Einer der interessantesten Straßenbahnbetriebe, die ich bislang kennen lernen durfte, befindet sich im ehemaligen Montanrevier südlich der belgischen Hauptstadt, in Charleroi. Die Stadt dürfte zu denen gehören, deren Schönheit galant umschrieben "erst auf den zweiten Blick" zu finden ist, oder man sagt, sie seien was "für Kenner". Nicht, dass ich mich als solcher bezeichnen würde, aber gerade solche Gegenden finde ich toll. Und wenn dann noch Straßenbahnen vor Ort fahren – bislang bin ich zwei Mal dort gewesen.
▼01▼ Chausseé de Bruxelles*
Um einen Bildbericht zum dortigen Betrieb zu erstellen, braucht's aber auch die Ergebnisse mehrerer Besuche – denn eines ist mal sicher: Ein Tag in Charleroi belastet den digitalen Speicher kaum, da sich der schienengebundene ÖPNV in der 200.000-Einwohner-Stadt entweder komplett unterirdisch oder auf gut abgeschirmten Trassen abspielt, die zuweilen so aussehen...
▼02▼ Rue Passerie Gillieaux
Das ganze System, das vom Transport en Commun (TEC) Charleroi betrieben wird, fungiert als Métro léger, also das, was bei uns Stadtbahn genannt wird. Es basiert auf den Resten zweier einst umfangreichen Straßen- und Überlandbahnnetze und ist das Ergebnis vieler fragwürdiger politischer Entscheidungen. Ein Teil des einst deutlich umfangreicher geplanten Metro-Netzes zeugt bis heute davon, dass nicht jede Idee zu Ende geführt wurde.
▼03▼ Rue de Lodelinsart
Betrieben werden heute vier Linien mit einer Gesamtlänge von etwas über 25 Kilometern. Im Zentrum liegt der Innenstadtring. Er beginnt (auch chronologisch) am Bahnhof Charleroi Sud und führt direkt auf eine aufgeständerte Trasse, dem ersten Abschnitt der Metro, der 1976 eröffnet wurde.
▼04▼ Quai de la Gare du Sud*
▼05▼ Quai de la Gare du Sud*
Die Station Villette liegt in Sichtweite des Bahnhofsvorplatzes. Der kleinere, überdachte Bereich gehört zu den Resten der alten Straßenbahnnetze und wurde in die neuen Metro-Anlagen integriert. In dem Bereich finden sich sowohl eine Wendeschleife als auch Abstellgleise. Für den Linienbetrieb ist theoretisch nichts von beidem notwendig, die vier Linien der Metro fahren von den Außenstrecken auf den Innenstadtring, bedienen die Haltestellen in einer Richtung und verlassen den Ring wieder dorthin, wo sie her kamen.
▼06▼ Quai de la Gare du Sud*
Dieser Ring wurde zwar von Anfang an geplant, nach den bereits angedeuteten planerischen Umbrüchen aber erst 2012 fertig gestellt. Die letzten gut 800 Meter zwischen dem Bahnhof Charleroi-Sud und der unterirdischen, 1996 eröffneten Station Parc, wurden auch nicht wie einst vorgesehen aufgeständert, sondern ebenerdig als Straßenbahnstrecke ausgeführt. Seit dem tragen die Linien auch ihre heutigen Bezeichnungen M1 – M4.
▼07▼ Boulevard Joseph Tirou
Zum Einsatz kommen echte Stadtbahnwagen – hochflurig, äußerst laufruhig, breit und für den Zweirichtungsbetrieb gebaut, und zwar in den Jahren 1980 – 1982 von BN Constructions Ferroviaires et Métalliques. Ähnliche Wagen fahren auch bei der Küstenstraßenbahn.
▼08▼ Boulevard Joseph Tirou
Insgesamt drei Außenstrecken führen auf den Innenstadtring. Um diesen einigermaßen gleichmäßig zu bedienen, fahren je zwei Linien im und zwei gegen den Uhrzeigersinn. Zur Einfädelung der einzelnen Strecken dienen die nördlich des Zentrums gelegenen U-Bahnhöfe Beaux-Arts und Waterloo. Beide sind ein beeindruckendes Zeugnis ihrer Zeit und den Ideen, die mit der Metro einhergingen. Beaux-Arts war die erste Tunnelstation im Netz.
▼09▼ Beaux-Arts M*
Nahe der Station liegt das Gleisdreieck, über das die Linien M1, M2 und M3 auf den Ring gelangen. Damit alle diese Linien die Station Beaux-Art sowohl beim Ankommen auf den Ring als auch ihrer Rückfahrt bedienen können, fahren die M2 und M3 hierher vom Bahnhof kommend am Abzweig vorbei eine Stichfahrt: Einmal ohne Halt durch die Station (auf einem separaten, hinter der historischen Bahn liegenden Gleis), über eine unterirdische Wendeschleife und dann mit nach Fahrgastwechsel wieder zum Abzweig.
▼10▼ Beaux-Arts M*
Auch am U-Bahnhof Waterloo gibt es eine Schleifenanlage. Hier zweigt die M4 ab, und auch die soll die Abzweigstation vor und nach ihrer Ringrunde bedienen.
▼11▼ Waterloo M*
▼12▼ Waterloo M
Dass die Station erst 1992 eröffnet wurde, mag man angesichts der Gestaltung kaum glauben.
▼13▼ Waterloo M
Von den drei Außenstrecken ist die nach Anderlues die, die zuerst fertig gestellt wurde. Sie ist auch die, die am stärksten den Stadtbahncharakter aufweist.
▼14▼ Leernes M
Sie löste eine ehemalige Straßenbahnstrecke ab, die ihrerseits deutlich näher an den Siedlungen lag. Für die Stadtbahn wurden der Einfachheit wegen ehemalige Industriebahntrassen genutzt, was zwar zu einem hohen Ausbaustandard, aber auch zu sehr abseits gelegenen Zugangsstellen führte.
▼15▼ Morgnies M
Von außen ist die Strecke – zumindest während eines Tagesausflugs – kaum zu fotografieren, zu sehr ist sie abgeschirmt. Bleibt der Blick aus der Station heraus.
▼16▼ Morgnies M
Während ich bei meinem ersten Besuch 2016 erst gar nicht die Gelegenheit hatte, die M1/M2-Trasse zu sehen – weil einfach keine Bahnen dorthin kamen und nach einer dreiviertel Stunde die Geduld vorbei war, wurde dieses Jahr wenigstens bis Pétria gefahren. Der anschließende, nach Verlautbarungen straßenbahnähnliche Abschnitt durch Anderlues selbst wurde im SEV bedient. Daher war hier Schluss. Die M2 endet prinzipiell hier, die M1 fährt normalerweise weiter.
▼17▼ Pétria M
Der Ast der M3 ist grundsätzlich eher einer Straßenbahn ähnlich. Ursprünglich war auch hierher nach Gosselies eine Stadtbahntrasse vorgesehen, der Abzweig dazu ist auf dem dritten Bild des Beitrags zu sehen. Letztlich hat man es bei einer weitgehend straßenbündigen Trassierung belassen. Im Norden führen die Richtungsgleise durch parallele Straßen und vereinen sich kurz vor dem Streckenende, an dem sich auch einer der beiden Betriebshöfe befindet.
▼18▼ Fbg de Bruxelles*
Knapp sieben Kilometer Strecke, auf der man die Stadtbahn Charleroi einigermaßen fotografieren kann. Zwar ohne nennenswerte Highlights, aber eben auch mal etwas freier von Zäunen, Mauern oder ähnlichen abhaltenden Einrichtungen.
▼19▼ Rue de Emailleries*
▼20▼ Chausseé de Bruxelles
▼21▼ Chausseé de Bruxelles
▼22▼ Chausseé de Bruxelles*
Wieder zur echten Stadtbahn geworden, vereinigt sich die M3 an der Station Piges mit der Strecke aus Anderlues, um kurz danach den Abzweig auf den Ring anzusteuern. Fast eine Stunde habe ich hier 2016 verbracht – es kam einfach keine Bahn nach Anderlues...und es war nicht Wochenende...
▼23▼ Piges M*
Die dritte betriebene Strecke führt nordöstlich nach Soleimont. Hierher geht es erst seit 2012, nach der Neutrassierung einer lange brach liegenden Vorleistung. Die Station Sart-Culpart wurde noch einmal völlig neu gebaut, bevor die Strecke in Betrieb genommen wurde. Warum die Bahnen hier im Linksfahrbetrieb unterwegs sind, ist mir nicht ganz klar. Sie haben Fahrerstände hinten und vorne, Türen auf beiden Seiten...
▼24▼ Sart-Culpart
▼25▼ Soleimont M*
Das soll's aus Charleroi von mir gewesen sein. Neben den drei sich in Betrieb befindlichen Streckenästen gibt es natürlich noch den legendären vierten nach Osten Richtung Centenaire mit den rohbaufertigen Metro-Stationen, der nur als Betriebsstrecke genutzt wird. Leider war auch bei zwei Tagesausflügen dank des verhältnismäßig dürftigen Angebots und den zeitraubenden Versuchen, irgendwelche Fotostellen zu finden keine Gelegenheit, sich diese Phantomlinie mal anzuschauen. Vielleicht bei einem dritten Besuch? Es gibt eben so spezielle Gegenden, die auch mich mehr Reiz haben als so quirlige No-Brainer wie Brüssel oder Prag...
▼26▼ Gazomètre*
* = Sommer 2016, ohne Kennzeichnung Frühjahr 2019