgen wir seinen exakten Angaben, hat Ole Reuter E3614 Konstanz-Offenburg, Donaueschingen ab 12.42, erreicht (KBS 720). E3614 hat einen Aufenthalt von 12 Minuten und bietet damit Reisenden den Umstieg aus E2262, den „Kleber-Express“ München-Freiburg; Donaueschingen an 12.37. Die Abfahrt von E3706 Villingen-Stuttgart ist 13.15 mit Halt in Marbach, Rottweil, Sulz a. Neckar und Horb, Ankunft 14.21 (KBS 740). Nach Tübingen (KBS 766) geht es gut vierzig Minuten später mit 7226.

In Tübingen warten abseits der Gleise andere Abenteuer. Nach ein oder zwei Nächten macht sich Ole Reuter wieder auf die Reise. „Zufällig steht ein Zug nach Würzburg da, schon bin ich Richtung Stuttgart unterwegs“ (S. 37). E3064 (Bild 04) Tübingen-Würzburg verlässt die Universitätsstadt um 15.17. Die Hoffnung auf ein nächstes Abenteuer lässt den Schwerenöter bereits in Metzingen in 7261 nach Urach (KBS 761) umsteigen. „Wir fahren nach Urach mit einer kleinen Bahn, die sicher bald stillgelegt wird.“ Mit dem Sommerfahrplan 1976 endet der Schienenverkehr auf der Ermstalbahn, der nach einigen lokalen Anstrengungen erst 23 Jahre später wieder aufgenommen wird.

Am nächsten Tag wieder in Metzingen … Um 10 h 03 geht mein Zug nach Stuttgart“ (S. 39). E3610 erreicht die Landeshauptstadt 10.48 und verläßt sie um 11.19 als E3611. Ulrich Budde hat im April 1976 (!) E3611 (siehe Bild 15) verewigt.

Nach einer kleinen Pause in der Bahnhofgaststätte - „einem elend hohen Raum“ (S. 41) - lockt der Bodensee. Über die Schwäbsche Eisenbahn „... Ulm, mit Umsteigen Richtung Friedrichshafen ...“ geht die Reise weiter. Mit welchem Zug, verrät Ole Reuter leider nicht. Fast im 20-Minuten-Takt nehmen D711, D791, D1513 und D211 den Anstieg der Geislinger Steige (KBS 900). Weil D711 und D1513 in Ulm Kurswagen an E617 übergeben – also ohne Umsteigen – bleiben wohl eher D791 oder D211.

So kann es gehen, wenn man alte Kursbücher studiert. Wir schweifen ab und verlieren uns in der vergangenen Welt der unendlichen Möglichkeiten.

Fortsetzung folgt.

I often dream of trains when I'm alone
I ride on them into another zone
I dream of them constantly
Heading for paradise
Or Basingstoke
Or Reading.
(Robyn Hitchcock, englischer Songwriter)




15-mal bearbeitet. Zuletzt am 2022:11:04:13:48:36.

Re: Schöne Idee

geschrieben von: matthias67

Datum: 18.09.22 18:29

Hallo Ekki,
ja, das Buch habe ich seinerzeit auch mit Freude gelesen. Erstaunlich, dass die Fahrten doch kursbuchgetreu geschildert sind. Für die Handlung hätte Pi-mal-Daumen völlig ausgereicht.

Freundliche Grüße, Matthias

Re: Schöne Idee

geschrieben von: Mengede

Datum: 18.09.22 18:45

Vielen Dank, Matthias.

Pi mal Daumen und dichterische Freiheit kommt noch ...

Gruß

Ekki

Re: Die Züge des Ole Reuter - Teil 1

geschrieben von: Klaus aus FG

Datum: 19.09.22 17:13

Der Scan aus dem Kurswagenverzeichnis offenbart dann aber doch einen Recherchefehler des Autors, den auch Du in Deinen Ausführungen nicht bemrkt zu haben scheinst. Zitat:

„In Hannover weckte mich der Schaffner, nachdem mein Waggon schon mindestens zehn Minuten einsam auf dem Gleis gestanden hatte. Ich bin abgekoppelt.“ In Hannover tauschen D340 und D440 Zwickau-Köln Kurswagen, weil D340 durch das nördliche Ruhrgebiet und D440 über Hagen und Wuppertal ins Rheinland eilt. D340 erreicht Hannover um 2.42 und D440 2.52 mit Abfahrt 3.04, was die Standzeit halbwegs plausibel macht. Ole Reuter verläßt den Bahnhof und vertreibt sich die Zeit mit einem nächtlichen Stadtbummel. „Jetzt sitze ich im Zug nach Göttingen, Abfahrt 5 h 25“ (S. 13) Es ist 5541, ab Elze Eilzug, der Göttingen um 7.18 erreicht (KBS 250).

Laut Kurswagenverzeichnis fand der Kurswagentausch in Hamm statt!

Muss nun die ganze Geschichte neu geschrieben werden? Hätte er um 5:15 Uhr auch in Hamm zu einem Gang durch die Stadt den Zug verlassen? Und wohin wäre er weitergefahren? Seinem D340 hinterher nach Dortmund? Oder eher nach Unna, Schwerte, Soest, Paderborn ...? Und so wie manchmal gefragt wird, wie sich Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" entwickelt hätte, wenn er am Anfang Brioches statt Madeleines gerochen hätte, können wir nun hier fragen, was aus diesem Roman geworden wäre, wenn er statt in Hannover in Hamm umgestiegen wäre.

Re: Die Züge des Ole Reuter - Teil 1

geschrieben von: Mengede

Datum: 19.09.22 18:06

Hallo Klaus,

ganz herzlichen Dank für dein genaues Lesen. In der Tat hätte es mir auffallen müssen. Warum sich der Fehler festgesetzt hat, ist so erklärt, aber nicht entschuldigt. Zunächst hatte ich nur das Kursbuch Sommer 1978 zur Hand und habe damit meine Recherche begonnen. Im Sommer 1978 tauschen die beiden Züge in Hannover. Leider habe ich das übersehen. Und der Autor nimmt sich die dichterische Freiheit, wie ich im weiteren Verlauf auch festgestellt habe.

Ebenfalls Dank für deinen sehr geschätzten Kommentar. Da Ole Reuter eine Vorliebe für die weibliche Seite von Universitätsstädten hat (Göttingen, Freiburg und Tübingen), wäre er wohl von Hamm nach Münster gefahren.

Beste Grüße

Ekki

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