Die folgenden Ausführungen entstanden u. a. mit Hilfe einer Aufstellung von Ingolf Menzel.
Seit dem ersten Corona-Lockdown letztes Jahr habe ich mich sehr intensiv einem schon lange gehegten Projekt gewidmet: der zeichnerischen Darstellung des Dresdner Fuhrparks in farbigen Grafiken. Vieles davon verwende ich seitdem in meinen Forumsbeiträgen hier und andernorts, erste Beispiel sind auch im Straßenbahnbuch über den Dresdner Westen zu finden.
Dabei stolpert man auch über so manch exotisches Beispiel von Prototypen oder gar völlig unausgeführten Projekten. Oft existieren diese nur als vage Maßzeichnungen, selbst von tatsächlich gebauten Exemplaren gibt es mitunter keine Fotografien. Heute möchte ich an dieser Stelle einige der frühen Projekte vorstellen.
Der „Stehwagen“ 16II
Anders als bei den meisten Großstadtbetrieben hatte man in Dresden bis zur Einführung der „Großen Hechte“ ab 1929 ausschließlich auf zweiachsige Fahrzeuge gesetzt (den „Großen Kurfürsten“ lasse ich hier mal ausdrücklich beiseite). Ab 1909 wurden mit den vierfenstrigen Normalwagen die ersten längeren Zweiachser beschafft, daneben aber weiterhin dreifenstrige kurze Wagen, die als „Unioner“ oder „kleine städtische Wagen“ bekannt wurden. Diese Neubauten verdrängten die ersten elektrischen Fahrzeuge aus der Anfangszeit, insbesondere die zuallermeist aus Pferdebahnwagen umgebauten und oft sehr kleinen Beiwagen. Verschrottet wurde jedoch zunächst kaum etwas, vielmehr wurden die nicht mehr genutzten Fahrzeuge als eiserne Betriebsreserve hinterstellt.
Dieses Beispiel früher Nachhaltigkeit erlaubte es der Städtischen Straßenbahn in der Endkriegs- und Nachkriegs-Notzeit 1918/19, den wegen Kohlemangels zeitweise eingestellten elektrischen Betrieb durch insgesamt vier Not-Pferdebahnlinien zu ersetzen. Hierfür kamen, fotografisch z.B. an der Bergmannstraße oder am Altmarkt verewigt, die sehr kleinen ex-„roten“ Einspänner zum Einsatz, die ansonsten im Streckennetz nicht mehr zu sehen waren.
Darüber hinaus machte man sich Gedanken zur zweckmäßigen Zweitverwertung der stehenden Reserve. Zwei der eigentlich entbehrlichen roten Wägelchen baute man daher im Mai 1918 zu einem Doppelbeiwagen zusammen, dem man noch die Sitzplätze entfernte und der damit als reiner „Stehwagen“ zum Einsatz kam.
Hierzu die „Sächsische Volkszeitung“ am 11.05.1918:
Zu den Wagennummern der Spenderfahrzeuge gibt es unterschiedliche Angaben. Es sollen die Nummern 29 und 30 gewesen sein (laut „Geschichte der Dresdner Straßenbahn“), laut A. Arldt waren es die Nummern 16 und 31 (was irgendwie auch logischer klingt), auch die Nummern 35 und 36 werden genannt, der Kasten letzteren Wagens wurde 2015 im Bilzbad in Radebeul geborgen.
Wie dem auch sei: Bei den Ausgangswagen wurde je eine Plattform entfernt und die Wagenteile mittels Kurzkupplung verbunden. Die rote Lackierung behielten sie, offenbar erfolgte keine Neulackierung, denn ab 1917 wurden eigentlich alle Fahrzeuge in das gelbe Farbschema umlackiert. Dies ist aus der allgemeinen Notlage erklärlich, jedoch insofern merkwürdig, da der Wagen auf den „gelben“ Linien 7 und 13 zum Einsatz kommen sollte.
Wagen 16II im Einsatz auf der „Munitionslinie“ 13. Die Grafik entstand nach einer Zeichnung von Maximilian Hesse.
Wichtigstes Merkmal war jedoch der Verzicht auf jegliche Sitzplätze, denn der Wagen war gedacht für den dichten Arbeiterverkehr zu den Munitionsfabriken im Arsenal. Es handelte sich somit gewissermaßen um den ersten „KSW“ der Dresdner Straßenbahn. Nach Kriegsende wurde der Wagen entbehrlich und wohl 1921 als Gartenlaube verkauft.
Großer sechsfenstriger Normaltriebwagen (um 1918)
Als Unterserie der städtischen Normalwagen wurde von 1914 bis 1918 in mehreren kleineren Serien der Typ B5 in den Werkstätten an der Trachenberger Straße gefertigt. Mit imposanten 10 Metern Länge waren diese Wagen die längsten Zweiachser der Normalbauart. Wenig bekannt ist, dass die 1918 fertig gestellte letzte Serie (1131 bis 1135) eigentlich motorisiert werden sollten, wegen des kriegsbedingten Rohstoffmangels jedoch nur als Beiwagen in Betrieb genommen werden konnten. Somit sollte auch der historische Beiwagen 1135 eigentlich ein Triebwagen werden.
Eingang gefunden hat die nie gefertigte Type kurioserweise in eine „Dienstanweisung für Schaffner und Führer“ der Städtischen Straßenbahn von 1925, wo sie die Stromversorgung der Straßenbahn illustriert.
Ausgesehen hätten die sehr langen Wagen wohl mit großer Sicherheit so, wobei die Wagennummerierung der Fantasie des Zeichners überlassen bleiben muss. Mit Sicherheit wäre ein MAN-Fahrgestell zur Anwendung gekommen, damals Standard bei den großen Triebwagen der Städtischen Straßenbahn.
Letztlich wurden ab 1920 weitere Fahrzeuge des vierfenstrigen Typs A 7 weiterbeschafft, z.T. als städtische Notstandsarbeiten in Zusammenarbeit mit der Wagenbaufirma Gläser in der Johannstadt. Erst die großen „MAN-Wagen“ der Type A8 ab 1925 griffen das Projekt in modernerer Form wieder auf, nun mit Schiebetüren, Plattformscheinwerfern und Ecklaternen. Die älteren Fahrzeuge wurden in den Folgejahren entsprechend umgebaut.
Der Zwillingswagen 850 + 851
Diesen habe ich schon im „Bergmannstraßen“-Beitrag verarbeitet, möchte ihn hier der Vollständigkeit halber aber noch einmal mit anführen.
Anfang der 1920er Jahre machte man sich Gedanken um eine rationellere Abwicklung des Betriebs. Im Frühjahr 1920 fügte man die ex-„gelben“ Tw 850 und 851 zu einem Doppeltriebwagen zusammen. Man erhoffte sich hiervon eine höhere Beschleunigung und damit auch höhere Durchschnittsgeschwindigkeiten als bei Beiwagenzügen. Da mittlerweile auch zahlreiche Haltestellen für immer eingezogen worden waren, sollte sich ein Geschwindigkeitsüberschuss positiv bemerkbar machen.
Nach Überwindung zahlreicher technischer Schwierigkeiten kam der Wagen ab 7. April 1921 mit ausgeliehenen BBC-Fahrschaltern auf der Linie 23 in den Linieneinsatz. Die Endplattformen waren vorher verglast worden, während die beiden inneren offen blieben.
Offenbar bewährte sich der Wagen aus technischer Sicht, kam aber zur Unzeit: In den Inflationsjahren wurde der Betrieb auf äußerster Sparflamme durchgeführt, wobei der doppelt zu besetzende Zwillingswagen schon aus wirtschaftlichen Gründen schwer ins Gewicht fiel. Außerdem stiegen die Leihgebühren der Fahrschalter durch die Inflation derart an, dass die Städtische Straßenbahn sie Ende 1922 an BBC zurückgab und den Wagen abstellte.
Er kam nach der wirtschaftlichen Erholung nicht wieder in Betrieb, denn mittlerweile konnte man die alten Zweiachser mit neuen, stärkeren Motoren ausrüsten, so dass sein Hauptvorteil entfiel. Er wurde schließlich im April 1926 abgebrochen.
Der Doppeltriebwagen 1901
Nach 1930 machte man sich ebenfalls aus Rationalisierungsgründen Gedanken um die sinnvolle Verwendung und Zweitverwertung der kleinen zweiachsigen Fahrzeuge. So entstand 1932 aus den 1913 gebauten kleinen Normaltriebwagen 831II (A) und 832II (B) der Doppeltriebwagen 1901. Die Spenderwagen wurden wie die bekannten „Doppelschleifwagen“ mit Zieharmonikaübergang kurzgekuppelt, Nummer 1901 wurde allerdings als Einrichtungswagen ausgeführt. Der Vorderwagen erhielt dabei eine an die „Hecht“-Triebwagen erinnernde sehr spitze abgerundete Plattform, das Heck entsprach den Stahlbeiwagen bzw. den spitzeren Schnauzen der Mustertriebwagen des „M-Zuges“, später Beiwagen 1333 und 1334. Es kam eine Druckknopfsteuerung ähnlich den Hechtwagen zum Einsatz.
Der Doppeltriebwagen 1901 wurde nur zu Probefahrten verwendet und bekam von der Verkehrspolizei keine Genehmigung. So kam er nie im Personenverkehr zum Einsatz und wurde letztendlich am 03.01.1933 abgebrochen. Sein Einsatzgebiet wäre auch sehr beschränkt gewesen, denn um 1931 ließen nur die Linien 3, 11, 17 und 26 einen Einrichtungsbetrieb zu. Ich habe ihn grafisch daher auf die Ringlinie 26 verbannt.
Es sind bislang leider keinerlei Fotos zu dem sonderbaren Gefährt aufgetaucht, so dass ich mich für die Grafik auf eine Maßskizze stützen musste.
Der Doppelbeiwagen 1146
Von diesem Fahrzeug existieren zumindest zwei mir bekannte Fotos. Er entstand aus ähnlichen Beweggründen wie der Triebwagen 1901 ein Jahr früher, man versprach sich hiervon vor allem eine Personalersparnis, brauchte man doch nun nur noch einen Schaffner. Spenderwagen waren die ex-„gelben“ Tw 945 und 946, sogar die entmotorisierten „Union“-Fahrgestelle wurden übernommen.
Foto: Archiv DVB
Die Plattformen entsprachen den Stahlbeiwagen, aber in etwas spitzerer Form wie bei den „M-Triebwagen“, den späteren Bw 1333 und 1334. Von diesen wurden auch die klappbaren Umsetztüren übernommen.
Bewährt hat sich der Wagen nicht und blieb deshalb ein Einzelstück. Probleme gab es wohl beim Durchfahren von engen Kurven und Gleiswechseln. Dennoch soll er sporadisch im Vogelwiesenverkehr oder zu anderen Großveranstaltungen zum Einsatz gekommen sein. Er
wurde schon im Juli 1936 verschrottet.
Die Einheitsstraßenbahnwagen (ESW)
An den um 1940 konzipierten ESW hätte mit einiger Sicherheit auch die in puncto Verkehrstechnik damals mit führende Dresdner Straßenbahn AG partizipiert. Insbesondere die Vierachser erinnerten doch sehr an den „Großen Hecht“ Alfred Böckemühls, wenngleich die Plattformgestaltung wegen der Möglichkeit der Verwendung von Einzelfahrschaltern breiter gestaltet wurden. Zumindest existier(t)en Modelle sowohl der zweiachsigen wie auch der vierachsigen Bauform in der neuen Dresdner Dreistreifen-Lackierung, hier ein Foto aus dem DVB-Archiv, sogar mit passender Waldschlößchen-Kulisse.
ESW für die Dresdner Straßenbahn AG als Grafik. Der Einsatz der großen Vierachser auf der langen Linie 15 wäre sicher nicht unwahrscheinlich gewesen.
Andererseits gab die Dresdner Straßenbahn AG unmittelbar vor Kriegsausbruch noch einmal eine umfangreiche Bestellung von Hechtwagen auf, die aber nicht mehr zur Auslieferung gelangten. Aus vorhandenen Teilen entstanden noch 1954 im Waggonbau Görlitz die „Großen Hechte“ 1726II und 1727II, die sich äußerlich von den über zwanzig Jahre älteren Serienwagen nur sehr unwesentlich unterschieden, wie der Anzahl der Klappfenster oder der massiveren Ausführung der Dachaufbauten.
Der Doppelstocktriebwagen Alfred Böckemühls
Nach dem Krieg leitete Alfred Bockemühl die neu gegründete Dresdner Verkehrs-Gesellschaft AG (DVG) in Nachfolge der Dresdner Straßenbahn AG weiter, bis er schließlich 1950 der DDR den Rücken kehrte und in Stuttgart viele seiner in Dresden begonnenen Ideen und Projekte verwirklichte. Nicht ohne Grund erinnern die Stuttgarter Straßenbahnwagen der 1950er Jahre in ihrer Formensprache doch sehr an die Dresdner Hechtwagen. Auch der Umbau der Straßenbahn zu einem Stadtbahnsystem mit unabhängigen Trassen und Tunnelstrecken reifte noch in Bockemühls Dresdner Zeit. In diesem Kontext ist auch sein Projekt eines Doppelstock-Straßenbahnwagens zu sehen, für den einzelne Komponenten, wie der Stromabnehmer, sogar tatsächlich erprobt wurden. Der riesige Drehzapfenabstand von 13(!!!) Metern wäre in der Praxis wohl nur mit einer völligen Neutrassierung der vorhandenen Strecken zu realisieren gewesen, schließlich gab es ja zeitgleich Pläne, die zerstörte Innenstadt völlig zu plätten und in „bestem“ Le Corbusier-schem Stil als eine Anreihung von Wohnmaschinen wieder aufzubauen.
In der Festschrift der DVG „75 Jahre Straßenbahn in Dresden“ aus dem Jahre 1947 findet sich folgende Zukunftsvision:
In der Realität wich die Planung von der Darstellung etwas ab, obwohl ich meine, schon einmal eine Zeichnung gesehen zu haben, die der Darstellung oben entspricht. Meine Grafik entstand nach einer Maßskizze, die auch in den „Kutschern und Kondukteuren“ abgedruckt ist. Das Design mutet schon sehr amerikanisch an, und es ist gut vorstellbar, wie ein solches Fahrzeug wohl nur auf geraden Eigentrassen oder in Tunneln mit großen Radien einsetzbar hätte sein können. Am Alaunplatz wäre er definitiv nicht um die Kurve gekommen…
Bei Gefallen werde ich bei Gelegenheit in der Nachkriegszeit fortfahren, denn auch hier gibt es eine ganze Reihe nicht völlig unrealistischer Planungen und Entwicklungen, in dem Sinne: Was wäre gewesen wenn…?
Einen schönen Buß- und Bettag!
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3-mal bearbeitet. Zuletzt am 2021:11:18:08:01:06.