Den Ausführungen von @Donat stimme ich voll umfänglich zu.
Die jüngere Generation macht es sich zu einfach, wenn sie Ereignisse aus der entfernteren Vergangenheit mit heutigen Maßstäben beurteilt. Man kann die allgemein geringere Verkehrsdichte von 1965 nicht mit heute vergleichen. Das stimmt. Aber vor über 50 Jahren bestimmten andere Gesichtspunkte als heute die Lösungsmöglichkeiten.
Um etwas besser die damalige Denkweise zu verstehen, füge ich hier zwei Zitate aus der Hessischen Allgemeinen aus 1964 und 1965 an:
HA, 21.04.1964
"Neue Pläne für den Bahnhofsvorplatz"
(Zitat Anfang) Eine Kommission von Fachleuten auf den Gebieten Verkehrsplanung und Straßenbau nach der anderen aus vielen deutschen Großstädten hat in den vergangenen Monaten Kassel besucht, um sich an Ort und Stelle von dem zu überzeugen, was man andernorts das „Kasseler Wunder“ nennt. Journalisten geben sich die Türklinke zur Pressestelle des Magistrats in die Hand und schreiben teilweise in ganzseitigen Reportagen von den „vorbildlichen Kasseler Verkehrseinrichtungen“. Man sieht, die Stadt ist im Gespräch. Aber, so erhebt sich die Frage, wird sie es auch in Zukunft bleiben?
Denn: es gibt im Kasseler Straßenverkehrsnetz noch mehrere neuralgische Punkte, die man den Gästen ungern gezeigt haben mag, weil hier noch vieles im Argen liegt, zum Beispiel am Bahnhofsvorplatz und am Lutherplatz. Die Verkehrslage ist an beiden Stellen so unübersichtlich, daß nicht nur auswärtige Kraftfahrer Grund haben, über diese „scheußlichen Kreuzungen" zu schimpfen, sondern auch der einheimische Fahrer muß höllisch aufpassen, wenn er Bahnhofsvorplatz und Lutherplatz „ungerupft" überqueren will.
In Spitzenzeiten sind hier mehrere Polizeibeamte beschäftigt, die den Verkehr lenken und den Fußgängern ein einigermaßen sicheres überqueren der Straßen ermöglichen.
Bereits vor Jahren wurde im Rathaus ein Plan bekanntgegeben, der den Bahnhofsvorplatz und in seinem Gefolge auch den Lutherplatz entschärfen sollte. Von diesem Plan hat man aber nichts mehr gehört. Was seit dieser Zeit neu entstand, waren Leitlinien auf dem Straßenpflaster und - besonders am Lutherplatz - ein Schilderwald, damit der Verkehr wenigstens im Schrittempo rollen kann.
Der damalige Plan sah vor, den Bahnhofsvorplatz völlig frei von der Straßenbahn zu halten, indem man sie am Ausgang der Kurfürstenstraße unter das Pflaster legte und unter dem Bahnhofsvorplatz eine Art „Straßenbahnbahnhof" schuf. Zugleich sollte eine „Spinne" von Fußgängertunneln unter der Erde entstehen.
Dieser Plan ist noch nicht ganz zu den Akten gelegt, denn im Rathaus haben sich, wie man hört, die Mitglieder verschiedener Stadtverordnetenfraktionen in den letzten Wochen damit beschäftigt, ihn wieder aufleben zu lassen. Allerdings mit ziemlichen Erweiterungen. Auch das städtische Tiefbauamt fertigt zur Zeit neue Pläne und Schnittmodelle an.
Werner-Hilpert-Straße ohne Schienen
Mehrere Stadtverordnete sind der Meinung, daß man die Straßenbahn schon am Ständeplatz in Höhe des Gebäudes vom Landeswohlfahrtsverband unter die Erde legen, sie unter der Kurfürstenstraße und dem Hauptbahnhof hindurch zur Ottostraße führen und in den Grünen Weg in die Trasse der Linie 7 einleiten sollte. Von hier führe sie dann in Richtung Lutherplatz - Stern. Dann wäre die Werner-Hilpert-Straße von der Straßenbahn befreit.
Der Lutherplatz soll dann nach den Vorstellungen dieser Stadtverordneten dadurch neu gestaltet werden, daß die Rudolf-Schwander-Straße unter dem Platz in Richtung Fallerslebenstraße / Holländischer Platz hindurchgeführt wird. Parallel zu diesem Fahrtunnel könnten dann, so meinen sie, Fußgängertunnel entstehen.
Andere Stadtverordnete überlegen, ob die Straßenbahn nicht bereits an der Einmündung der Friedrich-Ebert-Straße in den Ständeplatz unter die Erde verlegt wird, um dann hinter dem Bahnhofsvorplatz wieder ans Tageslicht zu kommen. Die am Anfang des Ständeplatzes und am Bahnhofsvorplatz entstehenden Fußgängertunnel sollen nach Ansicht dieser Stadtverordneten (teilweise) dadurch finanziert werden, daß man in ihnen Läden einbaut und nach „Wiener Muster" diese Läden langfristig verpachtet, wobei ein angemessener Baukostenzuschuß zu zahlen wäre. (Zitat Ende.)
In der Hessischen Allgemeine vom 13.05.1965 ist unter der Überschrift "Erster Schritt nach vorn am Bahnhofsvorplatz" u.a. zu lesen:
(Zitat Anfang): Es ist höchste Zeit, daß gerade am Bahnhofsvorplatz der Verkehr je nach Art voneinander getrennt wird, da hier so viele Verkehrsströme durcheinanderfließen, dass besonders zur Zeit des Berufsverkehrs ein heilloses Chaos herrscht, gegen das unermüdlich arbeitende Polizeibeamte ankämpfen müssen. Um auf den Straßen rund um den Hauptbahnhof endlich klare Verhältnisse zu schaffen, entschloß sich die Stadt zu einem gewaltigen „Schritt nach vom". Ihre Planer entwarfen den Bahnhofsvorplatz „von morgen", ihre Tiefbauer gingen mit den Plänen in die Einzelheiten. (Zitat Ende)
Um die Verkehrssituation bildlich darzustellen hier ein Foto vom 17.04.1965 aus der Werner-Hilpert-Straße:
Drei Straßenbahnen stauen sich auf der Werner-Hilpert-Straße zwischen dem Individualverkehr in Richtung Hauptbahnhof.
Nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs wollte man aus Kassel eine moderne Stadt machen. Dabei stand die autogerechte Stadt - dem Zeitgeist entsprechend - im Vordergrund. Die Straßenbahn kreuzte vor und hinter dem Vorplatz des Hauptbahnhofs den Individualverkehr im Jahr 1965 mit den Straßenbahn-Linien 2, 3, 5 und 6 sowie zahlreichen E-Wagen in der HVZ. Sie war damit ein Verkehrshindernis und wurde dort in den Untergrund verbannt. Weil auch die Fußgänger die IV störten, baute man in Kassel über ein Dutzend Fußgängertunnel. In den 1960er und 1970er Jahren war das moderne Verkehrsplanung . Heute sieht man das als Irrsinn und Geldverschwendung an.
Tw666 schrieb:
Das man gerade so die 2,40m breiten Neufahrzeuge reinbekommen hat, sicher einst ein Planungsfehler ;)
Das war kein Planungsfehler! Zum Zeitpunkt der Planung des Hbf-Tunnels gab es nur die 2,10 m breiten Zweiachser und die 2,17 m breiten Gelenkwagen. Die 2,20 m breiten Drehgestell-Fahrzeuge waren gerade in der Entwicklung. An 2,40 m breite Wagen war damals gar nicht zu denken.
Tw666 schrieb:
Aber: unabhäniger Bahnkörper -> U-Bahn :D Ich erinnere mich sogar, dass es Bilder aus der Anfangszeigt gibt, welche ein U-Bahn-Symbol an den Abgängen zeigen. Man hatte damals halt einfach ziemlich dicke Eier und es sogar geschafft vor Frankfurt zu eröffnen. Gut, dass dieses Kapitel der Geschichte auch vorbei ist, ich erinnere mich nur ungerne an die Gänge durch die Fußgängerebene.
In Kassel hatte man nie den Ehrgeiz, eine U-Bahn zu bauen, auch wenn es immer mal wieder von Politikern Vorschläge für weitere Tunnelstrecken gab. Die Tunnelhaltestelle Hauptbahnhof wurde offiziell nie als U-Bahn bezeichnet.
Das U-Bahn-Symbol neben der Rolltreppe auf dem Bahnhofsvorplatz hatte eine Vorgeschichte. Zwei Tage nach der Tunneleinweihung wurde von mir und einem weiteren HA-Leser in einem Leserbrief kritisiert, dass man auf dem Vorplatz kein Hinweisschild zur Straßenbahn-Haltestelle findet. Neben der Rolltreppe befand sich nur eine kleine Laterne mit einem Straßenbahnsymbol darauf. Die war aber von weitem nicht zu erkennen. Über die ganze Breite der Tunnelöffnung prangte aber eine Leuchtreklame der Landesbausparkasse. Keine 14 Tage nach den Leserbriefen ordnete der Kasseler Oberbürgermeister an, dass an Stelle der Laterne das international übliche U-Bahn-Symbol angebracht wird, was Mitte März 1968 auch geschah. Über der Reklame brachte man noch den Schriftzug "Zur Stadt und Straßenbahn" an.
Der Ausspruch mit den "dicken Eiern" ist doch in diesem Zusammenhang mehr als überheblich und unpassend. Man sah sich in Kassel auch nicht als "Sieger" vor Frankfurt im U-Bahn-Bau. Das ist eine reine Erfindung von Tw666.
Tw666 schrieb:
Das Problem der Verkehrsdichte ist somit reell nicht vorhanden gewesen, eine Tunnelhaltestelle "brauchte" es nicht. Hätte man die Strecke der Straßenbahn schon in der Kurfürstenstraße an die nördliche Straßenseite, in der Werner-Hilpert-Straße an die südliche Straßenseite und vor dem Hauptbahnhof an die östliche Straßenseite verlegen können. Nachteil: Fahrgäste hätten die große Straße am Hauptbahnhof überqueren müssen. Vorteil: Entflechtung der Verkehre ohne aufwändigen und teuren Tunnelneubau.
@ Tw 666: In Deinen Augen gab es 1965 keine reell vorhandene Verkehrsdichte in der Werner-Hilpert-Straße. Das habe ich aber ganz anders erlebt und in Erinnerung. Im Vergleich zu heute gab es durchaus mehr Verkehr rund um den Hauptbahnhof und in der Werner-Hilpert-Straße. Der Hauptbahnhof war in Kassel zu dieser Zeit ein Punkt mit zentraler Bedeutung. Diese Bedeutung verlor die Gegend aber mit der Eröffnung des ICE-Bahnhofs Kassel-Wilhelmshöhe. Und mit "Hätte, hätte, hätte" ist nichts zu verändern. Man darf die Situation von vor 50 - 60 Jahren nicht mit den heutigen Augen sehen. Die Denkweise war eine andere. Dieses Problem stellt sich heutzutage aber bei vielen Ereignissen der Geschichte. Wie wird man in 50 - 60 Jahren darüber urteilen, dass heute wieder an vielen Straßen Fahrradwege gebaut werden oder auf das Elektroauto gesetzt wird?