In dieser Beitragsreihe möchte ich mich wiederum einem wenig bekannten, dafür aber umso interessanteren Kapitel der Dresdner Straßenbahn- und Nahverkehrsgeschichte widmen. Über die große Rennbahnschleife in Gruna und Seidnitz hatte ich bereits im DAF vor einigen Jahren einen Beitrag verfasst, dort natürlich mit dem Vergleichsschwerpunkt des heutigen Zustands und besonderem Augenmerk auf die stadtgeschichtliche Entwicklung der betroffenen Vorstädte. In der Zwischenzeit hat sich allerdings eine ganze Menge an neuem Material und neuen Erkenntnissen angesammelt, Anlass genug für eine wiederholte Aufarbeitung. Bei den Recherchen haben sich Erkenntnisse ergeben, die zwar nicht unbedingt zu einer Umschreibung der Dresdner Straßenbahngeschichte Anlass geben, aber zumindest doch so einige auch im Netz und diversen Standardwerken veröffentlichte Angaben als fehlerhaft überführen: Dies betrifft insbesondere die Entstehung der Rennbahnschleife, die anders als gemeinhin dargestellt in mehreren Schritten entstand.
Von Gruna nach Seidnitz
Bereits seit Dezember 1889 betrieb die Deutsche Straßenbahngesellschaft in Dresden eine Pferdeomnibuslinie von der Lennéstraße nach Gruna. Auf eine Gleisverlegung verzichtete man zunächst, da die städtebauliche Entwicklung hinter dem Großen Garten eine solch teure Investition noch nicht rechtfertigte, geplant war sie allerdings von Beginn an.
So kam es, dass die neue Straßenbahnstrecke vom Stübelplatz nach Gruna erst am 10. April 1900 in Betrieb genommen wurde - und das bereits von Beginn an im elektrischen Betrieb. Zwei Monate später, am 18. Juni, wurde die Linie zum Neumarkt verlängert und erhielt 1905 die Nummer 14 - wir haben sie bereits in der „Ur- und Frühgeschichte“ gebührend vorgestellt.
Eröffnung der Grunaer Straßenbahn - großer Empfang an der „Grünen Wiese“. So ein Gasthof am Endpunkt erwies sich für die Eröffnungsfestivitäten natürlich als äußerst praktisch. Das Bild hatte ich schon bei der Vorstellung der Linie 14 gezeigt.
Ursprünglich nutzte die Straßenbahn ab Karcherallee die noch durchführende Pirnaische Straße (heute Bodenbacher Straße) bis zum Endpunkt an der „Grünen Wiese“, dem an der Ecke Zwingli- und Rothermundtstraße gelegenen Hauptgasthof des bis 1901 selbstständigen Dorfes Gruna.
Blick von der Zwinglistraße in die nach der Eingemeindung als Bodenbacher Straße bezeichnete Pirnaische Straße. Die kleine Thomaskirche ist nach vereinfachendem Wiederaufbau noch heute vorhanden. Wir erkennen gut die ursprüngliche Streckenführung der Straßenbahn, auch wenn gerade kein Wagen in Sicht ist: kein Wunder bei einem ursprünglichen 20-Minuten-Takt…
Diese Streckenführung wurde schon per 19. August 1908 aufgegeben und durch die noch heute vorhandene Trassierung in Verlängerung der Stübelallee und über Zwinglistraße ersetzt.
Am 22. Oktober 1905 erfolgte die zunächst eingleisige Verlängerung von der „Grünen Wiese“ in Gruna bis zum Gasthof in Seidnitz, das 1902 ein Jahr nach dem Nachbarort ebenfalls nach Dresden „einverleibt“ wurde. Dabei ging es weitgehend über freies Feld, bevor die Strecke am Gasthof in die Rennplatzstraße abbog, wo sich auch der Endpunkt befand. In Erwartung eines regen Verkehrs zu Renntagen wurden die Gleisanlagen von Beginn an recht großzügig ausgelegt, um etwaige Sonderwagen aufreihen zu können. Diese Maßnahme sollte sich schnell als kaum ausreichend erweisen.
Die Linie 14 in der Anfangszeit der Streckenverlängerung am Gasthof Seidnitz, nach 1905. Der Triebwagen trägt noch die originale „rote“ Nummer, die Eigentümeranschrift ist aber schon durch Zierfelder übertüncht. Der Wagen kommt gerade vom Endpunkt in der Rennplatzstraße und hat sich fotogen in die Kurve gestellt.
Fahrplan der Linie 14 von 1908. Nur jeder zweite Wagen fuhr von Gruna nach Seidnitz durch. Ein Jahr später war die Linie Geschichte.
Die große Linienreform vom Oktober 1909 brachte das vorläufige Aus für die Nummer 14, denn die kurze Radiallinie wurde mit der bislang am Albertplatz endenden „12“ zu einer Durchmesserlinie zusammengelegt. Dabei endete im Regelbetrieb nach wie vor jeder zweite Wagen an der „Grünen Wiese“ - hieran sollte sich bis Mitte der 1920er Jahre nichts ändern. Nach 1910 steht ein Triebwagen der Linie 12 abfahrbereit an der Haltestelle „Grüne Wiese“ in der Bodenbacher Straße. Der auf der Trachenberger Straße beheimatete ex-„rote“ Triebwagen zeigt sich bereits im modernisierten Zustand der Städtischen Straßenbahn mit Plattformverglasung, Umsetztüren und neuer, vereinfachter Lackierung. Noch allerdings trägt er ein rotes Farbkleid, passend zu seiner geraden Liniennummer. Im Vordergrund quert die Zwinglistraße das Bild.
Übersicht über die Linie 12 im „Verzeichnis der Straßenbahnlinien der Stadt Dresden“ von Paul Zscharnack, herausgegeben anlässlich der Linienreform am 1. Oktober 1909. Besonders beachtenswert sind die Haltestellen „Erste Weiche“ und Zweite Weiche“ im Zuge der Bodenbacher Straße auf freiem Feld zwischen Gruna und Seidnitz - ein deutliches Indiz für die noch vorhandene Eingleisigkeit. Offenbar gab es weit und breit keine Ortsmarke, die eine kreativere Haltestellenbezeichnung ermöglicht hätte.
Triebwagen 680 zeigt sich bis auf die geänderte Wagennummer noch im Ursprungszustand nach der Linienreform 1909 am Endpunkt Seidnitz in der Rennplatzstraße vor dem markanten Bau des Gasthofs Seidnitz. Anstelle des Anwesens im Hintergrund mündet heute die Enderstraße ein.
Die gleiche Perspektive, aber aus südlicherer Position in der Rennplatzstraße aufgenommen, mit dem abfahrbereiten Triebwagen 631, der bereits auf „Vorstadt Trachenberge“ umgeschildert hat. Rillenschienen in unbefestigter Fahrbahn waren in den dörflichen Vorstädten zu jener Zeit noch häufig anzutreffen.
Der detaillierte Stadtplan von 1911 zeigt den ursprünglichen Gleisverlauf mit dem Endpunkt Seidnitz in der Rennplatzstraße. Man beachte die Länge der Endpunktanlage mit den Rennbahn-Aufstellgleisen, für den gemütlichen Regelbetrieb scheinbar überdimensioniert. An Renntagen allerdings war hier die Hölle los…
Typischer Vierbogenfenster-Wagen der Linie 12, Zustand um 1913.
Der 1905 entstandene Endpunkt Seidnitz bot zwar einen günstigen Zugang zur bereits 1891 eröffneten Pferderennbahn in Seidnitz, war dem enormen Andrang an Renntagen kaum gewachsen. Abhilfe musste her - und die Lösung wurde schließlich gefunden im Bau der bekannten „großen Rennbahnschleife“. Die Gleisanlagen in der Rennplatzstraße können mit Fug und Recht als ihre Keimzelle gelten.
Die Strecke zur Radrennbahn
Die zweite Etappe in der Entstehung der Rennbahnschleife kann in das Jahr 1910 zurückverfolgt werden. Auslöser war der Bau einer neuen, größeren Radrennbahn des “Vereins für Radwettfahrten” in unmittelbarer Nachbarschaft des Gaswerks Reick in den Jahren 1909 und 1910 in Ersatz der zu klein gewordenen Anlage in der Johannstadt. Der zu erwartende Zuschaueransturm war mit den bescheidenen vorhandenen Verkehrsanlagen nicht zu bewältigen. So entschloss sich die Stadt sehr schnell, die Strecke zwischen „Grüner Wiese“ und der Liebstädter Straße, die von der Bodenbacher Straße direkt zur Radrennbahn führte, zweigleisig auszubauen und eine Zufahrtsstrecke durch letztere anzulegen. Die „Sächsische Volkszeitung“ vom 14. Mai 1910 weiß hierzu zu vermelden:
Dabei war man allerdings reichlich spät dran, denn eröffnet wurde die Radrennbahn bereits am 13. März 1910. Es galt also, noch einige Monate mit den unzulänglichen Verkehrsanlagen zu leben. Nach dem einmal gefassten Beschluss allerdings ging es mit dem Bau flott voran, und die „Dresdner Nachrichten“ vom 10. Juli berichten:
Wer die einschlägigen Publikationen zu Rate zieht, findet verschiedene Angaben für die Eröffnung der Rennbahnschleife in ihrer Gesamtheit, allerdings stets im Jahre 1910. Im Straßenbahnarchiv Band 2 (S.101) findet man die Angabe „17.7.1910“, bei Kochems den 17.6.1910. Beide Angaben sind aber nachweislich falsch, vielmehr wurde am 11. Juli 1910 zunächst nur eine eingleisige Stichstrecke zur Radrennbahn durch die Liebstädter Straße eröffnet, mit einer zweigleisigen Aufstellanlage in der Winterbergstraße.
Eine Verbindung zwischen dieser und dem Endpunkt Seidnitz auf der Rennplatzstraße bestand zunächst nicht, vielmehr wurde die Schleifenanlage erst ein Jahr später vollendet, wie wir noch sehen werden. Das erklärt auch die Darstellung auf dem Detailplan von 1911, die ich nie so richtig deuten konnte. Damit wäre wieder einmal ein Mysterium der Dresdner Straßenbahngeschichte gelöst.
Blick in die Liebstädter Straße von der Bodenbacher Straße aus. Hier war der Ausgangspunkt der Stichstrecke, die ein Jahr später Teil der großen Rennbahnschleife wurde.
Ihre erste große Bewährungsprobe hatte die neue Stichstrecke bereits wenige Wochen später, denn am 4. September 1910 fand nichts weniger als die Europameisterschaft auf der neuen Radrennbahn statt.
Abschließend zu diesem Kapitel noch ein Blick auf die gut besuchte Radrennbahn mit der eindrucksvollen Haupttribüne. Heute befindet sich hier das Kraftwerk Reick, das das Gelände der Radrennbahn vollständig einnimmt.
Der Weg zur Schleife
Ende 1910 bestanden also zwei Stichstrecken zu den beiden nahe beieinander liegenden Rennbahnen, die über eine ähnliche Aufmachung verfügten: Es war jeweils eine längere zweigleisige Aufstellanlage für Sonderwagen am Ende einer Stichstrecke vorhanden. Diese Konstellation war natürlich alles andere als ideal. Zum einen war der Platz begrenzt, und es konnte nur eine Maximalzahl an Wagen abgefertigt werden, die bei Massenveranstaltungen mit mehreren Zehntausenden Zuschauern natürlich hinten und vorn nicht ausreichten und zu teils chaotischen Verkehrsverhältnissen führten. Dadurch war auch der Regelbetrieb der Linie 12 beeinträchtigt, schließlich musste diese ja auch noch den Seidnitzer Endpunkt andienen. Während die Veranstaltungen liefen, standen die Sonderwagen zudem nutzlos herum und konnten, wegen der Sackgassensituation, kaum rangiert werden.
Die Idee, die beiden Stichstrecken über die Winterbergstraße zu einer Schleife zu verbinden, lag also auf der Hand. Der Bau der eingleisigen Verbindung entlang der Winterbergstraße gestaltete sich problemlos. So konnten die „Dresdner Nachrichten“ am 7. Mai 1911 vermelden, nicht ohne auf die Vorzüge des neuen Betriebsregimes hinzuweisen:
Der tatsächliche Tag der Inbetriebnahme der großen Rennbahnschleife war also nachweislich der 7.5.1911.
Strecke nach Seidnitz und Rennbahnschleife, Stand 1911. An- und Abfahrt vollzogen sich jeweils gegen bzw. im Uhrzeigersinn. Dieses Betriebsregime blieb bis Anfang der 1930er Jahre unverändert, siehe auch die Übersichtsgrafik im nächsten Kapitel.
Am 21.Mai griffen die „Dresdner Nachrichten“ das Thema noch einmal auf. Die aussagekräftige Schilderung der vorherigen Zustände zeigt, welche Verbesserung im Verkehrsablauf mit der neuen Schleife eingetreten war.
Triebwagen 632 beschildert als Linie 12 mit weiblichem Personal während des Ersten Weltkriegs, um 1915. Offenbar wurde der Wagen zu Fotozwecken aus der Rennplatzstraße ums Eck rangiert, denn die Gasometer des Gaswerks Reick im Hintergrund beweisen eindeutig, dass das Foto auf der Winterbergstraße entstand. Die Rennbahnschleife wurde ob der noch weitgehend fehlenden Bebauung von der Städtischen Straßenbahn gern für Präsentationsfotografien genutzt.
Die Rennbahnschleife ist nur auf manchen Stadtplänen eingezeichnet. Bei Meinholds Plänen ist sie jedoch stets zu finden, hier die Ausgabe von 1914.
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