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 11 - Bahn und Medien 

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Software, Medien aller Art und Literatur zum Themengebiet Eisenbahn
Moderatoren: Klaus Habermann - MWD
Die dritte Ausgabe des wunderbaren Magazins "Der Passagier" ist erschienen - wie schon die beiden ersten Ausgaben reinstes Labsal auf der Seele der Freunde der Eisenbahn-Reisekultur:

[derpassagier.com]
Nachdem es die SCHIENE (die die Reisekultur ab 1986 sogar im Untertitel trug) leider nicht mehr gibt, freue ich mich über diese neue Zeitschrift: Weil sie Reisekultur und Romantik nicht in einer fernen Vergangenheit, sondern im Hier und Heute sucht - und findet! Wie einst die SCHIENE.

Denn die Reisekultur ist in den vergangenen Jahrzehnten schwer unter die Räder oder besser: zwischen die Lärmschutzwände geraten. Diese Bauwerke sind, im Verein mit der üblichen vulgär-anmaßenden "Farbgestaltung" nicht nur hässlich, vielmehr verstellen sie auch den Blick auf Schöneres. Sie sind Anschläge auf die Reisekultur.

Deshalb kann ich jede Initiative, die die Reisekultur wiederbelebt und die Schönheit des Bahreisens betont (und vielleicht auch verteidigt!), nur begrüßen.

Ich bin als Autor seit einiger Zeit auf das Thema Bahn-Ästhetik und ihre Verteidigung gegen Verwahrlosung, banale Bauwerke und Lärmschutzwände fokussiert, etwa mit den Artikeln
- Schallschutzwände – ein ästhetisch-kulturelles Problem (Eisenbahn-Revue International 5/2017),
- Die ästhetische Verwahrlosung der Eisenbahn (Eisenbahn-Revue International 12/2019),
- Die Wurzeln des Hässlichen (Bahn-Report 4/2020) sowie - aktuell -
- 100 Jahre ästhetischer Nihilismus (Eisenbahn-Revue International 5/2022).

Zuvor hatte ich in erster Linie zu verkehrswirtschaftlichen Themen geschrieben, aber den zu beobachtenden Niedergang von Reisekultur und Bahn-Ästhetik kann ich als Fachautor nicht ignorieren. Ich sehe hier sogar ein zukünftiges Trend-Thema.

Reisekultur entsteht aus dem Reisen

geschrieben von: ICE 4

Datum: 06.05.22 20:44

Ich kann das ewige Gejammer über die ach so gefährdete Reisekultur nicht mehr lesen. Ja, es mag sein, dass die Reisekultur der eigenen Jugend und eigenen ersten Lebenshälfte "gefährdet" ist und allmählich verschwindet. Das ist aber nicht die Reisekultur, sondern lediglich jene, die man selbst kennt und als solche und daher richtig und "Idealzustand" empfindet.

Ansonsten aber: Dinge verändern sich. Die Kultur entsteht aus dem, was ist - nicht aus dem, was mal war und nun eben nicht mehr so ist. Also: Je mehr Menschen mit der Bahn fahren, desto mehr Kultur entsteht, in deren Köpfen nämlich. Alles andere sind nur tote Nutzgegenstände und banale Funktionalitäten.

Was ist eigentlich aus der wunderbaren Reisekultur und Ästhetik der Postkuschenzeit geworden? Oder, ganz schlimm: Die Autobahnen! Nur Raserei, nichts sieht man mehr von der Gegend. Also im Vergleich zu damals, als man noch auf der Landstraße durch Dörfer und Städte Richtung Mittelmeer fuhr.

Natürlich sind die Autobahnen und ihr Reiseerlebnis längst selbst Kulturgut geworden. Und so wird es auch mit dem ICE 4 und den mit Schallschutzanlagen und Tunneln versehenen heutigen und künftigen Hauptmagistralen sein. Diese Art Alltagskultur entsteht aus allem, was typisch für eine Zeit, einen Ort oder ein Erlebnis ist - völlig wertfrei. "Hässlich" bedeutet meistens nicht mehr als: Gefällt mir nicht, ist ungewohnt, entspricht nicht meinen Bedürfnissen, kenne ich so nicht, früher war mehr Lametta.

Reisekultur ohne ästhetischen Nihilismus

geschrieben von: Reinhard Hanstein

Datum: 07.05.22 07:46

Der Begriff „Kultur“ ist in der Tat wertfrei und wandelt sich mit der Zeit. Lärmschutzwände, Graffiti, banale Bauwerke und verwahrloste Bahnanlagen sind leider wesentliche Elemente der heutigen Reisekultur.

Diese ist wiederum Teil der (allgemeinen) zeitgenössischen Kultur, die nach den Worten des britischen Philosophen Sir Roger Scruton, Berater der britischen Regierung in Fragen der Baukultur, durch eine Mischung aus
- der Tyrannei des Nützlichen und
- dem Kult des Hässlichen
gekennzeichnet ist.

Es ist eine Kultur, deren Kunst (einschließlich Bau- und Ingenieurskunst) sich im Laufe des vergangenen Jahrhunderts sukzessive vom Ziel der Schönheit entkoppelt und so etwas wie ästhetischen Nihilismus entwickelt hat. Kulturhistorisch betrachtet, stellt das einen Ausnahmezustand dar, den man erkennen und nicht unkritisch („ist halt so“) hinnehmen sollte. Geistesgeschichtlich ist der nihilistische Impuls ein Relikt des 19. und 20. Jahrhunderts und sollte m.E. nicht allzu weit ins 21. Jahrhundert mitgeschleppt werden.

Ich sehe in vielem, was während der vergangenen Jahrzehnte entlang der Bahnen gebaut worden ist, den ästhetischen Nihilismus am Werk. Dessen vorläufigen Höhepunkt stellen für mich (hohe) Lärmschutzwände dar: Beim Blick aus dem Fenster sieht man – nichts.

Das kann nicht die Zukunft der Reisekultur sein. Insofern (und auch im Sinne deines Beitrags) müsste ich statt "Verteidigung der Reisekultur" schreiben: "Verteidigung einer Reisekultur der vielfältigen, angenehmen und anregenden Wahrnehmungen": ohne den Negativstress eines durch Lärmschutzwände versperrten Ausblicks (immer wenn es etwas Schönes oder Interessantes zu sehen gäbe) und ohne die deprimierende Kakophonie aus plumpen Betonbrücken, ungelenkem Farbgeschmier und anderem Vandalismus.

Ich denke, dass das die Perspektive für die Zukunft sein muss, nicht der Status quo.



1-mal bearbeitet. Zuletzt am 2022:05:07:07:52:36.

Re: Reisekultur ohne ästhetischen Nihilismus

geschrieben von: ICE 4

Datum: 08.05.22 12:44

Immerhin hast du jetzt erkannt, dass es eine heutige Reisekultur überhaupt gibt und das alles an sich erstmal wertfrei ist.

Dann aber geht es schon wieder los mit den Negativwertungen: Banal, verwahrlost, Tyrannei, Kult des Hässlichen, Entkopplung vom Ziel der Schönheit, ästhetischer Nihilismus, Ausnahmezustand, Negativstress, deprimierende Kakophonie, plumpe Betonbrücken, ungelenkes Farbgeschmier, Vandalismus.

Übrigens, wenn man aus dem Fenster blickt und dort eine Schallschutzwand steht, sieht man nicht nichts. Man sieht eine vorbeifliegende Schallschutzwand.

Das verändert natürlich das Reiseerlebnis, aber trotzdem bleibt es ja eines - mal davon abgesehen, dass Schallschutzwände keineswegs überall stehen. Nur wird der Ärger darüber sie subjektiv vermutlich noch vermehren.

Nebenher frage ich mich, was genau eigentlich die Alternative sein soll: Kein Schallschutz für Bahnanwohner, keine neuzeitlichen neuen Bauwerke und Strecken, zurück zum Zustand von IC79? Diese Wände sind ja kein Selbstzweck und werden nur so hoch gebaut wie nötig, berechnet anhand objektiv ermittelter Grenzwerte und Schallausbreitungen.

Mein Wohnort wird durch eine Autobahn geteilt und ich bin jedenfalls sehr froh, dass dort Schallschutzwände stehen und vor einigen Jahren sogar erneuert und erhöht wurden. An den Hauptmagistralen den Schienenverkehrs dürfte die Lage ähnlich sein. An vielen vielen anderen Bahnstrecken hingegen wird es solche Wände nie geben - mangels Grenzwertüberschreitungen und Ausbaubedarf. Aber dort wird sich dann sicher an etwas anderem gestört.

Und ob Bahnhöfe und Bahnanlagen "früher" so richtig schön und "Wohlfühlorte" waren? Nun ja. Da gab es wohl solche und solche, so wie es das heute auch immer noch gibt: Gossenbahnhöhe und Vorzeigestationen. Schönes Wetter und schlechtes Wetter.

Re: Reisekultur ohne ästhetischen Nihilismus

geschrieben von: cargofuzzy

Datum: 08.05.22 13:07

Zitat
Nebenher frage ich mich, was genau eigentlich die Alternative sein soll: Kein Schallschutz für Bahnanwohner, keine neuzeitlichen neuen Bauwerke und Strecken, zurück zum Zustand von IC79? Diese Wände sind ja kein Selbstzweck und werden nur so hoch gebaut wie nötig, berechnet anhand objektiv ermittelter Grenzwerte und Schallausbreitungen.
Mögliche Alternativen könnten sein:
Durchsichtige Schallschutzwände oder Schienenstegdämpfer statt Schallschutzwände, sofern die Anwohner dem mehrheitlich zustimmen. Ich habe mal von einem Ort gehört (kann mich nicht mehr erinnern, welcher), in dem einige (oder sogar die meisten?) Anwohner gegen Lärmschutzwände waren, weil sie den Ort verschandeln und optisch zerschneiden.
Zitat
Und ob Bahnhöfe und Bahnanlagen "früher" so richtig schön und "Wohlfühlorte" waren? Nun ja. Da gab es wohl solche und solche, so wie es das heute auch immer noch gibt: Gossenbahnhöhe und Vorzeigestationen. Schönes Wetter und schlechtes Wetter.
Doch, fast alle mittleren (und teilweise auch kleineren) Bahnhöfe waren früher bei Wind, Kälte, Regen und Schnee gegenüber heute "Wohlfühlorte", weil es zumeist (geöffnete) Empfangsgebäude gab, die vor dem Wetter schützten. Das hat nichts mit Romantik zu tun, sondern mit (ehemaligen) Realitäten.

Re: Reisekultur ohne ästhetischen Nihilismus

geschrieben von: ICE 4

Datum: 08.05.22 18:01

cargofuzzy schrieb:
Zitat
Nebenher frage ich mich, was genau eigentlich die Alternative sein soll: Kein Schallschutz für Bahnanwohner, keine neuzeitlichen neuen Bauwerke und Strecken, zurück zum Zustand von IC79? Diese Wände sind ja kein Selbstzweck und werden nur so hoch gebaut wie nötig, berechnet anhand objektiv ermittelter Grenzwerte und Schallausbreitungen.
Mögliche Alternativen könnten sein:
Durchsichtige Schallschutzwände oder Schienenstegdämpfer statt Schallschutzwände, sofern die Anwohner dem mehrheitlich zustimmen. Ich habe mal von einem Ort gehört (kann mich nicht mehr erinnern, welcher), in dem einige (oder sogar die meisten?) Anwohner gegen Lärmschutzwände waren, weil sie den Ort verschandeln und optisch zerschneiden.
Zitat
Und ob Bahnhöfe und Bahnanlagen "früher" so richtig schön und "Wohlfühlorte" waren? Nun ja. Da gab es wohl solche und solche, so wie es das heute auch immer noch gibt: Gossenbahnhöhe und Vorzeigestationen. Schönes Wetter und schlechtes Wetter.
Doch, fast alle mittleren (und teilweise auch kleineren) Bahnhöfe waren früher bei Wind, Kälte, Regen und Schnee gegenüber heute "Wohlfühlorte", weil es zumeist (geöffnete) Empfangsgebäude gab, die vor dem Wetter schützten. Das hat nichts mit Romantik zu tun, sondern mit (ehemaligen) Realitäten.
Transparente Wände lösen das Problem nach meinem bisherigen Kenntnisstand nicht. Erstens ist der Durchblick weiterhin nicht ungetrübt, zweitens schlucken sie materialbedingt weniger Schall, müssen also eher noch höher ausfallen, drittens müssten sämtliche Wände regelmäßig gereinigt werden, um die Transparenz zu erhalten. Ihr typisches Einsatzgebiet ist wohl die Vermeidung allzu starker Verschattungseffekte neben der Wand.

Schienenstegdämpfer: Wenn man die Wandhöhen damit auf "unter Fensterhöhe" bringt - und es muss natürlich auch hinsichtlich Wartung und Gleisbau praktikabel sein. Technisch durchgesetzt hat sich diese Lösung bisher allerdings nicht, was wohl Gründe haben wird. (Früher hat man übrigens ja auch nicht wegen des Ausblicks auf die Wände verzichtet, sondern weil es für die Bahn schön billig war, trotz Lärmentfaltung keine bauen zu müssen.)

Ansonsten blieben noch die Versuche mit dichter am Gleis stehenden niedrigen Wänden, vielleicht sogar gestaffelt mit einer weiteren halbhohen Wand bis Fensterhöhe in etwas größerem Abstand, die längst überfällige Entwicklung lärmreduzierter Güterwagen (es ist ja kein Naturgesetz, dass die so viel lauter als Reisezüge sein müssen) - und letztlich die Heraufsetzung der Grenzwerte. Aber letzteres wird der Eisenbahn durch noch geringer werdende Akzeptanzfähigkeit von Streckenausbauten wohl mehr schaden als der dadurch (wieder) ermöglichte Ausblick an Gewinn für das Gesamtsystem einbringt.

Die alten Warteräume - die hatten in der Tat manchmal Vorteile. Allerdings hing ja alles an der örtlichen Besetzung der entsprechenden Empfangsgebäude und der damit verbundenen sozialen Kontrolle und Sauberhaltung dieser Räume. Und romantisieren sollte man sie in der Tat auch nicht, die typische muffig-versiffte Wartehalle eines Dorf- oder Kleinstadtbahnhofs war in der Regel gerade kein Wohlfühlort, sondern auch nicht mehr als Schlechtwetterzuflucht, im Notfall. Und da man nun nicht "nur für wartende Reisende" jede größere Station wieder örtlich besetzen kann, blieben auch nur Lösungen in Zusammenarbeit mit der jeweiligen Kommune (die dann Wartung und Kontrolle übernimmt, teils auftragsweise, teils aus Eigeninteresse) oder kameraüberwachte containerartige Standardbauten, die nur marginal mehr Reinigungs- und Wartungsaufwand bedeuten als die offenen Wetterschutzhäuschen. (Das zentrale Problem solcher Warteräume sind ja Vandalismus, Obdachlose, Drogensüchtige, Jugendgangs - ohne ständige Nähe irgendeiner Autoritäts- oder Überwachungsperson werden die immer jeden wettergeschützten öffentlichen Ort erobern und für sich nutzen - das war schon immer so.) Zum Opfer gefallen sind diese Warteräume also letztlich diesem Umstand, verbunden mit der Entwicklung von Fahrkartenautomaten und Zentralstellwerken. Alles eine Entwicklung, die man im Grundsatz weder ändern noch zurückdrehen kann - schon gar nicht jetzt in Zeiten allgemeiner Personalnot und allgemeinen Fachkräftemangels. Und der Wunsch nach Schönheit und Reisekultur war damals sicher auch nicht Leitbild und Gestaltungsgrundsatz - auch wenn die ehemals größere Bedeutung der Eisenbahn als für viele Menschen einzig verfügbarem Verkehrsmittel und als damaligem Demonstrationsobjekt von Macht und Wohlstand sicher einiges in diese Richtung befördert haben mag, was man sich heute eben "spart".
ICE 4 schrieb:
Nebenher frage ich mich, was genau eigentlich die Alternative sein soll: Kein Schallschutz für Bahnanwohner, keine neuzeitlichen neuen Bauwerke und Strecken, zurück zum Zustand von IC79? Diese Wände sind ja kein Selbstzweck und werden nur so hoch gebaut wie nötig, berechnet anhand objektiv ermittelter Grenzwerte und Schallausbreitungen.
Die Alternative ist (wie du ja auch schreibst) in erster Linie der lärmarme Güterzug. Güterzüge verkehren nachts, wenn die Grenzwerte niedrig sind und bestimmen so die Höhe der Lärmschutzwände. 64 Güterwagen mit dem innovativen Drehgestell LEILA sind nur so laut wie 8 herkömmliche Güterwagen mit Kunststoff-Bremssohlen oder 1 herkömmlicher Güterwagen mit Grauguss-Bremssohlen [Quelle hier]. 64:8:1 - das zeigt, was möglich wäre. Die Güterwagen-Technik hinkt hier Jahrzehnte hinter dem Möglichen zurück. Lärm gehört mit moderner Technologie bekämpft, wie andere Umweltprobleme auch. Lärmschutzwände sind primitives Low Tech.

Außerdem gibt es die gleisnahen Maßnahmen: Niedrig-Lärmschutzwände, Schienenstegdämpfer etc. Letzten Endes muss es aber auch möglich sein, einen gewissen Lärmdämpfungs-Fehlbetrag zuzulassen, um die Höhe von Lärmschutzwänden auf das Erträgliche zu begrenzen (bei gleisnaher Aufstellung auf die Unterkante der Fenster von Reisezügen). Denn wenn man akustische Umweltverschmutzung (Lärm) mit optischer Umweltverschmutzung (hohe Lärmschutzwände) bekämpft, ist wenig gewonnen. Die eine Plage wird durch die andere Plage ersetzt (und dafür noch massig Geld ausgegeben).

Statt banaler Bauwerke kann man moderne schöne Bauwerke errichten. Es will mir nicht in den Kopf, warum früher, als die technischen und finanziellen Möglichkeiten weit geringer waren als heute, schön gebaut wurde und das heute nicht mehr gehen soll. Bei den Fahrzeugen geht es ja auch. Gute Formen und attraktive Materialien sind ja nicht verschwunden (außer aus den Köpfen der Planer?). Warum sollte man im Verkehrs- und Gewerbebau darauf verzichten?

Wir sollten generell eine Argumentation vermeiden, die zu sehr im Status quo befangen ist: "Geht nich anders, weil isso" und "Isso, weil geht nich anders". Das wäre mir zu wenig innovativ.


ICE 4 schrieb:Zitat:
Übrigens, wenn man aus dem Fenster blickt und dort eine Schallschutzwand steht, sieht man nicht nichts. Man sieht eine vorbeifliegende Schallschutzwand.
Das macht's nicht besser.

ICE 4 schrieb:
Zitat:
Das verändert natürlich das Reiseerlebnis, aber trotzdem bleibt es ja eines
Ja, aber kein schönes.



3-mal bearbeitet. Zuletzt am 2022:05:09:07:41:59.
Dass die Innovationslosigkeit beim Thema Güterwagen/Güterzüge ein Unding ist, da kann ich ja sogar zustimmen. Wenn es Restriktionen für überlaute Passagierjets und Abgaswerte bei LKW geben kann, dann doch bitte auch für Lauf- und Bremsgeräusche bei Güterwagen. Das müsste "nur" mal durchgesetzt werden, was natürlich unbeliebt ist, weil es die Wirtschaft Geld kostet - die Wände kosten den Staat und fördern fast noch die Wirtschaft, denn herstellen und einbauen muss die ja auch jemand.

Nun würde ich aber nicht Lärm und Optik gleichsetzen. Die gesundheitlich negativen Auswirkungen von Verkehrslärm dürften den gelegentlich fehlenden Ausblick aus dem Fenster bzw. den Anblick so einer Wand statt der vorbeifahrenden Züge dann doch übertreffen.

Interessant wäre noch ein Blick in die Schweiz und ggf. auch Österreich - denn zumindest in der Schweiz scheint man weniger und niedrigere Wände aufzustellen, was eher nicht an der allgemeinen Schwerhörigkeit der Bevölkerung liegen wird.

Aber: Gerade dieses "primitive Low Tech" ist eben auch gut. Anderswo wird genau so etwas immer als bessere Lösung gefordert. "Keep it simple." Das ist auch ein wichtiger Aspekt. Und Schönheit: Sehr oft ist der Platz für die Aufstellung extrem begrenzt, gerade wenn Eingriffe in Privatgrundstücke vermieden werden sollen. "Schöne" Bauwerke aber sind in der Tendenz m.W. allesamt breiter und/oder haben geringere Wirkungsgrade. Und auch so Aspekte wie Baukosten, Dauerhaftigkeit, Erneuerbarkeit - da ist die konventionelle Schallschutzwand schon ziemlich top. Das müssen andere Technologien erstmal besser machen, ohne anderweitige Nachteile mitzubringen.

Allerdings möchte ich noch einmal thematisieren, warum man früher "schön" gebaut hat. Da gibt es viele viele Aspekte der Demonstration von (Staats-)Macht und Reichtum, es sollte eben "repräsentativ" aussehen - das ist das, was wir heute als "schön" und "kunstvoll" empfinden. Diese neue Nüchternheit hat also auch etwas mit einem gesellschaftlichen Wandel zu tun: In den Vordergrund rückt die Funktion, nicht die Repräsentation. Das zu übertreiben ist also auch nicht gut, aber ein Zurück zur "beeindrucken wollenden" Ornamentik mit Prunk und Protz - nun ja, müsste man mögen. Auch die Form Staat und Gesellschaft, die so etwas befördert. Um das (optische) Wohlgefühl der Reisenden ging es m.E. jedenfalls damals wie heute höchstes sekundär.

Und ich bleibe dabei: Dass die Kernkultur der Eisenbahn aus Wirtschaft und technischem Nutzen besteht - genau das macht eben auch ihre Kultur aus. Eisenbahn war und ist eine ganz ganz nüchterne Angelegenheit, es ist in allererster Linie ein funktionserfüllendes rein technisches Verkehrssystem - davon wird alles andere geprägt und das sorgt am Ende auch für ihren Reiz. Jegliche Blüten entstanden und entstehen aus diesem Stamm.

Zuletzt auch noch ein Blick auf die Frage, warum man im Zug überhaupt aus dem Fenster schaut. Denn auch das hat sich verändert. Früher konnte man im Zug: Lesen, essen, schlafen, sich mit Mitreisenden unterhalten - oder eben aus dem Fenster schauen. Heute ist das für die meisten Reisenden (!) fundamental anders. Sie haben ihre gesamte Bibliothek bei sich, ihre Musiksammlung, ein Kino mit unbegrenzter Filmauswahl, ihr Büro, Kontakte zu allen Freunden und Verwandten - all das ist jetzt jederzeit und überall verfügbar, auch im Zug. Damit gibt es eigentlich keinen "gelangweilten Blick aus dem Fenster" mangels Alternativen mehr. Dadurch gewöhnen sich die Menschen das ab und entdecken auch gar nicht erst den Reiz dieser inneren Leere und des wortwörtlichen "Vorbeiziehen lassens". Und schon hat man ein Publikum, welches sich in der Mehrheit inzwischen gar nicht mehr groß stören kann an Tunneln und Schallschutzwänden und Wandfensterplätzen, es ist denen schlichtweg egal, ob da draußen jetzt groß was zu sehen ist oder nicht. Nur gegen allfällige Beklemmungsgefühle des Eingesperrtseins in dieser Blechdose braucht man das noch. Und das ist zentral, denn daraus entsteht diese Dynamik: Die Leute schauen nicht mehr raus und stören sich nicht am fehlenden Ausblick und die Leute beschäftigen sich dann auch lieber anders, weil es draußen eh nichts mehr zu sehen gibt.

Aber auch das ist Reisekultur. Nur eine andere, eine, die man vor Erfindung von Smartphone und WLAN nicht kannte, die nun erst durch die Kombination von persönlicher Unterhaltungselektronik mit überall verfügbarem Internet mitsamt Flatrates möglich wurde und sich entwickelt hat.

Erinnert sich noch jemand an die "Sensation" der Videobildschirme in drei Wagen des ICE 1 anno 1991? Und heute schaust du in jedem Stadtbus jederzeit jeden Film, den du schauen möchtest. Aber auch das ist Reisekultur - nur nicht meine. Das gilt sicher für die meisten DSO-Nutzer und viele ältere Menschen, aber wir sind hier weder die Mehrheit noch die Zukunft.
Ihr wisst aber schon, dass Eure Diskussion mit der Zeitschrift nichts zu tun hat? Da geht es nicht um Lärmschutzwände.

Worum es darin eigentlich geht und was die Zeitschrift will, erschließt sich mir aber auch nicht so recht. Ist wohl nicht für mich.
Du hast Recht, wir sind etwas abgeschweift. Aber ich denke, unser Exkurs über die Auswirkungen von Lärmschutzwänden und banalem Bauen auf die Reisekultur hat einige wesentliche Aspekte gestreift und war nicht ganz uninteressant. Vielleicht auch inspirierend.

Zurück zum "Passagier": Ich glaube, die Zeitschrift kann im Zusammenhang mit dem Vintage-Stil gesehen werden, der nach meiner Einschätzung v.a. bei Männern zwischen 30 und 40 sehr populär ist.

Wenn ich es richtig verstehe, greift Vintage insbesondere die Ästhetik der klassischen (Früh-)Moderne auf, der Zeit vor der "Tyrannei des Nützlichen" und dem "Kult des Hässlichen".

Für mich ist der Vintage-Trend mit der Wiederentdeckung einer epochenübergreifenden, zeitlosen Ästhetik verbunden - und mit der Hoffnung, den ästhetischen Nihilismus der Hoch- und Spätmoderne, der zurzeit den Bahnbau und die Reisekultur verwüstet, irgendwann überwinden zu können.

Wenn "Der Passagier" auf diese Weise zur Wiederentdeckung eines allgemeinen Schönheitssinns in der Eisenbahnwelt beitragen kann, wäre das (im Wortsinn) "schön".
(Dieser Beitrag enthält keinen Text)
"Willst du ein Leben streng nach Plan..fahre niemals Eisenbahn!"

Dankeschön! :o) (o.w.T)

geschrieben von: Reinhard Hanstein

Datum: 14.05.22 07:17

(Dieser Beitrag enthält keinen Text)