Ich habe hier im Forum nichts weiter finden können außer der obenstehenden Ankündigung und den Beschaffungsproblemen. Die Links zum Buch wurden ja bereits gegeben:
das Angebot des Buchs (unverändert 3500 RUB),
ein paar Fotos des Buchs von außen und innen und
ein paar Beispielseiten als PDF. Da der Buchhandel nicht so recht will oder kann (siehe weiter oben), ist man wohl auf Direktbeschaffung angewiesen. Die funktioniert auch, dauert aber etwas. Ob Email-Kommunikation auch auf englisch funktioniert, habe ich nicht ausprobiert. Die genannte "Bargeldzahlung" läuft über Western Union, ist also sehr wohl belegbar. Den Beleg braucht man auch (am besten zusammen mit dem Emailverkehr) für den Zoll, weil der Absender keine Deklaration des Warenwerts macht und auch keine Rechnung beilegt. Man kann sich also auf Abholung beim Zollamt einstellen, sofern es nicht unverzollt durchgeht. Man kommt ´bei Selbstbeschaffung am Ende so bei etwa 80 Euro raus.
Wichtiger sollte aber eigentlich der Inhalt sein. Dass der Anspruch an die Detaildarstellung bei einem weltweiten Überblick sehr begrenzt sein muss, sollte einleuchten. Dem Prinzip nach handelt es sich um das, was es früher mal als "World Gazetteer of Tram, Trolleybus and Rapid Transit Systems" von Robert Peschkes gab, nur eben für Obusse und viel schöner. Der prinzipielle Darstellungsumfang ist den verlinkten Beispielen zu entnehmen, auch wenn die vielleicht etwas für die bessere Optik selektiert wurden. Für jedes Land bekommt man zunächst mal einen Überblick in Zahlen, eine Positionskarte mit den einzelnen Städten und dann die Basisdaten für jedes einzelne Obusnetz mit Eröffnungs- und ggf. Stillegungsdatum. Dazu (und das ist es, was systematisch über den Gazatteer oder auch die Obusnetzlisten in Wikipedia hinausgeht) sind auch die Ausdehnung des Netzes und die Anzahl der Fahrtzeuge für die Endjahre jedes Jahrzehnts angegeben. Das erfolgt in Form von quer liegenden Balken als Diagramm, wobei der Maßstab einheitlich ist. Hinzu kommt noch eine kurze Texteinführung zu jedem Land und Bilder mit meistens informativen Bildtexten. Allerdings ist längst nicht jeder Obusbetrieb mit einem Bild vertreten. Vorangestellt ist noch eine Einführung über etliche Seiten, teilweise in den verlinkten Auszügen ersichtlich. Am Ende folgt noch ein Abschnitt über Güterverkehr mit Oberleitungsstraßenfahrzeugen. Damit ist der grundsätzliche Rahmen abgesteckt, substanzielle Detailinformationen kann man nicht erwarten. Es gibt etliche Betriebe, die wirklich nur auf dem beschriebenen Standardniveau abgehakt werden. Besonderheiten der einzelnen Netze, z. B. Überlandstrecken, werden auch nur entweder im Einleitungstext des Landes, in Bildtexten oder eben gar nicht erwähnt.
Es sollte auch klar sein, dass ein solches Buch nicht vom Ursprung her zweisprachig sein kann. Es ist ein russisches Buch mit kompletter englischer Übersetzung direkt neben den russischen Texten. Daher folgt die Gliederung russischer Perspektive, erst kommt die ehemalige Sowjetunion und dann der Rest der Welt in einer nicht ganz den Kontinenten folgenden Einteilung, darin jeweils länderweise sortiert. Sowohl die Reihenfolge der Länder als auch die der Städte innerhalb der Länder folgt natürlich dem russischen Alphabet. Die englischen Bezeichnungen der Städte sind nicht ganz konsistent. Meistens sind die russischen Namen ins englische transkribiert, selbst wenn man im Englischen die originär lateinschriftlichen Namen verwendet. Manchmal sind auch freihändige Umschriften drin, wie z. B. "Anthracite" für Antrazit, was auf englisch "Antratsit" heißen müsste. Die regionale Gliederung folgt teilweise der staatlichen russischen Perspektive (so hat Georgien heute keine Obusse mehr, weil Sochumi zu Abchasien gezählt wird), Zchinwali dagegen zählt noch zu Georgien. Na ja, man findet alles irgendwie. Das Inhaltsverzeichnis befindet sich, ebenfalls nach russischer Sitte, am Schluss. Einen Index gibt es nicht.
Die Druckqualität ist in Ordnung, aber nicht perfekt für die Fotos, was auch schon am Papier liegen dürfte. Es ist halt kein Bildband.
Und dann stöbert man ein bisschen rum im Buch, bleibt erst mal in Deutschland hängen und stößt auf den Obus von Neufeld. Häh? Kenn ich nicht. Eigentlich war mir bis dahin überhaupt kein Neufeld in Deutschland bekannt (es gibt mehrere kleinere Orte dieses Namens). Nun, dafür hat man ja die Positionskarte. Man sucht also nach der 55 (alle Betriebe eines Landes sind durchnummeriert) auf der Positionskarte. Ergebnis: Das Neufeld auf der Nordseite der Elbemündung ist gemeint. Aha. Wieder was gelernt. Im Ernst: Man sucht natürlich nach der Ursache der Verwechslung, und in der alphabetischen Umgebung von "Neufeld" fällt einem dann auf, dass Neuwied fehlt. Das Eröffnungsdatum passt, dass Stilllegungsdatum ist tagesgleich von korrekt 1963 auf 1964 verschoben. Nun kauft man natürlich als Mitteleuropäer ein solches Buch nicht, um sich über deutsche Obusbetriebe zu informieren, dafür gibts besseres, z. B. den Atlas von Sohns und Wöhl, von detaillierten Beschreibungen mal ganz abgesehen. Aber man wird misstrauisch. Wenn die sich an einer leicht prüfbaren Stelle einen solchen Klops leisten, kann ich mich dann für Gegenden, in denen ich mich nicht wirklich auskenne, auf die Angaben verlassen? Für z. B. UK oder Italien gibt es sicher einiges an Literatur, was ich nicht habe. Die könnten mir in diesem Atlas alles erzählen, ich würde es nicht merken. Immerhin kommt der Obus von Wanadsor (Armenien) im Buch nicht vor, aber er hat ja jetzt mit dem Obus von Neufeld einen würdigen Nachfolger.
Man sucht also weiter, wo man sich ein bisschen auskennt, z. B. weil man selbst schon da war. Man wird dann erst mal unsicher, welche Netzlänge da nun eigentlich angegeben ist. Erklärt wird es nicht. Der russische Begriff "протяженность" ist nicht eindeutig; der englische Begriff "catenary" legt nahe, dass die Länge der Oberleitung gemeint ist. Man findet das an vielen Stellen in diesem Sinne plausibel wieder. Aber an manchen auch nicht. Die deutschsprachige Literatur nennt in der Regel vorrangig die Streckenlängen. Und das wurde zumindest teilweise dann unkorrigiert als Oberleitungslänge übernommen. Im Ergebnis heißt das, dass der Wert all der schönen Balkengrafiken deutlich eingeschränkt ist. Schade drum. Ach ja: Ausgerechnet für Eberswalde als einem der bestdokumentierten deutschen Obusbetriebe hat man für die letzten Jahrzehnte keine Daten für die Streckenlänge.
Stöbern wir also weiter im Buch, mit gewachsenem Misstrauen. Was kennt man denn noch so? Z. B. Naryn in Kirgisistan (einer der exotischsten Obusbetriebe der ex-SU, dem Buch leider kaum ein Wort und kein Bild wert). Die Oberleitungslänge (in diesem Fall offensichtlich wirklich so gemeint) wird für 2000 und 2010 einheitlich mit 10,0 km angegeben. Für 2000 passt das, aber die Streckenverlängerung von 2008 scheint man nicht mitbekommen zu haben. Und sonst so? Chudschand in Tadschikistan ist dem Buch zufolge immer noch in Betrieb (wenn auch mit Vermerk unregelmäßigen Betriebs seit 2003). Dort ist seit 2010 kein Obus mehr gefahren, weder Obusse noch Strecke sind betriebsfähig, Strom hat man auch nicht. 2013 wurde der Betrieb offiziell stillgelegt. Es gibt seit 2017 zaghafte Andeutungen, dass möglicherweise eine Wiederinbetriebnahme in Erwägung gezogen werden könnte. Im Ergebnis also fehlerhaft, wenn auch vielleicht das Ergebnis einer sehr weitreichenden Auslegung.
Und dann ist da noch Solonceni (Moldau). Diesen kurzlebigen und kleinen Obusbetrieb hat möglicherweise zeitlebens nie ein Nahverkehrsfreund besucht, ich natürlich auch nicht. Die Berichterstattung ist dürftig, man hatte jedenfalls einen leihweise aus Chișinău übernommenen ZiU-9. Laut dem vorliegenden Buch hatte man aber 2 Obusse (ungenannter Bauart). Wer hat nun recht? Korolkow/Klimow oder doch Tarchow (ebenfalls ein ausgewiesener Experte für elektrischen Nahverkehr in der ex-SU, auch bekannt als Autor von "Empire of the Trolleybus"). Es liegt im Wesen eines solchen Nachschlagewerks, dass man das nicht prüfen kann. Man weiß also nicht, ob die Autoren wirklich mehr wissen als Tarchow 1995 oder ob das eine Folge der irreführenden Darstellung auf transphoto.ru ist, wo zeitweise der falsche ZiU-9 dem Einsatz in Solonceni zugerechnet wurde, womit man aus zwei irgendwie mit Solonceni in Verbindung gebrachten Nummern (davon eine fälschlicherweise) zwei Obusse gemacht hätte.
Und was sucht man wirklich, wenn man nicht nur prüfen will, was man eh schon weiß? Z. B. Nordkorea oder chinesische Werksverkehrsobusse. In Nordkorea bekommen man einen handfesten Überblick (wobei seltsamerweise als letztes Bezugsjahr 2012 statt 2010 angegeben ist), was es gegeben hat und was es noch gibt. Die Detailinformationen halten sich in engen Grenzen, Angaben zur Streckenlänge und zum Fahrzeugbestand sind spärlich und ungefähr, Stillegungsjahre auch. Das ist auch völlig akzeptabel. Allerdings lässt das Buch keine Zweifel daran, welche Obusnetze noch in Betrieb sind und welche nicht; irgendwelche Vorbehalte zur Zuverlässigkeit der Darstellung gibt es nicht. Damit wären die Autoren die einzigen Leute (außerhalb Koreas), die sich hinsichtlich des aktuellen Status komplett auskennen. Ich bin da skeptisch, aber es bleibt ein nützlicher Überblick. Selbst wenn nicht alles stimmt. Mit Ausnahme eines Bilds aus Anju von der Strecke mit Oberleitung und ohne Obus nach der Stilllegung sind nur Bilder aus Pjöngjang enthalten.
Die Situation bei den chinesischen Werksobusnetzen scheint übersichtlicher zu sein. Und es sind auch zwei schöne Bilder aus Jixi und Wuyang drin (kenne ich beides nicht persönlich). Und dann landet man bei Taiyuan. Dort gibt es drei getrennte Obusnetze, ein Stadtnetz und zwei Werksobusstrecken. Es gibt keine Verbindungen zwischen diesen Netzen. Im Buch findet man das Stadtnetz von Taiyuan und "Taiyuan - Xishan", letzteres mit 28 Obussen. Tja, da fehlt wohl was. Die Länge (wie auch immer berechnet) wird mit 12,0 km angegeben. Das könnte als Streckenlänge für beide Werksobusstrecken zusammen passen, für die östliche Strecke (manchmal als "Guandi" bekannt, man kann sie auch als "blaue Linie" nach den Fahrzeugen oder als "7" nach der parallelen Buslinie bezeichnen - im Unterschied zur "gelben Linie" oder "17" im Westen) allein käme es mir als Oberleitungslänge etwas kurz vor, würde ich mangels klaren Gegenbeweises aber gelten lassen. Die beiden Strecken haben unterschiedliche Betreiber und keine Verbindung untereinander, auch wenn sie sich am stadtseitigen Ende bis auf wenige 100 m nahekommen. Indiz für die Ursache der Verwirrung: Schon auf transphoto.ru bekommt man das nicht sauber getrennt. Da wird die westliche Strecke dem Stadtbetrieb zugerechnet.
Bisher praktisch nicht bekannt waren zwei landwirtschaftliche Oberleitungs-LKW-Strecken aus den 50er Jahren in Weißrussland. Auf transphoto.ru sind Bilder davon, die stammen offensichtlich aus der Recherche für dieses Buch. Schön, dass solche Exoten hier eine Würdigung finden. Die aktuellen testweise elektrifzierten Autobahnen konnten wohl redaktionsschlussbedingt nicht berücksichtigt werden.
Was also bekommt man mit diesem Buch? Eine schöne, wenn auch knappe Übersicht über bestehende und eingegangene Obusnetze weltweit, für all das, wo man sonst keine Informationen findet (OK, außerhalb von transphoto.ru, woher man auch etliche Bilder schon kennt). Mit durchaus ansprechenden Fotos aus diesen Netzen, wenn auch nicht von überall. Aus z. B. Indien, Iran und Vietnam, wofür es eben keine Bildbände gibt. Aber das versprochene Nachschlagewerk mit wirklich belastbaren Daten im Detail bekommt man hier leider nicht.