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Mit HS unterwegs – Dampfparadies Großbritannien 1960, Teil 2 (18 B)

geschrieben von: ulrich budde

Datum: 31.01.16 18:09


Bevor wir unsere große Dampf-Rundreise mit HS und MvK durch Großbritannien fortsetzen, noch der Link auf den ersten Teil:

- Dampfparadies Großbritannien 1960, Teil 1 Dover – Folkstone – Ashford – Tonbridge – Doncaster – York – Nottingham – Retford – Darlington.

Dort findet sich auch eine Streckenkarte von British Rail, auf der die Reiseroute im Detail eingezeichnet ist.

Nachdem wir zuletzt bis Darlington gekommen waren, geht es nun weiter nach Carlisle, dem letzten großen Eisenbahnknotenpunkt in England vor der schottischen Grenze. Der Aufenthalt hier dauerte erheblich länger als eigentlich geplant, weil es sonntags auf der Strecke nach Edinburgh, dem nächsten Reiseziel, ein unerwartetes Loch im Fahrplan gab: Zwischen 7:15 und 13:45 Uhr fuhr kein einziger Zug in Richtung Norden! Noch dazu zeigte sich das Wetter am 12.06.60 wieder typisch british, also ziemlich durchwachsen. Und dabei begann der Tag sogleich mit einem Highlight:


http://www.bundesbahnzeit.de/dso/HS/England/b19-60022.jpg
Bild 19
Unverhofft rollte nämlich ein Sonderzug mit dem klingenden Namen "The Lincolnshire Poacher No. 5" in den Bahnhof, bespannt mit der "Mallard", No. 60022, der wohl bekanntesten und berühmtesten englischen Schnellzug-Dampflok. Hier handelte es sich um eine von BR veranstaltete Sonderfahrt, bei der im weiteren Verlauf noch eine weitere hochinteressante Lok zum Einsatz kommen sollte (s. Bild 30).

Die Mallard gehört zur Class A4, von der die LNER ab 1935 insgesamt 35 Maschinen beschaffte. Typisch für die unter der Leitung von Sir Nigel Gresley entstandenen Schnellzugloks ist das Drillings-Triebwerk der stromlinienverkleideten 2’C1‘ Maschinen, das sie für Schnellfahrten mit Dampf geradezu prädestinierte. Unter Beweis gestellt wurde dieses bei Schnellfahr-Versuchen mit der Mallard, in deren Verlauf am 03.07.38 der bis heute bestehende Geschwindigkeits-Weltrekord für Dampflokomotiven mit 125,88 mph = 202,58 km/h aufgestellt wurde. Damit wurde der von der Deutschen Reichsbahn mit 05 002 am 11.05.36 aufgestellte Rekord von 200,4 km/h knapp überboten.


http://www.bundesbahnzeit.de/dso/HS/England/b20-60022_Plakette.jpg
Bild 20
Von diesem Ereignis zeugt die an Seitenverkleidung des Kessels angebrachte Plakette, die natürlich auch noch einmal separat verewigt wurde.


http://www.bundesbahnzeit.de/dso/HS/England/b21-46249.jpg
Bild 21
Danach herrschte in Carlisle wieder Alltag-Betrieb auf dem Bahnhof. Bei immer noch reichlich tristem Wetter ließ sich zunächst die 46249 sehen, eine Lok der Coronation Class ex LMS mit dem Namen "City of Sheffield".


http://www.bundesbahnzeit.de/dso/HS/England/b22-46249,46206.jpg
Bild 22
Zum Glück klarte das Wetter just in dem Moment kurzzeitig auf, als zwei Gleise weiter No. 46206 "Princess Marie Louise" einen kurzen Halt einlegte, bevor es weiter in Richtung Süden ging.

Nummer und Name deuten bereits darauf hin, dass wir es hier ebenfalls mit einer ex LMS Maschine zu tun haben, in diesem Fall der Princess-Class. Damit hätten wir jetzt nach den SR und LNER-Pacifics auch zwei LMS-Pacifics kennengelernt. Beide entstanden unter der Leitung von Sir William A. Stanier, CME (chief mechanical engineer) der LMS bis 1944.

Im Gegensatz zu den LNER Drillingen sind beide LMS Baureihen mit einem Vierzylinder-Triebwerk mit einfacher Dampfdehnung ausgestattet. Die Coronation stellte die direkte Weiterentwicklung der Princess Class dar und war, in direkter Konkurrenz zur LNER A1, die leistungsfähigste Schnellzuglok auf der Insel. Ihr oblag der schwere Fernverkehr zwischen London und Glasgow auf der Westcoast-Mainline und Laufleistungen von über 1000 km/Umlauftag waren eher die Regel denn die Ausnahme. Der Spitzenwert soll sogar bei 1280 km/Tag gelegen haben. Alle Achtung …


http://www.bundesbahnzeit.de/dso/HS/England/b23-46222.jpg
Bild 23
Und auch bei der Einfahrt des "Royal Scot" blinzelte die Sonne noch ein wenig durch die Wolken. Bespannt ist der Luxuszug ebenfalls mit einer Maschine der Coronation Class: No. 46222, "Queen Mary".


http://www.bundesbahnzeit.de/dso/HS/England/b24-45681.jpg
Bild 24
Danach war wieder "Licht-aus", aber No. 45681, eine Lok der Jubilee Class, Leistungsklasse 6P5F mit dem Namen "Aboukir", wurde natürlich trotzdem abgelichtet. Typisch für eine Stanier Konstruktion auch hier der konische Langkessel kombiniert mit einem Belpaire Stehkessel.

Während der Weiterfahrt nach Edinburgh verschlechterte sich das Wetter weiter, was dazu führte, dass von diesem Teil der Reise keine Aufnahmen vorzeigbar sind. Deshalb geht es auch gleich weiter nach Glasgow, wo am nächsten Tag zunächst das große Bw Polmadie besucht wurde.


http://www.bundesbahnzeit.de/dso/HS/England/b25-46224.jpg
Bild 25
Leider war das Wetter auch am 13.06.60 nicht besser geworden, aber das kann man sich ja nun mal nicht aussuchen.
Als erstes wird eine weitere Coronation Class auf den Film gebannt, die No. 46224, "Princess Alexendra".

Auffälliges Merkmal dieser Baureihe ist die ungewöhnliche Gestaltung des horizontal gekröpften Lokrahmens, der unterhalb des Stehkessels seitlich über die Nachlaufachse nach außen geführt ist. Damit sollte Platz für die große Feuerkiste bzw. den Aschkasten geschaffen werden, ohne den Lokrahmen an dieser Stelle zu sehr zu schwächen. Ein schönes Beispiel für das britische Faible für ausgefallene technische Lösungen.


http://www.bundesbahnzeit.de/dso/HS/England/b26-46119.jpg
Bild 26
Als nächste Lok kam die 46119 "Lancashire Fusilier" auf den Film. Bei diesem Drilling handelt es sich um eine Lok der Royal Scot Class, von der zwischen 1927 und 1930 insgesamt 70 Stück gebaut wurden.


http://www.bundesbahnzeit.de/dso/HS/England/b27-73075.jpg
Bild 27
Und noch eine 2’C Maschine, allerdings ein Zwilling und noch relativ jung: Lok No.73075, eine BR Standardlok Class 5, Baujahr 1955.


http://www.bundesbahnzeit.de/dso/HS/England/b28-46238.jpg
Bild 28
Auch eine Coronation gab sich im Polmadie Shed die Ehre, dieses Mal sogar eine in Rot, der neuen Farbgebung für diese Baureihe: 46238, "City of Carlisle".


http://www.bundesbahnzeit.de/dso/HS/England/b29-73076,46238.jpg
Bild 29
Die 46238 stellte sich anschließend neben die 73076, eine 2’C Standard Lok Class 5, von der immerhin noch 172 Maschinen gebaut wurden. Und ganz links kommt auch noch 42243 ins Bild, eine 1’C2‘ Tenderlok der Leistungsklasse 4P-C.
Schade, dass bei dieser Paradeaufstellung kein besseres Licht herrschte. Wir schreiben immer noch Montag, den 13.06.60.

Auf das folgende, leider stark überbelichtete und nur mühsam einigermaßen bildschirmgerecht herzurichtende Bild mochten wir nicht verzichten, zeigt es doch eine überaus bemerkenswerte Maschine:

Schon bei der Fahrt nach Glasgow am 12.06. hatten HS und MvK die Lok 123 der Caledonian Railway in einem Unterwegsbahnhof mit abblasenden Sicherheitsventilen stehen sehen – wie wir erst jetzt erfahren haben, als Zuglok auf einem Teilabschnitt des Sonderzuges, den unsere beiden Fotografen morgens in Carlisle mit der Mallard erwischt hatten (Bild 18). Eine betriebsfähige 2’A1‘ Lok im Jahr 1960 war an sich schon etwas Besonderes. Aber man muss wissen, dass diese Lok mit einem Treibraddurchmesser von 2150 mm immerhin noch bis 1935 im anspruchsvollen Reisezugverkehr auf der Strecke von Glasgow nach Carlisle eingesetzt wurde. 1958 wurde sie zur betriebsfähigen Museumslok hergerichtet.

http://www.bundesbahnzeit.de/dso/HS/England/b30-CRWY_123.jpg
Bild 30
Nachfragen in Glasgow ergaben, dass die CRWY 123 im Depot Glasgow Dawsholm untergestellt wäre, wo die beiden Fotografen das gesuchte Stück auch tatsächlich im Schuppen antrafen.

Mit Edinburgh und Glasgow war der nördliche Wendepunkt der Rundreise erreicht und nun ging es auf der Westseite der Insel wieder zurück in Richtung Süden. Am 14.06. wurde erneut in Carlisle Station gemacht, um jetzt das Depot Kingmoor zu besuchen. Dieses Mal hatte der Wettergott ein Einsehen.

http://www.bundesbahnzeit.de/dso/HS/England/b31-40670.jpg
Bild 31
Als erstes stießen sie auf ein altes Schätzchen, von dem man kaum glauben kann, dass es sich 1960 noch im Betriebsbestand befand: Leider stand die Lok ganz hinten im Schuppen, was das freundlichen Bw-Personal nicht daran hinderte, die Lok nur für die beiden Fotografen aus good old Germany ans Tageslicht zu holen, auch wenn dafür erst einmal fünf andere Loks(!) wegrangiert werden mussten.

Der B-Kuppler 40670 gehört zur Leistungsklasse 2P-B ex LMS und wurde erst 1932 gebaut. Die Ausmusterung erfolgte am 31.12.62 als letzte Lok ihrer Art. Das Führerhaus ist eigentlich nur ein besserer Windschutz – Dienst auf so einer Maschine im Winter war sicher kein Zuckerschlecken für das Personal.


http://www.bundesbahnzeit.de/dso/HS/England/b32-70052.jpg
Bild 32
Nur ein paar Gleise weiter und quasi als Gegenstück zu der altertümlichen 40670 hüllte sich eine der modernsten Serien-Schnellzuglok der BR in einen dichten Dunstschleier, der jedoch mit Hilfe der heutigen Bildbearbeitungsmöglichkeiten ein wenig gelüftet werden konnte:
Lok No. 70052 "Firth of Tay" ist eine Standard Maschine der Britannia Class. Abgenommen am 21.08.54, war die Lok zum Zeitpunkt der Aufnahme am 14.06.60 gerade mal knapp sechs Jahre alt. In Folge des rasant und rabiat vollzogenen Traktionswandels bei der BR wurde sie aber bereits am 31.10.67 wieder ausgemustert.


http://www.bundesbahnzeit.de/dso/HS/England/b33-90771.jpg
Bild 33
Neben zahlreichen Schnell- und Personenzugloks waren im Carlisle Kingmoor Shed auch einige Güterzugmaschinen zu sehen. Erstmals vor die Linse kam unseren beiden England Reisenden hier eine Kriegslok der Austerity Class WD/10 mit der No. 90771die amerikanische Herkunft ist unübersehbar eine Kriegslok des britischen War Departments, von der insgesamt 150 Stück gebaut wurden.
Die Konstruktion basiert auf der LMS 8F und der gleichartigen 2-8-0 Austerity; bei gleicher Leistung wie diese hat sie nur eine geringere Achslast. Nach dem Krieg übernahm British Rail 25 Maschinen, die aber aufgrund ihres größeren Fahrzeugprofils nicht freizügig einsetzbar waren. Ihr Einsatz beschränkte sich deshalb auf eine kleine Region im Norden Englands. (Text ergänzt aufgrund nachträglicher informationen - danke)


http://www.bundesbahnzeit.de/dso/HS/England/b34-92167.jpg
Bild 34
Und auch eine der großen 1’E Standard-Loks der Class 9F gab sich hier noch einmal die Ehre: 92167.

Kleine Begebenheit am Rande: Während der Weiterfahrt nach Süden beobachteten die beiden Reisenden einen mit einer 9F bespannten und für englische Verhältnisse langen Güterzug, der aus ca. 40 der kleinen englischen Kohlewägelchen und einem Bremswagen am Zugschluss bestand. Sämtliche Güterwagen besaßen keine Bremse und waren untereinander nur lose mit einer dreigliedrigen Kette gekuppelt. Anfahren und Bremsen mit diesem Zug muss das reinste Vergnügen gewesen sein, vor allem für den armen Bremser im letzten Wagen. Ohne es genau zu wissen würde ich meinen, dass derart anachronistische Betriebsweisen im Jahr 1960 auf dem Kontinent nicht mehr üblich waren.

Für die nächste Übernachtung ging es von Carlisle nach Kendal im Lake District, einem der 14 Nationalparks in GB. Die landschaftlichen Schönheiten dieser Gegend lagen HS und MvK jedoch nicht so am Herzen wie die technischen Schönheiten in Form englischer Dampflokomotiven, obwohl man über deren "Schönheit" ja trefflich streiten kann. Beim Umsteigen in Oxenholme kamen so noch zwei der begehrten Objekte auf den Film.

http://www.bundesbahnzeit.de/dso/HS/England/b35-45676.jpg
Bild 35
Von der äußersten Bahnsteigspitze in Oxenholme wurde zunächst ein kurzer Güterzug mit 45676 "Codrington" an der Spitze erlegt.
Nachtrag: Betrieblich gesehen handelt es sich hier nicht um einen Güterzug im eigentlichen Sinne, sondern einen "Class C - parcels, milk, fish, fruit, perishables or livestock of XP stock" - Zug und die dreiachsigen Tankwagen dienen vmtl. dem Milchtransport.
Die 2’C Universalmaschine gehört zur Jubilee Class 6P5F, von der zwischen 1934 und 36 von der LMS insgesamt 191 Stück gebaut wurden. Im Unterschiede zur ähnlichen Black 5 handelt es sich bei der Jubilee um einen Drilling, entsprechend der ursprünglich vorgesehenen Verwendung hauptsächlich im Schnellzugdienst.
Leider schob sich im entscheidenden Moment wieder einmal eine Wolke vor die Sonne, aber das kennen wir ja alle zur Genüge.


http://www.bundesbahnzeit.de/dso/HS/England/b36-42581+70045.jpg
Bild 36
Kurze Zeit später zum Abschluss des Tages noch ein eindrucksvolles Schauspiel mit einem Zug aus der Gegenrichtung: Bereits im Bahnhofsvorfeld kam die Britannia Class 70045 "Lord Rowallan" mit einem schweren Zug zum Stehen. Dann setzte sich als Vorspann die Class 4P-E 42581 davor und sofort ging es mit vereinten Kräften und einem Dampf-Spektakel erster Güte weiter nach Norden. Oxenholme, 14.06.60.


Damit möchten wir für heute unseren Reisebericht erst mal beenden; weiter geht’s demnächst mit dem dritten Teil.

Zum Schluss aber noch ein Wort in eigener Sache: Die britischen Bahnen im Allgemeinen und die Dampfloks im Besonderen waren (und sind auch immer noch nicht) MEIN Thema – dafür ist das alles, um es mal vornehm englisch auszudrücken, einfach zu very curious. Alle Erläuterungen zu den Loks, dem Betrieb und den Örtlichkeiten in dieser Beitragsreihe stammen aus Reisenotizen, Unterlagen und Büchern, die mir HS freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat; und natürlich aus dem Internet. Deshalb freue ich mich über Zusatzinformationen und Korrekturen, die ggfs. auch nachträglich in die Beiträge einfließen, mindestens aber in die Ablage aller Beiträge auf meiner Seite (Link siehe Signatur). Dafür möchte ich mich an dieser Stelle ausdrücklich bedanken.

Einen schönen Tag noch,
Herbert S. und Ulrich B.

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