Hallo,
Knarzend ließ sich die etwas verzogene Tür zum Archivschrank im Straßenbahnmuseum öffnen. Ich war auf der Suche nach irgend Etwas und musste dazu einige Objekte entnehmen.
Wie das so ist, sammelt sich auf dem obenliegenden Ordnern meistens Staub an. Also schnell vom Schrank weggedreht und? Nein, nicht wie vielleicht gedacht, sondern erst zum Fenster geeilt, dies geöffnet und den Staub hinausgeblasen.
Darunter fand sich auf dem Aktendeckel ein in Ehren ergrautes Etikett mit der Aufschrift „Gleismeßfahrzeug“. Der Titel klang interessant und somit schnell den Ordner mal aufgeklappt.
Darin fanden sich eine Reihe sehenswerter Briefköpfe und viel vergilbts Papier.
Der Trend der heutigen Zeit heißt Digitalisierung – alles, immer und überall. Also dachte ich mir gehe ich mal ein Stück mit dem Zeitgeist und scannte die Akte ein.
1. Ausgangslage
Regelmäßige Gleiskontrollen dienten und dienen der Erkennung von Verschleißerscheinungen sowie möglichen Schäden und somit als Anzeiger für die Planung der Instandhaltung.
Für derartige Kontrollen stehen diverse Hilfsmittel von der einfachen Lehre bis zum präzisen Messgerät zur Verfügung.
In den 1960er Jahren war man zunächst bei den Berliner Verkehrs-Betrieben bemüht die Gleismessungen zu mechanisieren und vor allen mit weniger Personal zu beschleunigen.
Die Lösung sollte die Entwicklung eines Gleismesswagens für das Straßenbahnnetz bringen.
Der folgende Beitrag soll einmal die Entstehungsgeschichte der Gleismesswagen für die DDR-Verkehrsbetriebe und speziell die Bemühungen des VEB Nahverkehr Karl-Marx-Stadt zum geplanten Erwerb eines solchen Fahrzeuges sowie der letztendlichen Realität beleuchten.
2. Entwicklung/Planung/Produktion
Wie aus den nachfolgenden Dokumenten hervorgeht, bildete man zunächst eine Sozialistische Arbeits-Gemeinschaft, welche 1963/64 die Arbeit aufnahm. Bis 1967 war man offenbar mit der konstruktiven Durcharbeitung fertig und seit längerem bemüht ein erstes Fahrzeug zu bauen.
Dies gelang der Berliner Verkehrsbetrieben jedoch nicht.
In der Sozialistischen Arbeits-Gemeinschaft war auch ein Mitarbeiter der Deutschen Reichsbahn von der Versuchs- und Entwicklungsstelle für den Oberbau, Brücken- und Hochbau Magdeburg (VES-A) vertreten.
Nachdem sich abzeichnete, dass der Bau des geplanten Gleismessfahrzeuges durch den Straßenbahnbetrieb nicht möglich ist, tat dieser kund, dass auch die Deutsche Reichsbahn ein derartiges Gleismessfahrzeug bis 1966 entwickelt hätte und dieses ggf. mit Anpassungen auch auf Straßenbahnnetzen eingesetzt werden könnte.
Offenbar war nach vier Jahren eigener Entwicklung des Verkehrsbetriebes plötzlich die Möglichkeit gegeben das Gewünschte zu beziehen. In einem Anschreiben an die geeigneten DDR-Verkehrsbetriebe wurde die Kunde hiervon verbreitet.
Ein erster unverbindlicher Bezugspreis wurde mit ca. 140 TMDN (MDN = Mark der Deutschen Notenbank Berlin [Hauptstadt der DDR]) genannt.
Bild 1: Anschreiben der Berliner Verkehrs-Betriebe (BVG) an den VEB Nahverkehr Karl-Marx-Stadt vom 7. Januar 1967.
Interessant sicherlich auch die handschriftlichen Randnotizen seitens des Betriebsdirektors (rot) sowie der nachgeordneten Abteilungen (grün und blau).
Dem Anschreiben lagen auch zwei Anlagen mit Foto und Datenblatt bei.
Somit war es für die Entscheidungsträger in den Verkehrsbetrieben möglich, sich einen ersten Überblick bezüglich des von der Deutschen Reichsbahn entwickelten Gleismessfahrzeuges zu verschaffen.
Bild 2: Ansicht des ersten Gleismessfahrzeuges (GMF), aufgenommen 1966 im RAW Schöneweide. Im Hintergrund die Umgrenzungsmauer sowie ein Gleis mit Stromschiene und Fahrleitung.
Bild 3: Technische Daten des Gleismessfahrzeuges (GMF).
Schauen wir nun einmal auf die Entscheidungsfindungen im VEB Nahverkehr Karl-Marx-Stadt zwischen 1967 bis 1968.
Am 9. Februar 1967 teilte der Leiter der Abteilung Gleisbau dem Technischen Direktor des VEB Nahverkehr Karl-Marx-Stadt mit (Abt. 112) schriftlich mit, dass er an einer Beschaffung eines Gleismessfahrzeuges interessiert ist.
Bild 4: Schreiben des Leiters der Abteilung Gleisbau an den technischen Direktor des VEB NVK vom 9. Februar 1967.
Noch am selben Tage wurde ein Anschreiben an die Berliner Verkehrs-Betriebe verfasst und der Bedarf von einem Fahrzeug angemeldet.
Geplant war zu diesem Zeitpunkt ein Bezug im Jahre 1969.
Bild 5: Anschreiben des VEB Nahverkehr Karl-Marx-Stadt an die Berliner Verkehrs-Betriebe vom 9. Februar 1967.
Um ein neues Gleisfahrzeug zu beziehen bedurfte es natürlich auch einen Geldgeber, welcher über das Vorhaben zunächst einmal in Kenntnis gesetzt werden muss.
Im Falle Karl-Marx-Stadt war dies der Rat der Stadt Hauptplanträger Stadtzentrum/Rekonstruktion Straßenbahn. Mit Anschreiben vom 16. Februar 1967 erhielten die Entscheidungsträger Kenntnis vom geplanten Vorhaben.
Bild 6: Anschreiben des VEB Nahverkehr Karl-Marx-Stadt an den Rat der Stadt Hauptplanträger Stadtzentrum/Rekonstruktion Straßenbahn vom 16. Februar 1967.
Nachdem das Anschreiben seinen Empfänger erreicht hatte, begann dort sicherlich erst einmal die Suche nach Gründen weshalb das so nicht geht.
Schließlich fand man einen Grund in der geplanten Auflistung an geplanten Sonderfahrzeugen für die Regelspur von 1960 und teilte dies mit Schreiben vom 24. April 1967 dem VEB Nahverkehr Karl-Marx-Stadt mit.
Das saß erst einmal und der Ball war nun wieder beim Antragsteller.
Wie die handschriftliche Bemerkung von Betriebsdirektor Plettner feststellt, sollte zunächst geprüft werden, ob ggf. auf ein anderes Spezialfahrzeug verzichtet werden kann.
Bild 7: Anschreiben des Rates der Stadt Karl-Marx-Stadt Hauptplanträger Stadtzentrum/Rekonstruktion Straßenbahn an den VEB Nahverkehr Karl-Marx-Stadt vom 24. April 1967.
Bereits am 27. April 1967 wurde das passende Antwortschreiben verfasst. Hierin wurden nochmals die Gründe für das Nichtvorhandensein eines Gleismesswagens in den Planungen von 1960 und in der Ministerratsvorlage von 1963 dargelegt.
So ist das halt mit neu entwickelten Einrichtungen. Um Aufnahme in die Planung für das Jahr 1969 wurde erneut ersucht.
Es stellt sich natürlich auch die Frage, was wurde in den Jahren 1960 und 1963 durch Verkehrsbetrieb an Spezialfahrzeugen vorgesehen? Auch hierfür kann eine entsprechende Quelle zitiert werden.
Bild 8a: Auszug aus der Ministerratsvorlage für die Umspurung im Jahre 1963 mit ausgewiesenen schienengebundenen Spezialfahrzeugen.
Bild 8: Antwortschreiben des VEB Nahverkehr Karl-Marx-Stadt an den Rat der Stadt Hauptplanträger Stadtzentrum/Rekonstruktion Straßenbahn vom 27. April 1967.
Bis Oktober 1967 sollte jetzt erst einmal Ruhe einkehren. Dann traf das nächste Anschreiben beim VEB Nahverkehr Karl-Marx-Stadt bezüglich des Gleismessfahrzeuges ein.
Absender waren diesmal wieder die Berliner Verkehrs-Betriebe. Zwischenzeitlich schien man auf den Boden der Tatsachen zurückgekehrt zu sein, denn es wurde nur noch von drei Gleismessfahrzeugen für die geeigneten DDR-Verkehrsbetriebe gesprochen.
Als Anlage das Protokoll einer Beratung zum Gleismessfahrzeug vom 19. September 1967.
Der Preis für ein Gleismessfahrzeug war jetzt auf 160 TMDN geklettert. Wie die roten Anmerkungen verraten, lehnte man den Vorschlag ab, ein Fahrzeug gemeinsam mit den Verkehrsbetrieben Dresden zu nutzen.
Bild 9: Anschreiben der Berliner Verkehrs-Betriebe vom 2. Oktober 1967 bezüglich der Beschaffung eines Gleismessfahrzeuges.
Bild 10: Als Anlage zum Anschreiben vom 2. Oktober 1967 war der Bericht zu der am 19.09.1967 stattgefundenen Besprechung über das FE-Thema (Forschung- und Entwicklungs-Thema) „Gleismesswagen“ mit im Umschlag.
Man beachte die roten (Karl-Marx-Städter) Markierungen.
Am 12. Oktober 1967 lag erneut ein Brief von den Berliner Verkehrs-Betrieben im Briefkasten des VEB Nahverkehr Karl-Marx-Stadt.
Es wurde nochmals auf das Protokoll der Beratung vom September 1967 verwiesen. Offenbar gab es wohl im Hintergrund Abstimmungen bezüglich eines eigenen Gleismesswagens für Karl-Marx-Stadt, wie der letzte Absatz vermuten lässt.
Bild 11: Anschreiben der Berliner Verkehrs-Betriebe an den VEB Nahverkehr Karl-Marx-Stadt vom 12. Oktober 1967.
Innerbetrieblich lief jetzt wieder die eigene Maschinerie beim VEB Nahverkehr Karl-Marx-Stadt an. Zunächst galt es eine endgültige Stellungnahme zum Thema zu verfassen.
Bild 12: Handschriftliche Aufforderung vom 23. Oktober 1967 eine endgültige Stellungnahme zum Thema Gleismesswagen zu verfassen.
In den folgenden Tagen befasste man sich beim VEB Nahverkehr erneut mit dem Thema Gleismesswagen. Hierbei wurden auch ökonomische Aspekte beleuchtet.
Der Technische Direktor kam schließlich zu der Erkenntnis, dass es sinnvoller wäre, dass ein derartiges Fahrzeug von den Verkehrsbetrieben Dresden beschafft und aktiviert werden sollte. Über eine gemeinsame Nutzung wäre ein Vertag abzuschließen.
Der Schachzug dahinter liegt sicherlich darin, dass die Kosten zur Beschaffung und Unterhaltung nicht dauerhaft dem VEB Nahverkehr obliegen und die Anlagebilanz nicht belastet wird.
Bild 13: Notiz des Technischen Direktors zum Thema Gleismesswagen vom 7. November 1967.
Mit Anschreiben vom 10.11.1967 wurde den Berliner Verkehrs-Betrieben mitgeteilt, dass man seitens des VEB Nahverkehr Karl-Marx-Stadt nun doch bereit ist einen Gleismesswagen gemeinsam mit den Dresdner Verkehrsbetrieben zu nutzen.
Bild 14: Anschreiben des VEB Nahverkehr Karl-Marx-Stadt an die Berliner Verkehrs-Betriebe bezüglich gemeinsamer Nutzung eines Gleismesswagen mit den Dresdner Verkehrsbetrieben vom 10. November 1967.
Innerbetrieblich wurde der Verzicht auf einen eigenen Gleismesswagen in einem Aktenvermerk vom 10.11.1967 festgehalten.
Bild 15: Innerbetrieblicher Aktenvermerk zum Verzicht auf die Anschaffung eines eigenen Gleismesswagens vom 10. November 1967.
Während man mit Anschreiben vom 27.September 1967 bei den Berliner Verkehrs-Betrieben die Bestellung für den Gleismesswagen auslöste, wurde diese am 10. November 1967 zurückgenommen, wie der handschriftliche Vermerk belegt.
Bild 16: Anschreiben an die Berliner Verkehrs-Betriebe vom 27. September 1967 zwecks Bestellung eines Gleismesswagens mit der Randnotiz, dass diese Bestellung per 10. November 1967 als erledigt zu betrachten ist.
Auch dem örtlichen Planungsträger wurde der Verzicht des VEB Nahverkehr Karl-Marx-Stadt auf einen eigenen Gleismesswagen mitgeteilt.
Bild 17: Anschreiben an den Generalinvestor (Karl-Marx-Stadt) über den Verzicht auf einen eigenen Gleismesswagen vom 9. April 1968.
1970 wurden im RAW „Einheit“ Leipzig schließlich drei Gleismesswagen für die DDR-Verkehrsbetriebe gebaut:
Abw 5600 (Leipzig),
Abw 729 037-6 (Berlin)
Abw 721 501, heute 251 101-5 (Dresden).
Die Wagen erhielten einen geänderten Wagenkasten (2,20m Breite) als jene der Deutschen Reichsbahn.
Im Jahr 2019 sind alle drei Fahrzeuge in den jeweiligen historischen Fahrzeugsammlungen noch vorhanden.
Gleismessfahrzeug Berlin
Gleismessfahrzeug Dresden
Gleismessfahrzeug Leipzig
Bild 18: Bildlinks zu den drei gebauten Gleismessfahrzeugen (GMF) für die Verkehrsbetreibe der DDR.
1973 fand eine letzte Arbeitstagung des AA „Gleismessfahrzeug“ im Dresdner Betriebshof Waltherstraße statt.
Hierbei ging es vorrangig um die Themen Schleifleisten zum Messen der Gleiskrümmung, das äußerst brisante Thema Ersatzteilbeschaffung und Instandhaltung sowie verschiedene weitere Komplexpunkte.
Bild 19: Niederschrift über die Arbeitstagung des AA „Gleismesswagen“ am 11.12.1973 in Dresden, Straßenbahnhof Waltherstraße.
3. Resümee
Nach mehrjähriger Entwicklungsarbeit gelang es zwischen 1963 bis 1970 ein Gleismessfahrzeug für den Straßenbahneinsatz zu konstruieren, in die Planung aufzunehmen und letztendlich in drei Exemplaren für die DDR-Verkehrsbetriebe auch zu bauen.
Das ursprüngliche Vorhaben des VEB Nahverkehr Karl-Marx-Stadt ein solches Fahrzeug letztlich sein Eigen zu nennen musste im Laufe des Jahres 1967 aufgegeben werden. Damit ist die Geschichte aber noch nicht zu Ende.
Die weiteren Lösungsansätze und die Realisierung bezüglich eines Gleismesswagens für den VEB Nahverkehr Karl-Marx-Stadt bleiben einem späteren Beitrag vorbehalten.
MfG.
Blaulicht
1-mal bearbeitet. Zuletzt am 2019:12:01:19:02:37.