Zwar hatte ich vor einigen Jahren mich schon einmal mit diversen Vergleichsmotiven intensiv der Innenringlinie 4 im Deutschen Architekturforum gewidmet, doch zahlreiche neue Erkenntnisse, Dokumente und erschlossene Bildmotive lassen es geboten erscheinen, sich diesem besonders interessanten Kapitel der Dresdner Nahverkehrsgeschichte noch einmal zu widmen. Dabei konzentriere ich mich aber auf den Abschnitt im sogenannten „Amerikanischen Viertel“ hinter dem Hauptbahnhof, das in einer großen Schleifenfahrt über die Schnorrstraße durchquert wurde. Einiges wird sich daher mit den vorherigen Beiträgen doppeln, doch ich werde vor allem bislang wenig beleuchtete bzw. mir bis vor kurzem selbst nicht bekannte Aspekte in den Vordergrund stellen. Der Beitrag wird, auch wegen zahlreicher Originalquellen, diesmal etwas textlastiger als gewöhnlich, was ich zu entschuldigen bitte.
Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts galten in Dresden strenge Bauregularien, die eine geschlossene Blockrandbebauung in den neu zu erschließenden Vorstädten untersagten und hier eine stark durchgrünte, aufgelockerte Bebauung vorsahen. Dem allerdings stand das explosive Bevölkerungswachstum der Großstadt entgegen, so dass man in der Südvorstadt, oft auch als „Altstadt II“ bezeichnet, südlich der Böhmischen Bahn hiervon erstmals abwich. Während westlich der als Verlängerung der Prager Straße angelegten Reichsstraße noch Villen und sogenannte „Mietvillen“, eine Dresdner Spezialität, das Bild bestimmten, ging man östlich davon zu einer hohen geschlossenen Bebauung über, die aus heutiger Sich am besten mit den noch vorhandenen Straßenzügen der Anton- und nördlichen Johannstadt zu vergleichen ist.
Luftbild der Südvorstadt (gesüdet) aus den 1920er Jahren, Deutsche Fotothek. Markante Punkte habe ich nachträglich ergänzt. Gut erkennbar ist die hoch verdichtete städtebauliche Struktur des rot umstrichelten „Amerikanischen Viertels“ zwischen Bahndamm, Reichsstraße, Reichenbachstraße (im Süden) und Franklinstraße. Nur ein einziges Haus der geschlossenen Gründerzeitbebauung an der Uhlandstraße hat die schweren Kriegszerstörungen überlebt.
Die Nähe zu Ruß und Lärm der Eisenbahn und die dunklen, von hohen Mietshäusern gesäumten Straßenzüge ließen das neue Viertel nicht gerade zu einer bevorzugten Wohngegend der „besseren Schichten“ gedeihen - vielmehr siedelten sich hier zahlreiche Arbeiter- und Angestelltenfamilien an. Darüber hinaus allerdings wurde das Quartier dank der Bahnhofsnähe zum bevorzugten Wohnort zahlreicher in der Residenz ansässiger Ausländer insbesondere aus dem angelsächsischen Raum - nicht zuletzt deshalb errichtete man hier die Anglikanische All Saints Church an der Wiener Straße und unweit die Amerikanische Kirche St. John an der Bergstraße sowie die Schottisch-Presbyterianische Kirche an der Bismarckstraße - im Volksmund bekam das illustre Quartier daher bald den Namen „Amerikanisches Viertel“. Eine Begrifflichkeit, die heute im öffentlichen Sprachgebrauch weitgehend verschwunden ist.
Eine gewisse soziale Aufwertung brachte die Niederlassung zahlreicher Lehrer und Professoren der nahen Technischen Hochschule, und an der Ostbahnstraße südlich des Bahndamms siedelten sich neben Lebenskünstlern und allerlei zwielichtigen Etablissements, nicht selten Anlaufstellen für Klienten des horizontalen Gewerbes, auch zahlreiche richtige Künstler an, die den Vorteil des durch das Hauptbahnhofs-Vorfeld unverbaubaren Nordblicks aus ihren Ateliers in den Dachetagen genossen.
Verkehrlich erschlossen wurde die neue Südvorstadt erstmals ab 1882 durch die Verlängerung der vom Alaunplatz kommenden „Dreieckslinie“ der Tramways Company über die Reichs- zur Reichenbachstraße. Das „Amerikanische Viertel“ wurde jedoch zunächst noch links liegen gelassen und harrte noch einige Jahre auf eine eigene Verbindung in die Innenstadt.
Pferdebahnwagen der „Dreieckslinie“ der Tramways Company - hiermit begann die verkehrliche Erschließung der Südvorstadt.
Die neugegründete „Deutsche Straßenbahn-Gesellschaft“ sah hierin ein lukratives Betätigungsfeld und nutzte die Gelegenheit, um am 5. Oktober 1890 eine ihrer ersten Linien vom Theater- und Postplatz durch die Seevorstadt, die Wiener und Uhlandstraße zur Schnorrstraße zu eröffnen, die nur zwei Jahre später durch die Schnorrstraße selbst zur Franklinstraße weitergeführt werden konnte. Erleichtert wurde diese Streckenführung durch die gleichzeitig erfolgende Höherlegung der Böhmischen Bahn, die zunächst im Zuge der Uhlandstraße unterquert wurde.
Stadtplanausschnitt von 1896 mit der Pferdebahnlinie in ihrer endgültigen Ausdehnung. Bis 1892 endete sie in der Uhlandstraße unmittelbar an der Kreuzung mit der Schnorrstraße.
Versetzen wir uns zurück in das Jahr 1890. Am Eröffnungstag der Strecke, dem 5. Oktober 1890, erging sich der Schreiberling der „Dresdner Nachrichten“ in nahezu enthusiastischen Lobeshymnen auf das neue Verkehrsmittel. Zu solch einem gewichtigen Anlass gab es sogar schulfrei…
Dabei kamen auf der Linie Theaterplatz - Uhlandstraße solch wenig metropolitan anmutende winzige einspännige Vehikel zum Einsatz, das Brot-und-Butter-Material der Deutschen Straßenbahngesellschaft. Erkennbar waren die Wagen der Linie an einem weißen Stern auf dem Dach und gelbe Seiten- und Zielschilder.
In Vorbereitung der Elektrifizierung der Linie Theaterplatz - Schnorrstraße, die im Jahre 1905 die Liniennummer 4 erhalten sollte, wurde die Strecke ab Oktober 1899 aus der Sidonienstraße kommend in die unmittelbar anschließende Werderstraße, heute Andreas-Schubert-Straße, verlegt, und schon einen Monat später löste der Gleichstrom- den Hafermotor als Antriebsmittel ab.
Noch nicht einmal ein Jahr später erfolgte die Verlängerung vom bisherigen Endpunkt an der Ecke Schnorr-/Franklinstraße durch letztere zur Gellertstraße und weiter die Lennéstraße entlang und über die Johann-Georgen-Allee und Moritzstraße zum Neumarkt, nur einen Steinwurf vom Ausgangspunkt am Theaterplatz entfernt. Damit war jene bizarre Linienführung entstanden, die wir bereits im ersten Teil der „Ur- und Frühgeschichte“ der elektrischen Straßenbahn kennengelernt haben.
Wagen der Linie Theaterplatz - Schnorrstraße - Neumarkt der Deutschen Straßenbahngesellschaft in Dresden.
Auch nach Übernahme der Deutschen Straßenbahngesellschaft durch die Stadt Dresden 1905 änderte sich zunächst nichts an der merkwürdigen Linienführung der Möchtegern-Ringbahn. Erst die Linienreform am 1. Oktober 1909 erhob die Linie 4 zum geschlossenen „Inneren Ring“, wobei die Streckenführung allerdings eher einer mit zahlreichen abrupten Richtungsänderungen gesegneten deformierten Acht denn einem wirklichen Kreis glich. Neben der alten „4“ wurden dabei auch Streckenabschnitte der vorherigen Linien 10 und 25 eingearbeitet. Zahlreiche Spielstätten der leichteren und schweren Muse passierte die eiernde „Rundbahn“ und erhielt daher im Volksmund sogleich die Bezeichnung „Theaterlinie“.
Schema der Zusammensetzung der Inneren Ringlinie 4 ab 1909. Beachtenswert ist, dass mit der Linie 25, der vormaligen „Briefchenlinie“, eine ex-„gelbe“ Verbindung in der neuen Linie aufging, die mit gerader Nummer traditionell weiterhin mit roten Wagen verkehrte.
Stadtplanausschnitt von 1914 mit der seit 1909 als Vollring betriebenen Linie 4 über die Schnorrstraße.
Die Linie 4 im „Handbuch für den Dresdner Orts- und Straßenbahnverkehr“ von 1911. Es gibt einen Überblick über die genaue Streckenführung nach Straßen, die tariflichen Teilzonen und - besonders wertvoll für den Hobby-Verkehrs- und Stadthistoriker - die zahlreichen Haltestellen, die bis Ende des I. Weltkrieges quasi an jeder Querstraße lagen.
Ohne die merkwürdige Zick-Zack-Linienführung parallel zur Prager Straße ist die Schleife durch das Amerikanische Viertel nicht vorstellbar. Folgen wir also der Linie 4 von ihrem Abzweig in die Victoriastraße durch die Seevorstadt bis zur Schnorrstraße und weiter die Franklinstraße entlang bis zu ihrer Einmündung in den zwischenzeitlich entstandenen Straßenbahn-Stadtring an der Kreuzung Gellert-/ und Wiener Straße, was insofern besonders eindrucksvoll und bedrückend zugleich werden wird, als nahezu sämtliche Gebäude entlang der Route heute nicht mehr auffindbar sind. Nur die alten Straßenzüge und das Pflaster, das hin und wieder sogar die Gleislage der 1923 endgültig stillgelegten Streckenführung verrät, sind noch hin und wieder sichtbar…
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Noch vor der Elektrifizierung 1899 blicken wir aus der Victoriastraße auf den Abzweig der Linie zur Uhlandstraße vom Ring und den (alten) Güntzplatz. Die 1897 bis auf den Turm und die Umfassungsmauern durch einen verheerenden Großbrand zerstörte Kreuzkirche im Hintergrund befindet sich gerade im fortgeschrittenen Wiederaufbau, wie das frisch gedeckte Kupferdach und die Baustellenabsperrungen beweisen. Dabei hat man das äußerlich weitestgehend im Vorzustand rekonstruierte Bauwerk um einige Jugendstilzutaten ergänzt, wie die Kutschunterfahrt am Südportal oder den eigenwilligen Schornstein - beides ist heute nicht mehr vorhanden. Gleiches gilt für die Bebauung zur rechten, die bald dem Neuen Rathaus weichen muss.
Um 1810 ist die ehemalige Pferdebahnlinie bereits zur Innenringlinie 4 mutiert und vor der Kreuzkirche wurde der Güntzplatz mit der Landstädtischen Bank und der neuen Superintendentur überbaut. Etwa in Bildmitte kreuzt parallel zur Ringstraße die Waisenhausstraße. Der Triebwagen wird in Bälde den Postplatz erreichen und in etwa einer dreiviertel Stunde wieder an derselben Stelle vorbeikommen.
Der Fahrplan der inneren Ringlinie von 1910. Man beachte die unglaublich dichte Wagenfolge…
Wenige Meter weiter südlich erreichen wir den Ferdinandplatz. Zwei Blicke durch die Victoriastraße auf das Neue Rathaus aus fast identischer Perspektive verraten den Baufortschritt um 1907/08. Der mächtige Dachreiter über dem Südflügel wäre auf jeden Fall ein Rekonstruktionskandidat… Auf beiden Bildern ist ein in Richtung Schnorrstraße fahrender Wagen der Linie 4 zu erkennen.
Etwa 1906 trägt der sichtbare Triebwagen noch seine alte „rote“ Wagennummer, und die Ziffernscheiben auf dem Dach sind noch brandneu. Der Gänsediebbrunnen (Robert Diez und Paul Weidner) wurde 1961 vom enttrümmerten Ferdinandplatz in die Weiße Gasse versetzt.
Die nordwestliche Platzseite des kreisrund ausgeführten Ferdinandplatzes trennte Ferdinand- und Victoriastraße. Heute würde man exakt an jener Stelle auf die Rückseite des „Florentinums“ schauen.
Um 1906 hat es einen der kleinen Triebwagen von 1893 auf die Innenringlinie verschlagen. Er befindet sich hier auf der Struvestraße in Höhe der Christianstraße, die in etwa der um ein Vielfaches breiteren Sankt-Petersburger Straße entspricht, und wird gleich mit flottem Schwung den aufgrund der Enge der Kurve weit ausholenden Gleisbogen in die Victoriastraße in Angriff nehmen. Heute befänden wir uns genau hier auf dem von illustren Gestalten bevölkerten Vorplatz des Ufa-Kristallpalastes.
Die Zickzackfahrt durch die Seevorstadt ergab sich zwangsläufig, da die Prager Straße 1890 bereits durch die englische Konkurrenz in Beschlag genommen war und es keine geradlinige Parallelstraße zur Prager gab - dafür aber ein Mitte des 19. Jahrhunderts angelegtes rasterförmiges Straßensystem rund um den heute nicht mehr existierenden Moltkeplatz. Von diesem Netz sind heute östlich der Prager Straße zumindest noch Rudimente vorhanden, die allerdings von gesichtslosen industriellen Bauten aus den 1960er Jahren, Wäscheplatzen und viel Begleitgrün gesäumt werden - wir befinden uns mitten in der Totalzerstörungszone des Stadtkerns. Welch ein Unterschied zum Vorzerstörungszustand: Wir sehen die Gleislage der Innenringlinie auf der Struvestraße beim Überqueren des Moltkeplatzes inmitten einer geschmackvollen Zeilenbebauung aus den 1850er und 1860er Jahren, die architekturgeschichtlich wohl als spätklassizistisch eingeordnet werden kann. Leider ist gerade kein Straßenbahnwagen in Sicht.
Nach drei weiteren abrupten Richtungsänderungen erreichte die Linie 4 den Stadtring, kreuzte, aus der Sidonienstraße kommend, die Linie 26 und fuhr in die Werderstraße, die heutige Andreas-Schubert-Straße, ein. Dabei passierte sie die schon in der „Ur- und Frühgeschichte“ gezeigte Anglikanische All Saints Church, errichtet 1868/69 in sehr englisch anmutender Neugotik - auf dass sich die in der sächsischen Haupt- und Residenzstadt zahlreich vertretenen Untertanen Queen Victorias sich hier so richtig heimisch fühlen konnten. Das mächtige Gebäude dahinter beherbergte ab 1893 die Direktion der Königlich-Sächsischen Staats-Eisenbahn und besaß südlich des östlichen Hauptbahnhof-Vorfeldes ein Pendant an der Strehlener Straße. Im Hintergrund erkennen wir den Wiener Platz.
An dieser Stelle unternehmen wir einen kleinen Exkurs in die Pferdebahnzeit. Die Linie Theaterplatz - Uhlandstraße (- Schnorrstraße) bog an der Englischen Kirche bis 1899 auf die Wiener Straße zunächst nach Osten ein und erreichte dann die Schnorrstraße geradewegs über die Uhlandstraße, die mittels einer sehr eleganten Unterführung unter der zu Beginn der 1890er Jahre hochgelegten Böhmischen Bahn hindurchgeführt wurde. Sächsische Länderbahnherrlichkeit der Jahrhundertwende verströmt das sächsische Rollmaterial auf der Brücke, und wir erkennen sogar das Straßenschild der Ostbahnstraße am Brückenwiderlager.
Partie am heute verschwundenen Lindenauplatz, der „grünen Lunge“ (oder vielmehr dem grünen Lüngchen) des bis zur Zerstörung eng bebauten Viertels. Die winzige Platzanlage war, abgesehen vom Bismarckplatz am Hauptbahnhof, die einzige bepflanzte Oase inmitten des steinernen Häusermeeres des Amerikanischen Viertels. Zur Einordnung: Der Straßenbahnwagen ist auf Linie 26 auf der Strehlener Straße unterwegs, rechts die zum Aufnahmezeitpunkt seit wenigen Jahren gleislose Uhlandstraße, für 9 Jahre Heimat der Pferdebahnlinie. Im Hintergrund des rechten Bildrands ist die Unterführung der Uhlandstraße durch die Eisenbahnanlagen nur zu erahnen.
Wir springen zurück zur Werderstraße entlang der neuen Streckenführung der großen Schleife durch das Amerikanische Viertel. Im Vordergrund angeschnitten der noch heute vorhandene große Straßentunnel, links die illustre Ostbahnstraße hinter dem südlichen Bahndirektionsgebäude. Man beachte die zahlreichen für den Vorortverkehr bereitstehenden Abteilwagen der Staatsbahn und natürlich das eindrucksvolle Stellwerk.
An der Strehlener Straße gab es eine der zahllosen Gelegenheiten in Bahnhofsnähe für den müden Reisenden, sich gleich nach Ankunft in Dresden zur Ruhe zu betten, bevor er sich ins Abenteuer der nächtlichen Ostbahnstraße stürzte. Rechts die Strehlener, links die Werderstraße, in der wir direkt an der Kreuzung das Schild der Haltestelle „Strehlener/Werderstraße“ der Linie 4 erkennen.
Dieselbe Kreuzung in südliche Richtung geschaut. Kaum erkennbar sind die Schienen der kreuzenden Linie 26 (ab 1909 Linie5) in der Strehlener Straße, dafür aber umso besser das Doppelgleis der Linie 4. Im Hintergrund erkennen wir schemenhaft die Lukaskirche mit ihrem hohen Turmhelm, dessen Rekonstruktion angestrebt wird.
An der Schnorrstraße Ecke Werderstraße lassen sich noch heute Spuren der Gleisführung im alten Straßenpflaster erkennen. Für Dresdner Vorkriegsverhältnisse war der Mittelteil der Schnorrstraße im Amerikanischen Viertel wenig einladend: Hohe, stattliche Gründerzeithäuser säumten die recht enge und dunkle Straße, und den Blick auf erbauliches Grün konnte man allenfalls auf dem einen oder anderen Balkon erhaschen. Dass sich die Pension an der Ecke „Victoria“ nannte war kein Zufall: Das Viertel trug ja nicht umsonst seinen Namen, war es doch wie angesprochen allseits beliebt bei anglophonen Muttersprachlern dies- und jenseits des Atlantik…
Wir befinden uns nun mitten auf der Schnorrstraße zwischen Uhland- und Gutzkowstraße. Man muss den Künstlern des Münchner Verlages Braun und Co. zugutehalten, dass sie den hineinretuschierten Dresdner Straßenbahnwagen sehr gut getroffen haben. Leider haben sie aber vergessen, nach gründlicher Überarbeitung der Fotovorlage das Doppelgleis nachzuzeichnen. Nein, es handelt sich nicht um Dresdens erste Obuslinie…
Am östlichen Eck der Schleifenfahrt blicken wir die Schnorrstraße entlang in westliche Richtung über die Kreuzung mit der Franklinstraße, wo das Doppelgleis weit ausholt, um die enge Kurve zu meistern. Ab hier wurde die Bebauung lichter und wir sehen sogar wieder Bäume. Ein Triebwagen der Linie 4 ist gerade in Richtung Werderstraße unterwegs.
Die Franklinstraße trennte die geschlossene Bebauung des Amerikanischen Viertels von der von lockeren Villen und Mietvillen dominierten durchgrünten östlichen Südvorstadt, die nahtlos in die 1890 eingemeindete Vorstadt Strehlen überging. In den 1930er Jahren liegen auf der Franklinstraße in Höhe Ostbahnstraße noch die Gleise, doch die Oberleitung ist schon lange verschwunden. Links wiederum die Ostbahnstraße, zur linken gesäumt vom hohen Bahndamm in Richtung Strehlen, der auf dem Bild nicht sichtbar ist.
An der Wiener/Ecke Gellertstraße stieß die Schnorrstraßen-Schleife wieder auf den 26er Ring, dessen Kurve wir am linken Bildrand erkennen können. Im Vordergrund die Gellertstraße, die an der Bahnunterführung zur Franklinstraße mutiert, mit den Gleisen der Linie 4.
Zum Abschluss der bildlichen Reise ein Ausschnitt aus dem stilisierten Liniennetzplan von 1911. Damals verkehrte auf dem 26er Ring neben der namensgebenden Rundbahn noch die Linie 23, zu denen sich an der Gellertstraße die Linie 4 gesellte. Da der 26er Ring als Kreis dargestellt ist, entspricht die Situation an jener Stelle nicht der tatsächlichen Geografie.
Zwei Wagen der Ringlinie 4, ab 1909. Triebwagen 761 gehört heute zur Sammlung des Verkehrsmuseums und hält mit seiner (allerdings nachgebildeten) Beschilderung als Ringlinie 4 das Andenken an dieses kurze, aber prägnante Kapitel Dresdner Verkehrsgeschichte fest. Es war damals durchaus, wenn auch selten, üblich, ehemals „gelbe“ Fahrzeuge in rot umzulackieren, wenn sie für den Einsatz auf einer geraden Linie benötigt wurden, auch umgekehrte Fälle gab es. Erst im Ersten Weltkrieg begann sich die strikte farbliche Trennung gerader und ungerader Linien langsam aufzulösen.
Keine acht Jahre verkehrte die Linie 4 in ihrer neuen Konfiguration, dann wurde sie eines der ersten Opfer der kriegsbedingten Einsparungen ab 1917. Die „Dresdner Nachrichten“ vom 12. Februar 1917 verkündeten das Ende mit dem lapidaren Satz: „Diese Linie wird vollständig außer Betrieb gesetzt.“, neben anderen ab 1. März gültigen Grausamkeiten. Nach anderen Unterlagen soll die Linie 4 bereits am 17. Februar 1917 verschwunden sein.
Angesichts der folgenden, am 7. März ebenfalls in den „Dresdner Nachrichten“ erfolgten Veröffentlichung scheint der frühere Zeitpunkt plausibel, denn mittlerweile schien sich in der Südvorstadt eine formidable Opposition zusammengerottet zu haben. Interessant in der Argumentationskette der Stilllegungsgegner erscheint der besondere Fokus auf Freizeitaktivitäten - die volkstümliche Bezeichnung „Theaterlinie“ trug die „4“ offenbar nicht zu Unrecht. Immerhin: Damals demonstrierte man noch für die Straßenbahn, und nicht gegen sie…
Für den 27. April 1920 hatten die „DN“ nach über drei Jahren endlich frohe Kunde für die gebeutelten Südvorstädter: Die Linie 4 verkehrte wieder! Allerdings nicht für lange, denn fast genau ein Vierteljahr später, genau am 25. Juli 1920, segnete die Innenringlinie endgültig das Zeitliche. Gleise und Oberleitung blieben jedoch zunächst liegen, man weiß ja nie… Außerdem wurde der Fahrdraht des Abschnittes durch die Seevorstadt noch als Speiseleitung für den 26er Ring benötigt, so dass zumindest hier in den 1920er Jahren sogar noch Leitungsreparaturen erfolgten…
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Und doch sollte die Straßenbahn noch einmal kurzzeitig auf die Schnorrstraße zurückkehren, denn die Proteststimmen rissen nicht ab. Hierfür sah man die Linie 10 aus Übigau vor, die quasi als Sparvariante vom Hauptbahnhof kommend die Schleife gegen den Uhrzeigersinn befahren sollte. Dies war jedoch nicht ohne weiteres möglich, denn es fehlten noch gewisse bauliche Voraussetzungen, wie die DN am 16. April 1922 vermeldeten - übrigens neben der traurigen Nachricht, dass die Linie 18 vom Terrassenufer verschwinden musste. Die Arbeiten schienen sich hingezogen zu haben, denn erst ab 8. August 1922 konnte die Linie 10 endlich auf ihrer neuen Streckenführung verkehren. Der Abschnitt der alten „4“ in der Seevorstadt blieb dauerhaft stillgelegt.
Wagen der Linie 10 zur Schnorrstraße als Grafik. Sowohl der Fahrzeugeinsatz wie auch die Beschilderung sind hypothetische Rekonstruktionen, denn mir ist bislang noch nicht ein Foto der Linie 10 in der Linienführung über Schnorrstraße untergekommen.
Dass es sie aber tatsächlich so gegeben hat, beweist u.a. der Eintrag im „Verzeichnis der Straßen und Plätze in der Stadt Dresden“ von 1922.
Anstatt sich jedoch bescheiden darüber zu freuen, dass die Städtische Straßenbahn sich in ihrer unendlichen Großmut dazu herabgelassen hatte, den Klagen der Anwohner des Amerikanischen Viertels zumindest in Teilen zu entsprechen, muckten diese Querulanten jedoch wieder auf. Diesmal gab die Lage der zugegebener Maßen sehr spärlich gesetzten Haltestellen Anlass zur Revolte. Die „DN“ vom 15. August 1922 wissen zu berichten:
Im schematischen Netzplan kann man sich die Lage der Haltestellen wie folgt rekonstruieren - insbesondere der fehlende Übergang zur zweimal gekreuzten „5“ scheint nun wahrlich wenig durchdacht:
Am 5. Oktober 1922 findet man folgende Notiz in den DN - nach zwei Monaten sah sich die Städtische Straßenbahnverwaltung dann doch genötigt, den Anwohnern entgegen zu kommen:
Trotz ihrer sehr kurzen Existenz schaffte es die Schnorrstraßen-10 sogar auf einige Stadtpläne.
Irgend jemand bei der Straßenbahnverwaltung muss jedoch besonders nachtragend gewesen sein, denn im Rahmen der inflationsbedingten allgemeinen Sparmaßnahmen ab 8. Mai 1923 ließ man die Strecke schließlich endgültig über die Klinge springen. So vermeldeten die „DN“ am 6. Mai:
Wegen „zu schwachen Verkehrs“ - der saß! Faktisch bedeutete dies, dass die dicht besiedelte südliche Südvorstadt nunmehr für einige Jahre völlig vom Nahverkehr entkoppelt war.
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Und doch gab es ein weiteres Nachspiel. Auch wenn Kraftomnibusse in den Augen mancher heutigen Zeitgenossen per se ganz doll böse und gar kein richtiges Verkehrsmittel und überhaupt pfui sind: Die Anwohner der Schnorrstraße werden wohl kaum sonderlich traurig gestimmt gewesen sein, als die nunmehrige Dresdner Straßenbahn AG am 12. Juli 1933 eine neue KOM-Linie „D“ mit folgender Streckenführung in Betrieb nahm:
Postplatz - Marienstraße - Dippoldiswaldaer Platz - Waisenhausstraße - Wiener Platz - Bismarckplatz - Reichsstraße - Schnorrstraße - Ackermannstraße - Reichenbachstraße - Teplitzer Straße - Dohnaer Straße - Lockwitz, Unterer Gasthof In der Gegenrichtung Gegenrichtung ging es ab Teplitzer Straße über Strehlener Platz - Ackermannstraße, wenig später von der Schnorrstraße landwärts über Franklinstraße - Reichenbachstraße zur Ackermannstraße. Damit gab es sogar wieder eine Anbindung in das Vergnügungsviertel an der Prager Straße - und man konnte wieder bei Wind und Wetter ins Theater.
Hier die Linie D im stilisierten Liniennetzplan von 1934, für gewisse Platzbezeichnungen kann der Autor leider nichts und sie gehören zur historischen Wahrheit:
Im Fahrzeiten- und Haltestellenverzeichnis der Dresdner Straßenbahn 1934 fand die Linie D bereits Berücksichtigung:
Zum Einsatz kamen i.d.R. die großen Büssing-Dreiachser verschiedener Typen und Baujahre. Wagen 70 gehört zu einer größeren Serie des Typs Büssing VI GLn/80 mit Aufbauten der Firma Falkenried. Nicht zu Unrecht hießen sie daher im Straßenbahnerjargon „die Hamburger“, denn sie wurden ursprünglich 1930 für die Hochbahn gebaut und gelangten 1933/34 noch ungenutzt nach Dresden.
Am 6. Oktober 1941 verschwanden die Omnibusse wiederum nach acht Jahren kriegsbedingt von der Schnorrstraße. Dreieinhalb Jahre später wurde das Gebiet so umfassend zerstört, dass sich die Frage nach einer neuerlichen nahverkehrlichen Erschließung bis heute nicht gestellt hat. Da seit 1949 die Straßenbahn auch aus der Strehlener Straße verschwunden ist, ist das Amerikanische Viertel heute gleisfrei. Nur die Buslinie 66 quert sie in Nachfolge der Vorkriegslinie D, allerdings im Zuge der ehemaligen Straßenbahnstrecke eben über besagte Strehlener Straße am Rande.
Schönen Abend!
Edit: Zeitungsartikel getauscht/korrigiert
1-mal bearbeitet. Zuletzt am 2020:11:11:20:16:56.